Über Jahrzehnte schien sich, trotz aller Konflikte, Europa zu integrieren. Wir schrieben Europäische Integrationsgeschichte. Nun passiert das Gegenteil. Desintegrationsgeschichte wird die geschichtswissenschaftliche Forschungsagenda bestimmen müssen.
[1] Bisher schrieben wir in der Geschichtswissenschaft und anderen interessierten Fächern „Europäische Integrationsgeschichte“. Denn über Jahrzehnte schien sich, trotz aller Konflikte, Europa zu integrieren. Nun passiert das Gegenteil. Desintegrationsgeschichte wird die geschichtswissenschaftliche Forschungsagenda bestimmen müssen.
[2] Geschichtswissenschaftlich erstreckt sich das Thema „europäische Integration“ nicht nur auf die Errichtung, Arbeitsweise und Resultate gemeinsamer Institutionen, insbesondere im Hinblick auf den Entwicklungsstrang von der EGKS bis zur jetzigen EU, sondern auch auf allgemeine Integrationsprozesse.
[3] Dies betrifft zum Beispiel die Gesellschaften in den europäischen Ländern, die sich über Jahrzehnte hinweg immer ähnlicher wurden. Dies schließt die Veränderungen des Werte- und Normengerüstes mit ein. Die Begriffe von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten näherten sich an und wurden zu gemeinsamen Grundlagen.
[4] Die Staaten verstanden sich als Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, der Begriff von „sozialer Gerechtigkeit“ näherte sich untereinander an. Nationale Stereotypen und Vorurteile wurden abgebaut.
[5] Das sind nur ein paar Beispiele. Inzwischen drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass diese lebensweltliche Integration durch Desintegration ersetzt wird.
[6] Die Desintegration beginnt in den einzelnen Ländern. Da Sozial- und Wohlfahrtspolitik im Wesentlichen ein Reservat der Nationalstaaten geblieben war, sind diese auch für die zunehmende soziale Ungerechtigeit und Ungleichheit zuständig. Der Umstand, dass das in allen europäischen Ländern festgestellt werden muss, macht das Problem nicht weniger national.
[7] Unglaubliche politisch-handwerkliche Fehler zeigen sich – darauf macht die Bewegung der gilets jaunes in Frankreich aufmerksam. Erst jetzt dämmert dort die politische Erkenntnis, dass Ökosteuern sozial gerecht zu bemessen sind und dass ihr Ertrag nicht einfach das Staatssäckel füllen darf, sondern für Umwelt- und Klimaschutz eingesetzt werden muss, um zum Allgemeinwohl beizutragen.
[8] In Italien hat Salvini die Lega, die regional zum Beispiel mit der „postfaschistischen“ Partei der Fratelli d’Italia koaliert, landesweit zur stärksten italienischen Partei gemacht, insbesondere im Süden und in der Mitte, von der sich die Lega Nord, wie sie bis vor kurzem geheißen hatte, ja ursprünglich trennen wollte mit einem eigenständigen souveränen reichen norditalienischen Staat. Salvini und seine Partei stehen durchaus für ein bestimmtes Italien und einen beachtlichen Teil der italienischen Bevölkerung, die Salvinis Verachtung für Werte, die man bis vor zwei oder drei Jahren für europäischen Konsens halten konnte, teilt.
[9] Ungarn driftet weiter ab Richtung Russländische Föderation und China. Nun gibt es finanziell beachtliche Gebärprämien. Noch ist offen, ob Viktor Orbán damit seiner Mehrheit an Wähler*innen tatsächlich aus der Seele spricht, aber bisher hat ihm diese Mehrheit trotz aller Entgleisungen die Treue gehalten. Orbán drückt also nicht nur sich selbst und die Fidesz aus, sondern mindestens einen Teil der ungarischen Gesellschaft.
[10] Bezeichnenderweise wird nun der US-amerikanische Außenminister Pompeo zu Orbán geschickt, um dem ein wenig ins Gewissen zu reden. Er soll ihn davon abhalten, sich weiter von Europa in die Arme Putins und Chinas zu bewegen. Warum machen das nicht die Europäer?
[11] Das heilige Prinzip der Nichteinmischung fördert Desintegration. Dasselbe gilt für den Brexit-Prozess: Von Anfang war eine europäische Debatte darüber verpönt. Nun lebt Demokratie von der Debatte, in einem integrierten Europa kann Demokratie keine ausschließlich nationale Angelegenheit sein, und es müssen alle mitdebattieren dürfen und können.
[12] Ebensowenig darf im Fall Kataloniens europäisch debattiert werden. Eine heilige nationale Angelegenheit – über der sich die spanische Gesellschaft zu spalten beginnt. Dazu kommt, dass ein wenig mehr Menschlichkeit im Umgang mit Flüchtlingen, zu der sich der sozialistische Chef der Minderheitsregierung Pedro Sanchez entschlossen hatte, ebenfalls soziale Bruchlinien deutlich macht.
[13] Desintegration ist nicht einfach ein weniger an Integration, vielmehr produziert sie zunehmende Konflikte unter den europäischen Staaten. Diese werden dadurch nur noch mehr ihrer heiligen nationalen Souveränität verlieren. Das wird man besonders gut an Italien studieren können. Gerade werden die Führungseliten, die aus international angesehenen Fachleuten bestanden und den wichtigsten Institutionen des Landes vorstanden, durch Kasperlefiguren ausgetauscht. Bei Finanzinstitutionen wie der Nationalbank ist das besonders risikoreich, da Italien von internationalen Geldgebern abhängig ist. Wie nationalsouverän ist ein Land, das nicht mehr kreditwürdig ist und horrende Zinsen zahlen muss?
[14] Da wird man darauf hoffen müssen, dass es im entscheidenden Augenblick einen italienischen Alexis Tsipras gibt – der sich entgegen den meisten Annahmen zu einem Staatsmann und Stabilitätsanker entwickelt hat, der fähig ist, heikle Themen, da sie nationale Empfindlichkeiten berühren wie der Namenskonflikt mit Mazedonien (nun Republik Nordmazedonien), anzupacken und zu lösen, und der, sollte er wiedergewählt werden [Tsipras verlor die Wahlen], sicher das Zeug hat, die soziale Misere in Griechenland zu beenden.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Desintegrationsgeschichte I. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-desintegrationsgeschichte-1, Eintrag 12.02.2019 [Absatz Nr.].