[1] An öffentlichen Angeboten mangelt es nicht: Der Ungar Orbán rettet das Abendland, und ist damit nicht allein. Die Anhängerschaft der Idee von Europa als „christliches Abendland“ ist nicht klein.
[2] Eng damit verbunden ist der Antiislamismus. „Der“ Islam wird pauschal der Rückständigkeit verdächtigt und dem christlichen Abendland gegenübergestellt.
[3] Meistens besteht eine mindestens lockere Verbindung zu Behauptungen über die „Überfremdung“ und „Verdrängung“ der Europäer im eigenen Kontinent.
[4] Im Angebotskorb findet sich dann „Leitkultur“. Das ist eher bundesdeutsch, in anderen europäischen Ländern findet sich kaum ein Wort dafür, das als direkte Übersetzung verwendet werden könnte. Dort setzt man gleich auf das Nationale als Referenzkultur.
[5] Im Vergleich dazu unideologisch ist das Angebot des Europäischen Kulturerbejahres 2018, das die reiche materielle und immaterielle Vergangenheit zur Grundlage hat.
[6] „Globale Kultur“ wird derzeit kaum aktiv beworben, obwohl es sie gibt.
[7] Und nun: Gibt es eine „europäische Zivilisation“ (Kultur), mit der sich jemand identifizieren könnte?
[8] Als erstes ist die Abwesenheit einer diesbezüglichen Debatte festzustellen. Dadurch unterscheidet sich unsere Gegenwart von den rund 200 Jahren, die von der hohen Zeit der Aufklärung ab der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts reichen: In den ersten ein bis zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde viel über „europäische Zivilisation“ diskutiert, vor allem über ihre Rettung.
[9] Vor sechzig/siebzig Jahren war der Standpunkt meistens noch ungeniert und wohl auch unreflektiert europazentriert und eurozentrisch. Noch waren die Zweifel am Statement der Aufklärung, dass Zivilisation (oder Kultur) an und für sich europäisch sei, wenn auch offen für andere Völker im Zuge europäischer Zivilisationsmissionen, gering.
[10] Aber die kritische Dekonstruktion war da und setzte sich allmählich durch, von Horkheimer/Adorno „Dialektik der Aufklärung“ bis zum kürzlich verstorbenen Samir Amin „Eurocentrism“ (zuerst 1989, zuletzt 2010).
[11] Zugleich globalisierte sich Zivilisation und wurde die Globalität von Zivilisation besser wahrgenommen und verstanden.
[12] Kritisch lässt sich anmerken, dass es schwer fällt, bemerkenswerte, genuin europäische Zivilisationsbeiträge in den letzten sechzig bis siebzig Jahren auszumachen. Das, was die Welt seit geraumer Zeit am meisten zivilisatorisch verändert und als digitales Zeitalter bezeichnet wird, wurde und wird vor allem aus den USA vorangetrieben. Natürlich gibt es weiterhin Zivilisationsdebatten, man denke nur an Huntington’s „Clash of Civilisations“, wo Europa allerdings lediglich zu einem unscharfen Agglomerat namens „Westen“ gehört.
[13] Generell sieht sich Europa in der Situation, reagieren zu müssen, weil es nicht mehr anders geht, aber es agiert nicht, es treibt in der Welt nichts voran. China treibt voran, die USA (immer noch), Russland (vor allem Krieg).
[14] In diese Lücke stoßen die eingangs genannten Anbieter: christliches Abendland, Anti- dies, Anti- das; Leitkultur. Inhaltlich sind diese Angebote unstrukturiert und verschwommen, es gibt wenig Konkretes. Das Konkreteste ist Nationalismus, der aber ins Leere fällt, weil die Nation, auf die er sich bezieht, fiktiv ist, aber nicht real existiert.
[15] Diese Identifikationsangebote beruhen im Kern auf Exklusion und Diskriminierung. Sie sind grob gestrickt, weshalb die Rhetorik immer wieder ins Brutale abgleitet sowie Hass und Neid geschürt werden. Barrieren gegen Diffamierung und Rassismus wurden nicht errichtet.
[16] Mit Zivilisation oder Kultur hat das nichts zu tun, aber die Auseinandersetzung mit den „Anbietern“ muss trotzdem geführt werden.
[17] Es geht folglich um sinnvolle „Gegenangebote“.
[18] Das aktuelle ist das „europäische Kulturerbe“, genauer gesagt, die Befassung damit. „Befassung“ reicht von Interesse bis hin zu Großprojekten der Erhaltung materiellen und immateriellen Kulturerbes.
[19] Die Arbeitsprinzipien sind inklusiv und nicht-diskriminierend. Entscheidend ist die offene grenzüberschreitende Kommunikation miteinander. Entscheidend ist das Miteinander von „Profis“ des Kulturerbes und Individuen sowie Vereinen etc. Hier entsteht ein „Web“, das sowohl physisch und materiell wie digital arbeitet. Es beinhaltet starke Elemente der individuellen und kollektiven Verständigung über Grenzen hinweg und führt Menschen mit sehr verschiedenen Erinnerungstraditionen zusammen.
[20] Kulturerbe ist nicht „retro“, es ist sehr lebendig, weil mit ihm umgegangen wird und daraus Neues entsteht. Außerdem lernt man viel über anderes und andere; aus Lernen entsteht Verständnis, im Lernen, das heißt der genauen Befassung mit etwas, entsteht ein Begriff von europäischer Vielfalt.
[21] Vielfalt ist der Kern der aktuellen europäischen Zivilisation. Die Dimensionen von Vielfalt habe ich in dem Blogeintrag vom 13. Juli 2018 ausgelotet. Die Gedanken dort sollen hier um eine globale Dimension verlängert werden.
[22] In vielen Teilen der Welt wird Vielfalt zurückgedrängt, gewaltsam unterdrückt. Da Grund- und Menschenrechte das Betriebssystem von Vielfalt sind, bedeutet die Unterdrückung dieser Rechte zugleich Unterdrückung und Verfolgung von Vielfalt.
[23] Das geschieht allenthalben auf der Welt, vor allem bei den großen Mächten wie China und Russland; die USA werden von Präsident Trump auf denselben Weg gebracht. Mittlere Mächte wie Saudi-Arabien, Iran und Türkei gehen diesen Weg.
[24] Eine starke und wirkungsvolle Triebkraft bei der Unterdrückung und gewaltsamen Beseitigung von Vielfalt sind terroristische Bewegungen. Sie sind es durch die direkte Aktion, aber auch indirekt durch die Reaktion betroffener Staaten, die, wie etliche europäische Staaten, mit dem Argument der Sicherheit Rechte einschränken, Kontrollmaßnahmen intensivieren und perpetuieren. Die Pauschalverdächtigungen gegen Menschen, die, weil sie aus demselben Land gekommen sind wie manche Terroristen, zu vermeintlich homogenen Kollektiven erklärt werden, nehmen zu.
[25] In der Praxis ist dennoch in Europa sehr viel mehr Vielfalt möglich und lebbar als in z.B. in China. Und es ist und bleibt möglich, sich für Vielfalt einzusetzen. Jedenfalls im Moment ist der Kern der gegenwärtigen europäischen Zivilisation noch intakt, und jede Mühe, sich um ihn zu kümmern, lohnt sich.
[26]
Dokumentation:
Semesterfrage der Universität Wien: „Was eint Europa?“ (Wintersemester 2018/2019). Artikel Wolfgang Schmale: „Was eint Europa? Die Vielfalt!“ in derstandard.at sowie „Millionen von Arbeitsmigranten haben zwei Heimaten“
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Europäische Zivilisation? In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-jahrhundert-21, Eintrag 16.10.2018 [Absatz Nr.].