Kurzer Rückblick
1979 wurde das Europäische Parlament erstmals direkt von den Bürger*innen gewählt, 2019 konnte somit der runde 40er gefeiert werden. Anders als früher stand dieses Mal bei allen Parteien Europa im Mittelpunkt des Wahlkampfes.
[1] 2014 wurde erstmals mit einem Spitzenkandidatensystem experimentiert, das zwar im EU-Vertrag nicht vorgesehen ist, aber durch den Vertrag auch nicht verhindert wird. Die Entscheidung über den künftigen Kommissionspräsidenten oder die künftige Kommissionspräsidentin trifft zwar der Europäische Rat, aber 2014 hat dieser den Kandidaten der Fraktion im Europäischen Parlament mit den meisten Abgeordneten zum Präsidenten gemacht – Jean-Claude Juncker von der EVP, während Martin Schulz von der zweitstärksten Fraktion, den europäischen Sozialdemokraten, zum Parlamentspräsidenten für die erste Hälfte der Funktionsperiode gewählt wurde.
[2] Juncker kündigte an, ein politischer Kommissionspräsident sein zu wollen, was er durchaus war, während Schulz den Aufmerksamkeitsgewinn, den das Europäische Parlament aus dem Spitzenkandidatensystem des Wahlkamps gezogen hatte, erhalten konnte.
[3] In die Amtsperiode 2014 bis 2019 fielen wichtige Gesetzgebungsvorhaben, darunter die Datenschutzgrundverordnung und der Schutz der Urheberrechte – Antworten auf Problemkonstellationen des digitalen Zeitalters. Außerdem nahm sich das Parlament der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinne des EU-Vertrags an, bei der die Nichtdiskriminierung eine große Rolle spielt.
[4] Alles in allem hat gerade das EU-Parlament den Geist des EU-Vertrags mit Leben erfüllt und vor Augen geführt, was zu schaffen ist, wenn der Vertrag (exakt gemeint sind der EU-Vertrag, der Vertrag über die Arbeitsweise der EU und die dazugehörende EU-Grundrechtecharta).
[5] Die Leistung des Parlaments wäre stark genug, um das Interesse der Bürger*innen zu wecken und die Grundlage für eine höhere Wahlbeteiligung zu legen. Die Wahlbeteiligung lag tatsächlich höher, nämlich bei 50,94% (Stand 28.05.2019, 7.30), während sie 2014 bei einem Tiefststand von 42,61% gelegen hatte. Das Ergebnis von 2019 ist diesbezüglich das beste seit der großen Erweiterung von 2004.
[6] Dennoch lag die höhere Wahlbeteiligung wohl weniger an der beachtlichen Leistung des Parlaments, sondern an der geradezu ideologischen Polarisierung der Parteien, für die die Nationalpopulisten (= Rechtspopulisten) verantwortlich waren.
[7] Diese plädieren für einen Rückbau der EU zugunsten von mehr Nationalismus, zugleich sind sie von der Parole „Raus aus der EU!“ abgerückt und haben die Strategie des Zusammenschlusses gewählt, um die EU für ihre Ziele zu instrumentalisieren und entsprechend umzubauen. Diese Ziele wurden nicht erreicht bzw. können nicht erreicht werden, da die Nationalpopulisten zwar zugewonnen haben, im Ergebnis aber weniger als vorhergesagt.
[8] Bisher haben sich die Nationalpopulisten auch nicht in einer einzigen Fraktion zusammengeschlossen, da die Ansichten insgesamt zu weit auseinander liegen. Das ändert nichts daran, dass sie für die pro-europäischen Parteien eine Herausforderung darstellten, die diese angenommen haben.
[9] Die andere Herausforderung bestand darin, die EU fit zu machen, um sich krisenhaft zuspitzende Probleme gemeinsam als EU lösen zu können, weil nur gemeinsame und keine nationalen Lösungen die Probleme tatsächlich lösen können (Finanz- und Schuldenkrise, Anwachsen von Migration aus sehr verschiedenen Motiven, Klimaschutz, globaler Handel, Digitalisierung, zunehmende Polarisierung in den internationalen Beziehungen, etc.).
[10] Zusammen führte dies zu dem Novum, dass tatsächlich Europa und EU in den Mittelpunkt der Wahlkämpfe rückten. Aber hat das mehr und bessere Erkenntnis gebracht?
Die EU im Europawahlkampf – Ein Fall von Kindesweglegung
[11] Der französische Präsident Macron gab schon 2017 den Ton vor, als er sagte, man müsse „Europa neu gründen“. Europa heißt hier EU. Die europäischen Grünen forderten im laufenden Wahlkampf zu den Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 eine „föderale Republik“, die österreichischen NEOS stellten „Pläne für ein neues Europa“ vor und übernahmen Macrons Schlagzeile von „Europa neu gründen“, das im Wahlprogramm zu einem „Europa neu (be)gründen“ relativiert wurde, aber trotzdem in die Forderung nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ mündete. Die wiederum hatte der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, 2017 als Spitzenkandidat der SPD im deutschen Bundestagswahlkampf aus dem Hut gezaubert. Und der wiederum mag sich an Winston Churchill erinnert haben, der 1946 bis 1948 auf zahllosen Vorträgen und Reden in Europa und Nordamerika für „Vereinigte Staaten von Europa“ (=VSE im Folgenden) warb.
[12] Churchill ist ein gutes Stichwort, denn für diesen Staatsmann stellte der 1949 gegründete Europarat in Straßburg ungefähr das dar, was er unter VSE verstehen wollte. Im Vergleich dazu stellt die heutige EU sehr viel mehr integriertes Europa dar als die verschiedenen Konzepte von VSE.
[13] Dass sich Parteien im Wahlkampf mit bestimmten Ideen interessant machen möchten, versteht sich von selbst. Dass sich beim genaueren Nachlesen in den Wahlprogrammen zeigt, dass die Ideen inhaltlich dann doch recht konventionell sind, gehört dazu. Doch warum dieser Furor, diverse völkerrechtliche Konzepte als scheinbaren Gegenentwurf zur EU auf den Begriff zu bringen, und dies ohne jegliche Kenntnis von deren Vorgeschichte? Warum wurde trotz grundsätzlich pro-europäischer Haltung mit der EU Kindesweglegung betrieben?
[14] Wirklich verstehen lässt sich das nicht, denn die pro-europäischen Parteien sind sich der wesentlichen Rolle der EU – was die die Vorgängerinnen wie die EG und EWG sowie EGKS einschließt – sicherlich bewusst. Sie verweisen auf den Erhalt des Friedens, die Sicherung der Freiheit, die Allgemeingültigkeit des Rechtsstaatsprinzips etc. All dies sind historische Errungenschaften, die wesentlich mit der europäischen Integration, deren Ergebnis die EU ist, verbunden sind. Diese Grundsätze stehen seit den 1950er Jahren in den zentralen Dokumenten, wurden beibehalten und ergänzt. Rhetorisch stehen die pro-europäischen Parteien ganz in der Pflicht der bestehenden EU-Verträge – was positiv zu werten ist –, geben dies aber nicht zu.
[15] Wenn die EU folglich das, was wirklich wesentlich ist, geleistet hat oder zumindest einen unverzichtbaren Anteil an dieser Leistung besitzt, warum muss sie dann unbedingt „neu gegründet“ oder „begründet“ werden?
Im historischen Vergleich steht die EU für das modernere Europakonzept
[16] Die „Europäische Union“ ist unter den Europakonzepten das modernere, zeitgemäßere, wenn man es mit VSE und „föderale Republik“ vergleicht. Die Idee VSE entstand im 19. Jahrhundert und ist mit der Entstehung des Nationalstaatsprinzips verbunden gewesen. Es ging um ein brüderliches und friedliches Verhältnis der Nationalstaaten zueinander. Ein Konzept für eine „europäische Integration“ gab es nicht.
[17] Die enge Verbindung zwischen der Idee VSE und vor allem dem Pazifismus seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war wichtig für die Entwicklung der Idee Europa. Zwischen 1850 und 1950 wurde meistens VSE als Ziel europäischer politischer Zusammenarbeit genannt – aber wie letztlich auch bei Churchill wurde die konkrete praktische politische Umsetzung nie konsequent durchdacht, weil man über den Grundgedanken nie hinauskam, dass es vor allem um die brüderliche Zusammenarbeit der Nationalstaaten gehe. Die EU ist da sehr viel weiter!
[18] Von einer „föderalen Republik“ oder einer „Republik Europa“ zu reden, erscheint daher attraktiver. Doch hat auch dieses Konzept eine ungefähr einhundertjährige Geschichte, derer sich die Proponent*innen des Konzepts vermutlich nicht bewusst sind.
Bringt uns die „föderale Republik“ in Ausbau der europäischen Demokatie weiter?
[19] Der Menschenrechtsaktivist Otto Lehmann-Russbüldt (1873–1964) bemühte sich seit 1910, die Konzepte VSE und Republik zusammenzubringen. Damit war er nicht allein. Es ging um die Schaffung gemeinsamer demokratisch legitimierter europäischer politischer Strukturen. Das liegt schon recht nahe am Konzept der EU. Nicht ganz zufällig war der Name „Europäische Union“ auch vor hundert Jahren schon immer mal wieder in Gebrauch.
[20] Der Kernpunkt dabei war und ist Demokratie. Die europäischen Grünen knüpfen ihre nicht im Detail ausgeführte Vorstellung von „föderaler Republik“ an eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Vorbild ist die im europäischen (National-)Staat gängige starke zentrale Stellung des Parlaments. Die EU folgt aber nicht dem Modell des (National-)Staats. Sie soll das ganz bewusst nicht tun, weil es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts darum geht, Europa und (National-)Staat aus der Konfrontation heraus zu ziehen und auszubalancieren.
[21] Diese Aufgabe ist noch nicht erfüllt, nicht zuletzt, weil der (National-)Staat sich immer wieder verändert. Durch die europäische Integration sind ihm neue Aufgaben zugewachsen, der (National-)Staat des 21. Jahrhunderts würde zusammenbrechen, nähme man ihm Europa, sprich die EU, weg! Und umgekehrt genauso…
[22] Das Kernproblem ist komplex: Wir brauchen eine insgesamt demokratisch legitimierte EU, ohne die Kosten für den (National-)Staat unangemessen zu erhöhen. Eine Stärkung des EU-Parlaments ist dabei nur einer von mehreren seit Jahren diskutierten Vorschlägen zur Demokratisierung der EU. Wenn, müsste das also viel breiter diskutiert werden. Alles andere geht hinter den Diskussionsstand zurück.
EU und (National-)Staat bedingen sich gegenseitig
[23] Es ist ganz entscheidend zu erkennen, dass sich EU und (National-)Staat mittlerweile gegenseitig bedingen. Wer „Raus aus der EU!“ schreit, tut genau das, was er oder sie eigentlich gar nicht will, nämlich den (National-)Staat ins Wanken zu bringen. Wer ruft „Europa neu gründen!“, „VSE!“, „föderale Republik!“ sollte ganz genau erklären, was dies konkret bedeuten soll und sollte auch den Diskussionsstand kennen! Was genau soll daran besser sein oder werden als das einem zeitgemäßen Hypertext ähnliche Konzept der Union?
[24] Inhaltlich sagte von den Proponent*innen dieser Konzepte niemand etwas, was nicht ohnehin in den EU-Verträgen stünde. Der „Vertrag über die die Europäische Union“ (Lissabon 2007, seit 2009 in Kraft) folgt einem sehr modernen Gesellschaftskonzept, über das weder die europäischen Grünen, noch Herr Macron, noch die österreichischen NEOS, noch XY bisher hinausgehen.
Das neue EU-Parlament – Chancen
[25] Die Zusammensetzung des neuen EU-Parlaments verbessert die Chancen dafür, dass die Ziele des EU-Vertrags besser umgesetzt werden, soweit es am Parlament liegt. Die beiden bisher größten Fraktionen der Volksparteien sowie der Sozialdemokraten sind immer noch die größten trotz Verlusten, die Liberalen (ALDE&R) sind stark gewachsen, ebenso die Grünen. Sofern man sich bei diesen Fraktionen über die gesellschaftliche Entwicklung der EU einigen kann, sind die Chancen besser als je zuvor.
[26] Alleine kann das Parlament nur bedingt die Themen setzen; ihm fehlt das Initiativrecht, und die politischen Leitlinien kommen vom intergouvernementalen Instrument, dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs. Für die Gesetzgebung müssen sich nicht nur die beiden Gesetzgebungsorgane (Rat – der Minister*innen sowie EU-Parlament), sondern auch EU-Kommission und Europäischer Rat einig sein. Zudem sind die Rechte der nationalen Parlamente zu beachten und diese Parlamente entsprechend frühzeitig einzubinden.
[27] Einigkeit zu erzielen ist also ein mühsames Geschäft, aber es funktioniert immer wieder – was man wohl anerkennend anmerken muss.
[28] Das Gesamtergebnis ergibt einen guten Spiegel der Situation in Europa. Die traditionellen Volksparteien (Volksparteien bzw. Christdemokraten; Sozialdemokraten/Sozialisten) verlieren an Zustimmung und verlieren damit ihren Charakter der Volkspartei. Liberale und Grüne wurden gestärkt, die Liberalen schließen wieder mehr als zwischendurch an ihre bedeutsame historische Rolle an. Die Grünen haben sich soweit verbürgerlicht, dass sie für traditionell Anhänger*innen der Volksparteien wählbar geworden sind, außerdem hat die starke Präsenz des Themas Klimaschutz ihnen genutzt, da sie dabei auf ihr Kernanliegen seit ihrer Entstehung in den 1970er Jahren verweisen können. Die Ränder rechts und links sind Ränder geblieben.
[29] Im Detail sind die Gründe für das Gesamtergebnis aber höchst unterschiedlich. Wenn das Gesamtergebnis allgemeine Trends widerspiegelt, sind die Detailgründe oft nur national erklärbar, auch wenn es transnationale Wirkungsketten gibt. So hat etwa die Veröffentlichung des Ibiza-Videos der FPÖ in Österreich bei den EU-Wahlen weniger geschadet als der deutschen Schwester, der AfD. In Rumänen haben die Sozialdemokraten deutlich verloren, was mit ihren Versuchen, die Korruptionsbekämpfung zu behindern, in Zusammenhang zu bringen ist, während die Liberalen stark zulegen konnten.
[30] Die deutschen Sozialdemokraten haben deutlich verloren, während die österreichische SPÖ praktisch ihr Ergebnis von 2014 halten konnte. Die Regierungskrise in Folge des Ibiza-Videos hat der österreichischen Sozialdemokratie nicht genutzt, der ÖVP hingegen hat die „causa prima“ genutzt. Die Grünen haben, nachdem sie 2017 bei den Nationalratswahlen nicht mehr ins Parlament gekommen waren, ihr Ergebnis von 2014 annähernd wiederholen können.
[31] In Frankreich ist Macron von Beginn seiner Präsidentschaft an als europäischer Vordenker aufgetreten, ohne dass sich das für ihn und seine Bewegung ausgezahlt hätte, statt dessen wurde der nationalpopulistische Rassemblement National von Marine Le Pen stärkste Partei, trotz leichter Verluste gegenüber 2014.
[32] In Italien hat die Lega von Salvini einen hohen Sieg eingefahren, auch in Ungarn wurde der Nationalismus von Orban belohnt, ebenso der polnische der PiS. Während in Italien die Zustimmungswerte zur EU in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen sind, bleibt diese Zustimmung in Polen und Ungarn mehrheitsfähig. Womöglich sind sich in Polen und Ungarn die Wähler*innen bewusst, dass die gewünschte nationale Geltung nur innerhalb der EU etwas wert ist – ohne den Klangkörper EU wäre diese wertlos. Beide Länder stehen ökonomisch recht gut da und die Regierungen haben eine ausgabenintensive Sozialpolitik betrieben. Dass die Mitgliedschaft in der EU das ermöglichte, ist vielen bewusst. Nationalpopulisten zu wählen und dabei pro-EU zu sein, geht zusammen – so, wie es sich auch widersprechen kann wie in Italien.
[33] In Spanien hat die sozialistische Partei klar gewonnen, entgegen dem Trend in anderen Ländern wie Frankreich und Deutschland; dies stimmt mit den Wahlergebnissen zum spanischen Parlament 2019 überein; das tut es auch in Frankreich und Deutschland, wo Sozialisten/Sozialdemokraten bei den letzten nationalen Wahlen ebenfalls stark verloren hatten.
[34] Die Wahlergebnisse hängen natürlich auch von Personen ab. Wer sich nach dem klassischen Strickmuster der nationalen Mythen als Kämpfer*in für die Nation wider den Feind inszenieren konnte, gewann dazu. Interessanterweise ist der „Feind“ aber keineswegs überall derselbe: Manchmal ist es die EU; manchmal der Islam; manchmal, wie in Österreich, ist der Feind eine bestimmte Politik, die abzulehnen sei, weil sie Österreich schade, ohne dass deren Urheber allzu konkret denunziert würden. Man spricht sich gegen eine liberale Migrationspolitik aus und kämpft dafür, dass es EU-weit eine restriktive Migrationspolitik gibt, man denunziert aber im allgemeinen nicht einfach „die EU“ oder ganz bestimmte Regierungen. Eine restriktive Migrationspolitik kann ideologisch mit Antiislamismus verbunden werden, muss es aber nicht, da das Argument der „Sicherheit“ sehr gut ohne Religionsfeindlichkeit oder faschistisch-identitäre Bezüge funktioniert.
[35] „Sicherheit“ ist eine „Sicherheit vor etwas“, implizit Sicherheit vor einem Feind oder Feinden, der aber eben durchaus nebulös bleiben kann. Ist das die Lehre aus den Europawahlen?
Alle Ergebnisse zur EU-Wahl sind auf der Seite des EU-Parlaments zu finden.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europawahlen 2019 – und keiner wusste, was die EU ist. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europawahlen2019, Eintrag 28.05.2019 [Absatz Nr.].