Europaforschung
[1] Forschung versteht sich gerne als Grundlagenforschung, wenn sie nicht ausdrücklich als Auftrags- oder Programmforschung deklariert ist. Gemeint ist damit eine Tätigkeit, die sich in Distanz von aktuellen Problemen und Krisen, insbesondere politischen Problemen und Krisen, entfaltet und ein hohes Maß an Objektivität gewährleistet. Die praktische Verwendung der Forschungsergebnisse wird allfälligen NutzerInnen anheimgestellt, sie wird nicht vorher festgelegt. Bei bestimmten Forschungen (an Tieren, Embryonen u.a.) sind bestimmte ethische Maßstäbe einzuhalten.
[2] Hat dieses Ausgangssetting etwas mit Europaforschung zu tun? Kann es in Bezug auf Europa so etwas wie Grundlagenforschung geben, deren spätere Verwendung offen bleibt? Geht diese unabhängig von den politischen Zeitläuften vonstatten? Hat sie sich mit dem Problem der Erfüllung ethischer Maßstäbe beim Forschen selber auseinanderzusetzen?
[3] Europaforschung bzw. teilweise Europawissenschaft weist im allgemeinen einen starken Bezug zur Gegenwart und zur Zeitgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg auf. Das heißt, ihr Kern besteht in der forschenden Begleitung der Europäischen Integration. Dieses breite Forschungsfeld umgreift außer der EU und ihren direkten Vorgängerinstitutionen auch den Europarat, die EFTA, die Westeuropäische Union, die OSZE, die OEEC, später OECD, und bis zu einem gewissen Grade wegen der starken Verflechtungen, die NATO.
[4] Die Forschung bezieht sich auf Institutionen, Recht, Verfassung, Völkerrecht, Verwaltung, Wirtschaft, Internationalismus, Persönlichkeiten, politische Ideen und Konzepte, historische Grundlagen und ähnliches mehr. Die Forschung erfolgt teilweise auf der Grundlage bestimmter Theoriemodelle wie in der Integrationsforschung und der Identitätsforschung, sie folgt teilweise konzeptuellen Ansätzen wie der Kulturtransferforschung, der Netzwerkforschung, der Migrationsforschung usw., die auch in vielen anderen Disziplinen, die nicht genuin Europa im Blick haben, Anwendung finden.
[5] Das breiteste Betätigungsfeld lässt sich zweifellos in den historischen Kulturwissenschaften ausmachen, da diese von den sogenannten Ursprüngen und/oder Wurzeln Europas in der Antike bis in die Gegenwart reichen.
[6] Die Annahme, irgendeine dieser und anderer hier nicht aufgezählter Forschungen könne im oben aufgeführten Sinne von Grundlagenforschung durchgeführt werden, ist trügerisch. Die einwandfreie Anwendung von Begriffen, Methoden, Konzepten und Theorien wird vorausgesetzt. Doch ändert dies nichts daran, dass jede Europaforschung mit Interessen verbunden ist, die ihrerseits mit dem Zeitgeschehen verbunden sind.
[7] Warum besteht zum Beispiel Interesse an der Geschichte der Idee europäischer Einheit? Diese ist kein objektiver Tatbestand, der sich erforschen lässt, sondern stellt eine von den Zeitläuften abhängige Idee dar, deren genauer Gegenstand variiert. Die „Idee“ heißt teils Idee, teils Vorstellung, teils Plan etc. Das heißt, nicht einmal der vermeintliche ‚Tatbestand‘ ist begrifflich eindeutig zu fassen. Die Relevanz der Frage ist nur aus der Bedeutung abzuleiten, die „Einheit“ für die Zielsetzungen der EU und allgemein für die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg spielt.
[8] „Europa“ selbst ist keine objektive Gegebenheit, die sich erforschen ließe, sondern der Forschungsgegenstand konstituiert sich erst durch eine bestimmte Interessenslage. Die unterstellterweise am ehesten objektive Definition von Europa, die geografische, ist bei genauer Betrachtung keine objektive, sondern historisch bedingt. Objektiv wäre es, von Kontinentalplatten auszugehen, aber dabei ginge jede kulturell sinnvolle Definition von Europa verloren, sodass dieser Ansatz selten ernsthaft verfolgt wird.
[9] Kulturhistorische Definitionen Europas sind, das liegt auf der Hand, keinesfalls objektiv, sondern in den meisten Fällen von politischen Interessen angeleitet. Dennoch besteht am ehesten in den Kulturwissenschaften die Möglichkeit, sich von solchen Interessen zu lösen und die Frage, was Europa ist, mithilfe von Erklärungsmodellen zur Entwicklung von Kultur zu beantworten. Da diese Vorgangsweise im Verhältnis zu den vielen kulturellen Definitionsangeboten dekonstruierend ist, wird sie auf diesem Wege selber hochpolitisch, im Zweifelsfall dadurch, dass sich die Ergebnisse politisch nicht einsetzen lassen oder weil sie konkreten politischen Interessen klar entgegenstehen. Felder, in denen solche Erkenntnis- und Interessenskonflikte entstehen, sind zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Europa und Christentum, die Frage der „Zugehörigkeit“ oder nicht der Türkei, Russlands und so fort.
[10] Wer in der Politik hofft, mithilfe einer kulturellen Definition Europas festlegen zu können, welches Land auf keinen Fall für eine Aufnahme in die EU (wann auch immer) infrage kommt, wird sich nicht in den Kulturwissenschaften bedienen können.
[11] (Historische) Kulturwissenschaften sind Wissenschaften, die sich gesellschaftspolitisch einmischen – einmal, weil es in der Natur der Sache liegt, zum anderen, weil es wünschenswert ist. Bleibt das Objektivitätsgebot der Forschung dabei auf der Strecke?
[12] Nein, denn zuerst werden Problemstellungen, die häufig Aktualität besitzen wie etwa Migration, Flüchtlingsströme, Nationalismus und so weiter, durch die Freilegung ihrer historischen Dimensionen ‚objektiviert‘. Mit ‚historischer Dimension‘ ist nicht das Bedeutungsgewicht gemeint, sondern der Umstand, dass zahlreiche Phänomene alle europäischen Epochen begleiten und in der Ausleuchtung von deren Geschichtlichkeit ein Beitrag zur Problemlösung gefunden werden kann. Wenn rechtspopulistische Parteien gegen Migranten, Flüchtlinge und „Ausländer“ hetzen, ist wissenschaftlich gesehen die Grundlosigkeit, aber auch Vergeblichkeit dieser Hetze, die eben deshalb schnell in Gewalt umschlägt, relativ leicht nachzuweisen.
[13] Dass das im öffentlichen politischen Diskurs oftmals nicht durchdringt, ist ein anderes Problem, aber es ist kein Anlass, entsprechende Forschungen zu entmutigen. Im Rückblick der Geschichte macht es einen Unterschied, ob Forschung zur Freilegung von Gefahrenpotenzialen geführt hat und mit diesem Ziel eingesetzt wurde oder nicht.
[14] Tatsächlich sind die Verhältnisse in Europa im Jahre 2015 wieder so, dass das Erkennen von Gefahren durch Forschung sehr notwendig ist und nicht als akademische Trockenübung abgetan werden kann. Als Beispiel diene das, was sich nicht nur im Zuge der Aufgabe, große Flüchtlingsströme, die in Europa ankommen, zu bewältigen, als Nationalismus zu entpuppen scheint. Europaforschung muss in diesem Fall danach fragen, ob es „Nationalismus“ ist, wie er aus der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bekannt ist, oder ob diese Kategorisierung nicht adäquat ist. Welche Reaktion die richtige ist, hängt auch von den Antworten ab, die auf diese Frage gefunden werden.
[15] Europaforschung besitzt eine aufklärende Funktion: Was KulturwissenschaftlerInnen schon lange klar ist und was sie immer wieder thematisiert haben, ist der Umstand, dass die europäischen Nachbarn wenig übereinander wissen. Seit einiger Zeit scheint diese Erkenntnis den öffentlichen Diskurs erreicht zu haben, weil das politische Durcheinander und die gegenseitigen aufgeregten Wortspenden über das jeweilige Tun in Flüchtlingsangelegenheiten (2015: die einen ziehen Stacheldrahtzäune hoch, die anderen lassen 200.000 Menschen erst einmal so ins Land etc. etc.) offenbaren, wie sehr nach beinahe 70 Jahren allgemeiner europäischer Integrationspolitik die Verwendung von durch Unwissen gespeisten Klischees und Stereotypen sowie traditionellen nationalen Vorurteilen greift. Der Subtext in vielen Medien lautet, dass mehr und Genaueres übereinander wissen dabei helfen könnte, sachlicher unter Nachbarn miteinander zu kommunizieren. Wenn das funktioniert, ist hier der Ort der Europaforschung.
[16] Europaforschung besitzt eine grundlegende Sprechhaltung, die der Aufklärung. Da Europa keine objektive Gegebenheit darstellt, die grundlagenerforscht werden kann, ohne die weitere Verwendung von Forschungsergebnissen festlegen zu wollen, sondern immer nur als spezifisches Interesse und/oder politisches Ziel besteht, bewegt sich Europaforschung grundlegend innerhalb dieser Konstellation. Jedes durch Forschung gewonnene Ergebnis steht automatisch in einem Verhältnis zu spezifischen Interessen und/oder politischen Zielen.
[17] Ein häufiges Missverständnis besteht darin, diese vorgegebene Interessenverwicklung als Engagement für ein bestimmtes Ziel zu interpretieren und dementsprechend zu kritisieren. Jacques LeGoff hatte viele Jahre als Herausgeber einer in fünf Sprachen bei fünf verschiedenen Verlagen in fünf verschiedenen europäischen Ländern erschienenen Buchreihe fungiert, die „Europa bauen“ hieß. Und der Gesamtherausgeber forderte zum Bauen auf. Das ist eine Vereinnahmung von Europaforschung, die problematisch erscheint. Auf der anderen Seite ist es so, wie oben angedeutet, dass auch das forschende Dekonstruieren nicht anders kann, als mindestens dem Interesse des Aufklärens zu dienen, und dieses kommt wieder einer Positionierung im Sinne von Aufklärung gleich.
[18] Um das Problem zuzuspitzen – und hier kommt wieder Ethik ins Spiel, wenn auch nicht ganz wie im Sinne der von Ethikkommissionen verabschiedeten Regeln für zum Beispiel Forschung an Tieren: Wenn Europaforschung im Grundsatz nicht anders kann als aufzuklären, ist es dann nicht konsequent, die Interessen und Ziele dieser Forschung zu benennen? Welche sind das über das Dekonstruieren hinaus?
[19] Ansatzpunkt sind die Gefahrenpotenziale. Ob sie entschärft werden, ist letztlich eine Frage politischen Willens. Dass sie durch Forschung offengelegt werden, ist keine Frage des politischen Willens, sondern der Wissenschaftsethik. Die in den in den Abschnitten [3], [4] und [5] genannten Beispielfelder, die erweiterbar sind, sind gegenwartsrelevant und haben zugleich eine länger zurückreichende historische Dimension. So steht auch ein Forschungsfeld wie „europäische Einheit“, die als positiver Wert gilt, nicht außerhalb des Arguments, dass es um Gefahrenpotenziale geht. Die EU ist mehrfach an einem Zuviel von gewollter Einheit gescheitert, weil Einheit beinahe den Status eines Werts, der einem Tabu unterworfen ist, erreicht hat. Dabei ist es sehr lehrreich, zu fragen, wo die Fixierung auf Einheit als proprium Europas herkommt und ob die scheinbare Selbstverständlichkeit nicht kontraproduktiv ist.
[20] Die Vielfalt als proprium zu setzen, ist eine Alternative, die in ihrer historischen Relevanz wie auch in Bezug auf ihre Folgen erforscht werden kann und muss. Der emanzipatorische Impetus, der die in den 1980er-Jahren in Bezug auf Europa angestoßene Kulturtransferforschung gegenüber dem Nationalismus kennzeichnete, ist nicht folgenlos geblieben, doch die Grundfrage, ob der Begriff einer nationalen Kultur überhaupt Sinn ergibt, ist nicht obsolet, sondern so aktuell wie immer. Kulturtransferforschung muss geradezu in Konflikt mit allem geraten, was mit „Nation-“ beginnt.
[21] Ein weiteres Gefahrenpotenzial liegt im Feld Demokratiedefizit: Es besteht Uneinigkeit, wo dieses in Bezug auf EU-Europa angesiedelt ist. Andererseits gehört die Feststellung ‚des‘ Demokratiedefizits inzwischen zum Standarddiskurs über EU-Europa. Nur eine methodisch und konzeptuell fundierte Forschung kann für mehr Sicherheit in der Diagnose sorgen. Dabei spielt wiederum die historische Dimension zum Beispiel von Institutionen, die unter der Perspektive von Demokratiedefizit untersucht werden, eine wichtige Rolle: Europäischer Gerichtshof, EZB und andere. Oberste Gerichtshöfe und Zentralbanken haben eine (freilich unterschiedlich lange) historische Dimension, die für sich oft legitimierend wirkt, weil die Institution aufgrund ihrer historischen Kategorialität vertraut ist oder vertraut scheint. Ähnlich verhält es sich mit der Idee europäischer Einheit, die im Lauf der Jahrzehnte einen auf das frühe 14. Jahrhundert zurückgeführten Stammbaum erhalten hat. Darf man eine mindestens siebenhundert Jahre alte Idee kritisch im Sinne des Aufklärens beforschen? Natürlich darf man…, aber man darf nicht vor Konsequenzen zurückschrecken, die die mögliche Kontraproduktivität der Idee der Einheit betreffen. Hier exponiert man sich und kann schnell als Antieuropäer kritisiert werden, auch wenn das Unsinn ist.
[22] An dieser Stelle hat der Verweis auf Wissenschaftsethik seine Bedeutung. Wenn Forschung immer einer Bedingung unterworfen ist, dann der, dass es keine Rolle spielen darf, ob die erzielten Ergebnisse politisch oder sonstwie opportun sind oder nicht.
Dokumentation:
Foto: Buchcover von: Michael Gehler/Silvio Vietta (Hg.): Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte. Wien (Böhlau) 2010.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europaforschung. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaforschung, Eintrag 06.10.2015 [Absatz Nr.].
Lieber Prof. Schmale,
haben Sie besten Dank für diesen Beitrag, den ich mit großem Gewinn gelesen haben – ich sehe hier vieles sehr ähnlich; Europaforschung, gerade in Zeiten von Migrationsfragen, Nationalismus (auch in den Wissenschaften) und „Krise“, ist immer auch eine Intervention in gesellschaftspolitische Diskurse. Es ist daher in meinen Augen grundlegend, immer auch die Frage des „historischen Apriori“ der Europaforschung klar offenzulegen und als solche Intervention zu präsenstieren – nicht nur Aussagen aufgrund ihrer Eigenschaft als Artefakte des Forschungsdiskurses als „besonders rational“ oder „grundlegend objektiv“ zu „branden“. Haben Sie besten Dank!
MFG,
Peter Pichler
Lieber Herr Schmale, lieber Herr Pichler,
auch ich danke für diesen instruktiven Beitrag, der schön deutlich macht, dass und warum gerade Europaforschung nie objektiv sein kann, aber sich dennoch um Objektivität bzw. Objektivierung bemühen sollte.
Ein Gedanken zum Kommentar von Peter Pichler: Mir scheint doch, dass zwischen der völlig unstrittigen Feststellung der „aufklärenden Funktion“ der Europaforschung (Top 15 und 16) und der „Intervention in gesellschaftspolitische Diskurse“ nuanciert werden sollte. Wie in Top 17 m.E. völlig zu Recht betont wird, ist das europawissenschaftliche „Engagement für ein bestimmtes Ziel“ (im Sinne einer aktiven „Intervention“) ja durchaus nicht unproblematisch. Als anderes Beispiel neben der „Europa bauen“-Reihe könnte man hier auch an die frühe Europaforschung der 1950er Jahre erinnern, deren starkes Engagement für den politischen Prozess der europäischen Integration tatsächlich mitunter zu Formen einer fragwürdigen Vereinnahmung führte, infolge derer gerade historische Sachverhalte z.T. einseitig, präsentistisch und verzerrt dargestellt wurden.
Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Europaforschung nicht aktiv(er) in gegenwärtige gesellschaftspolitische Debatten eingreifen kann oder soll – allerdings müssten damit einhergehende Probleme und Gefahren noch sehr viel genauer angesprochen und diskutiert werden.
Mit bestem Gruß, Florian Greiner