[1] Vielfalt gehört zum positiven Selbstverständnis Europas. Bewahrung, Pflege und Förderung der natürlichen, kulturellen und sprachlichen Vielfalt sind Teil des europäischen Aufgabenheftes. Mittlerweile macht sich eine neue Vielfalt breit, die destruktiv ist.
[2] Vielfalt ist ein grundsätzlich positiv besetzter Begriff und wird auf negative Vielfalt(en) nicht angewendet. Die allgemeine Bedeutung ist inhaltlich neutral. Der Duden definiert Vielfalt als „Fülle von verschiedenen Arten, Formen o. Ä., in denen etwas Bestimmtes vorhanden ist, vorkommt, sich manifestiert; große Mannigfaltigkeit“.
[3] Es gibt kaum einen Maßstab, mit dessen Hilfe festgestellt werden könnte, wann Vielfalt positiv oder negativ ist oder in ihr jeweiliges Gegenteil umschlägt – von positiv in negativ und umgekehrt.
[4] So ließen sich die Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und Katalonien und anderswo als Beitrag zur hochgeschätzten europäischen Vielfalt interpretieren; es gibt eine Menge sehr viel kleinerer Staaten in Europa und – im enger gefassten Europa – auch in der EU. Trotzdem überwiegen auf allen Ebenen die Einwände gegen diese Art von Vielfalt.
[5] Die europäische Gesellschaft ist gespalten. Das gilt sowohl für die einzelnen Staaten wie auch für die EU und das weitere Europa. Die Spaltungen sind sozial, ökonomisch, politisch und inzwischen auch digital.
[6] Die Scheren zwischen arm und reich werden breiter, die Mitte schmilzt ab. Dies bezieht sich nicht mehr vorwiegend auf das historische Nord-Süd-Gefälle bzw. West-Ost-Gefälle in Europa, sondern lässt sich nahezu überall in Europa feststellen. Von der bereits in den Römischen Verträgen (1957) als Ziel formulierten Angleichung des Wohlstands sind EU und das übrige Europa weiter entfernt als zuvor.
[7] Politisch leiden die extremen Ränder an einer erheblichen Gewichtszunahme, die politische Mitte erodiert und sie beginnt, an ihren eigenen Widersprüchen zu scheitern. Die Europäische Volkspartei behält die Fidesz-Abgeordneten in ihren Reihen und toleriert damit anti-demokratische Entwicklungen. Ein bayerischer Ministerpräsident, ebenfalls der konservativen Mitte angehörend, mutiert zum Michael Kohlhaas und Egomanen und gräbt fleißig an der Grube mit, in die die sich destabilisierende deutsche Demokratie stürzen wird. Die Volksparteien, die sich im Namen oder, wenn nicht im Namen, ideell auf das „christlich“ beziehen, haben aus der Debatte um die Flüchtlinge jedes Humanismus anzeigende Wort entfernt. Nichts Besseres kann zu den europäischen Sozialdemokratien gesagt werden.
[8] Zwischen der sozio-ökonomischen und politisch-ideologischen Entwicklung bestehen nur bedingt direkte Zusammenhänge. Um beim deutschen Beispiel zu bleiben: Pegida- und AfD-Anhänger/innen gehören gutteils zu dem Bürgertum, dem es ökonomisch gut oder mindestens passabel geht. Ein Zusammenhang zwischen „arm“ und „extrem rechts“ besteht nicht „an und für sich“. Das Bürgertum beginnt sich zu spalten: Einerseits die Zivilgesellschaft, andererseits die Anti-Demokraten, die nicht nur anti-demokratische, sondern auch rassistische, antisemitische, antimuslimische und menschenfeindliche Sätze ins Mikrofon brüllen oder in Internetmedien verbreiten. Ja: Es ist das Bürgertum im Sinne der „bürgerlichen Gesellschaft“, das sich spaltet. Der Begriff klingt altmodisch, aber noch ist die in Europa vorherrschende gesellschaftliche Figuration (Norbert Elias) die der bürgerlichen Gesellschaft. Hier geht etwas zu Ende, was im späten 18. Jahrhundert begann – die bürgerliche Gesellschaft.
[9] Im Rahmen der EU ist die negative Vielfalt besonders in der Gestalt nationaler Alleingänge, also nationaler Egoismen, festzustellen. Der Europaidealismus, der 1989 und dann mit dem Vertrag von Maastricht noch einmal eine Blüte erlebte, ist dahin, und zwar ersatzlos. Dieser Idealismus ist zu keinem Zeitpunkt die einzige oder wichtigste Treibkraft der europäischen Integration gewesen. Er trat immer zusammen mit politischem und ökonomischem Pragmatismus auf. Das heißt, beide stützten sich gegenseitig. Nicht nur der Europaidealismus ist verschwunden, sondern auch der Europapragmatismus – andernfalls dürfte es kaum so schwer sein, einzusehen, dass die Flüchtlinge – um nur ein Thema zu nennen – tatsächlich eine europäische Frage sind und nicht eine einzelner Staaten, die irgendwie „nicht aufgepasst“ oder im „unpassenden Moment“ ihre Politik „naiverweise“ nach dem Maßstab, eine menschliche Katastrophe lösen zu wollen, ausgerichtet hätten.
[10] Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos wurde auch über „digitale Spaltung“ diskutiert. Dies geschah eher unter wirtschaftlichen Aspekten. Die Fortschritte in der Entwicklung „künstlicher Intelligenz“ werden zu mehr intelligenten Maschinen führen, die mehr Arbeitsplätze kosten als sie schaffen werden. Noch mehr Arbeitslose würden die Wohlstandsschere noch weiter auseinanderklaffen lassen.
[11] Zunächst bedeutet künstliche Intelligenz aber eine Erhöhung der Vielfalt. So, wie auch das Web der Dinge und so weiter. Debatten um die Ausgestaltung des Netzes wie die Einführung von Premiumformaten lassen sich gleichfalls sehr gut als Erhöhung der Vielfalt, sozusagen als Erhöhung der digitalen Artenvielfalt, hinstellen. Tatsächlich spalten sie.
[12] Europas neue Vielfalt ist negativ besetzt und wird die positiv besetzte, die normalerweise gemeint ist, wenn von „Vielfalt“ gesprochen wird, zerstören, weil diese „neue Vielfalt“ das Gegenteil von Kohäsion und Kohärenz erzeugt. Und da hat sich nun doch der Maßstab gefunden: „Vielfalt“ ist deshalb eigentlich immer positiv besetzt, weil der Begriff stillschweigend mit dem Vorhandensein oder der Herstellung von Kohäsion und Kohärenz verbunden wird.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europas neue Vielfalt: Spaltungen – sozial, wirtschaftlich, politisch, digital. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europas-neue-vielfalt, Eintrag 25.01.2016 [Absatz Nr.].