[1] Die französische Tageszeitung Le Monde veröffentlichte in der Freitagsausgabe vom 7. Oktober 2016 auf Seite 3 einen Artikel zum Thema des Friedensvertrages in Kolumbien und „Gender-Theorie“ („théorie du genre“). Marie Delcas, Le Monde-Korrespondentin in Bogotá, berichtet über bestimmte ideologische Gründe für die Ablehnung des Abkommens bei der Opposition. Gegner des Friedensvertrages geißelten die dort für Frauen sowie für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle vorgesehenen Rechte als Implementierung von ‚Atheismus‘, ‚Kommunismus‘ und ‚schwuler Machtergreifung‘. Die katholische sowie protestantische Kirchen liefen Sturm gegen die „Gender-Theorie“ und verteidigten das traditionelle Familienmodell, erörtert die Autorin.
[2] Zu den gegenständlichen Vereinbarungen berichtete beispielsweise der österreichische Standard am 25. Juli 2016: „In einer Grundsatzeinigung, die am Sonntag in Havanna vorgestellt wurde, wird Frauen sowie Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender „gleichberechtigter Zugang“ zu staatlichen Leistungen versprochen. (…) Nach Angaben der für Gleichstellungsfragen zuständigen Unterhändlerin der Regierung, Maria Paulina Riveros, ist unter anderem vorgesehen, Täter, die sexuelle Straftaten gegen Frauen begangen haben, von einer Amnestie auszunehmen. Kolumbiens Außenministerin Maria Angela Holguin sagte, Gleichstellungsfragen in einen Friedensvertrag aufzunehmen, sei ein „Novum“.“
[3] Insgesamt haben Medien diesem Teil der Verhandlungen und des Vertrages eher geringe Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl hierin, wie die Erfahrungen in einigen europäischen Ländern – nur in einigen! – beweisen, ein großes soziales Fortschrittspotenzial liegt. Gender Mainstreaming und die gesetzliche Verankerung von Minderheitenrechten insgesamt wie speziell für die LGBTI-Minderheiten setzen nicht nur die Erfordernisse der Grund- und Menschenrechte konsequent um, sondern befördern auch soziale, kulturelle und ökonomische Innovationen in einer Gesellschaft. Insgesamt unterstützen sie eine konstruktive Fortentwicklung der Demokratie – und es ist unschwer festzustellen, dass Regierungen, manchmal auch die Mehrheit einer nationalen Gesellschaft (Ungarn!), sowie Parteien, die sich seit einigen Jahren anti-liberal und anti-demokratisch ausrichten, einige Mühe darauf verwenden, vorhandene Gesetze wieder aufzuheben und durch diskriminierende Gesetze zu ersetzen, um speziell Frauenrechte und die Rechte von Minderheiten, darunter LGBTI-Minderheiten, zu attackieren.
[4] Seit einiger Zeit verstärkt sich die Tendenz, Gender Mainstreaming, Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit, die gesetzliche Verankerung von Minderheitenrechten sowie die interdisziplinäre Genderforschung (Gender-Studies) nicht nur infrage zu stellen, sondern zu diskreditieren und massiv zu attackieren. Dass das „Novum“ in einem Land wie Kolumbien zu erheblichem Streit führt, verwundert kaum, und sicher wird es ohne einen solchen öffentlich ausgetragenen Streit keinen nachhaltigen Fortschritt geben. Aber der Konflikt wird als künstlich provozierter genauso mitten in Europa ausgetragen.
[5] In Deutschland hat sich die AfD mit einem Angriff auf Gender Studies „hervorgetan“ und damit ein gewisses Medienecho ausgelöst. Zu meiner negativen Überraschung fand sich dann im April 2016 in der Süddeutschen Zeitung (Printausgabe) ein merkwürdiger Artikel von Christian Weber, der den Eindruck hinterlässt, als feierten alte biologistische Stereotypen ‚fröhliche‘ Urständ.
[6] Nicht nur in diesem Fall kann einen Verzweiflung überkommen, da ein halbes Jahrhundert breitester, kontroversester, globaler, interdisziplinärer Forschung offenbar völlig vergebens war. Nein, nicht ganz – ein Teil der Gesetzesmodernisierungen sind sicher als Reaktion auf Forschungsergebnisse aus der Gender Forschung zu sehen, aber wenn das politische Pendel sehr stark umschwingt wie in Russland haben selbst bescheidene Gesetzesmodernisierungen keine Aussicht auf Bestand mehr.
[7] Verzweiflung kann einen auch überkommen, wenn man im Web nach „Angriffe auf Gender Studies“ sucht und sich die Trefferquote sowie die Inhalte anschaut. Gesichert ist nichts, aller Forschung zum Trotz. Die Universitäten sind zusammen mit einer Reihe von Forschungsgesellschaften und -instituten die Orte dieser Forschung und müssen sich entsprechend dauerhaft für diese Forschung engagieren und Brücken für die Wissensvermittlung in die Gesellschaften hinein bauen.
Dokumentation:
Der in [5] erwähnte SZ-Artikel von Christian Weber ist auf SZ.de nicht open access gestellt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mehr Gender Forschung! Was uns die Ablehnung des Friedensvertrages in Kolumbien lehrt. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/gender-forschung, Eintrag 09.10.2016 [Absatz Nr.].