Gemeinsamer Blogeintrag von Olga Katsiardi-Hering (Athen) und Wolfgang Schmale (Wien)
[1] Am 24.2.2016 wurde in Wien auf Einladung des österreichischen Außenministers und der österreichischen Innenministerin eine Konferenz abgehalten, an der Österreich, Albanien, Bosnien, Bulgarien, Kosovo, Kroatien, F.Y.R.O.M (Mazedonien), Montenegro, Serbien und Slowenien teilnahmen. Griechenland (ebensowenig Deutschland, die EU und Italien) war nicht eingeladen, obwohl es um Entscheidungen ging, die sich ausschließlich negativ in Bezug auf Griechenland auswirkten.
[2] Die Kriterien, nach denen Flüchtlinge an der Grenze zwischen Griechenland und F.Y.R.O.M. (Mazedonien) abgewiesen oder durchgelassen werden, haben keinerlei europarechtliche oder international-rechtliche Grundlage, die Entscheidung wurde zudem nicht einmal 24 Stunden nach dem Brüsseler Gipfel getroffen, wo die versammelten Mitgliedsländer immerhin so klug gewesen waren, keine überstürzten Entscheidungen in Bezug auf die Frage der Flüchtlinge zu treffen. Der Umstand, dass die in der EU vereinbarte Verteilung von 160.000 Flüchtlingen noch kaum in Gang gekommen ist, rechtfertigt diese Handlungsweise nicht.
[3] Die Europäische Union als gemeinschaftliche Veranstaltung von derzeit 28 Mitgliedsstaaten wird durch solche Vorgehensweisen beschädigt und geschädigt, sie verlängern die Lebensdauer der EU ganz sicher nicht, eher ist zu befürchten, dass sie deren Lebensdauer stark verkürzen, weil „Solidarität“ unter den Mitgliedern ein Grundpfeiler ist, gegen den man nicht folgenlos mit dem Vorschlaghammer schlagen darf.
[4] Der Ansehensverlust für Österreich ist groß, weil es seine politische Verlässlichkeit selber infrage gestellt hat. Ab dem Frühjahr ist wieder mit steigenden Flüchtlingszahlen von Libyen nach Italien zu rechnen. Italien darf ebensowenig wie Griechenland allein gelassen werden. Europäische Solidarität ist keine Schönwetterparole, sondern der Ernstfall für eine gute Politik.
[5] Griechenland droht nun zu einem riesigen Flüchtlingslager zu werden. Allen Mitgliedern des Schengenabkommens ist seit langem klar, dass die EU-Außengrenze im Mittelmeer nicht so geschützt werden kann wie auf dem Festland. Daran werden auch mehr Personal und Ressourcen für FRONTEX oder der NATO-Einsatz an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei nur wenig ändern können. Es führt kein Weg an der Erkenntnis und dem Eingeständnis vorbei, dass Europa den Flüchtlingsstrom nicht aussperren kann, sondern sich auf das besinnen muss, was es bei Sonnenschein immer für sich in Anspruch nimmt – die Zivilisation der Menschenrechte und des Humanitarismus zu sein.
[6] Genau das wird derzeit auf die Probe gestellt, Europa muss sich hier beweisen. Im Augenblick ist dies gegenüber Griechenland zu beweisen. Es mag sein, dass Griechenland in der Vergangenheit immer wieder ein schwieriges Mitgliedsland sein konnte, aber welches EU-Mitgliedsland ist denn, bitte, nicht auf je eigene Weise schwierig?
[7] Das Wissen über Griechenland ist außerhalb des Landes sehr begrenzt. Das gilt im Übrigen für alle Mitgliedsländer. Man weiß in der EU erschreckend wenig über- und voneinander. Griechenland ist geschichtlich, geo-strategisch und als emotionale Triebkraft Europas wesentlich für Europa. Zu dem, was man über- und voneinander wissen sollte, gehört auch die Geschichte eines Landes, weil dies hilft zu verstehen, warum etwa Staat und Gesellschaft in jedem europäischen Land in unterschiedlichem Verhältnis zu einander stehen.
[8] Man sagt sehr oft, dass Griechenland – am Rande des europäischen Kontinents – immer zwischen Osten und Westen stand und vermittelte, vor allem während der langen osmanischen Herrschaft. Aber, a), diese Herrschaft war nicht überall gleichmäßig und gleich lang im heutigen griechischen bzw. südosteuropäischen Raum zu beobachten; b) Teile dieses Raums standen auch lange Zeit unter westeuropäischer Herrschaft – z.B. unter venezianischer und britischer Herrschaft; usw.), und, c), die Griechen verfügen über eine langjährige und erfolgreiche Diaspora von Intellektuellen, Kaufleuten oder Bankiers fast überall in Europa und in der Welt. Diese durch Vielfalt geprägte Situation erlaubte ihnen, den Dialog zwischen dem Osten und Westen aufrecht zu erhalten.
[9] Dieser Dialog verstärkte sich in der Zeit vor der griechischen Revolution (1821), welche zu der Gründung des ersten Nationalstaates auf dem Balkan führte. Die Idee Europa und die Hinneigung zu Europa war immer stark und präsent – im Fall der griechischen Kultur und Bildung als auch bei der griechischen Politik. Das beweist die lange Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts.
[10] Griechenland liegt in einer kritischen geostrategischen ‚Ecke‘ des europäischen Kontinents, des Mittelmeers. Dasselbe gilt hinsichtlich der Beziehungen zwischen Osten, Mittlerem Osten und Westen. Bis zur letzten wirtschaftlichen Krise, die als Ergebnis einer schwachen internen Wirtschaftspolitik wie auch einer globalen fiskalischen und wirtschaftlichen Konstellation zu betrachten ist, war Griechenland in den vergangenen 40 Jahren ein stabiles demokratisches Land.
[11] Nach 1989 und nach der neuen Instabilität in den südosteuropäischen Nachbarländern wurde Griechenland zum Einwanderungsziel für viele Migranten aus Albanien, Bulgarien, Serbien, Rumänien, Polen, Russland, aber auch aus Pakistan, Syrien, Afghanistan. Trotz der Schwierigkeiten der ersten 3-4 Jahre – und umso mehr, als Griechenland bis in jene Zeit nie ein Einwanderungsland, sondern ein Auswanderungsland gewesen war – konnten die Spannungen leicht überwunden werden. Die meisten Immigranten sind entweder integriert (und das gilt vor allem für die große Zahl der Albaner) oder sie leben friedlich miteinander.
[12] Die Flüchtlingskrise hat nicht die europäische Politik zur Ursache. Die Kriege im Mittleren Osten auch nicht. Dennoch bedeutet die Flüchtlingskrise eine kritische Situation für die Flüchtlinge und Migranten selber wie auch für die EU-Länder und Bevölkerungen. Die USA, Russland und die Türkei sind teils mehr, teils weniger an den Kriegen im Mittleren Osten beteiligt; es wäre daher sinnvoll, wenn diese mehr für die Beendigung der Kriege unternähmen und mehr Verantwortung für die Lösung der Flüchtlingskrise bewiesen.
[13] Die europäischen Meeres-Grenzen sind nicht einfach zu schützen und zu kontrollieren. Menschlich ist: die Boote NICHT sinken zu lassen. Der Fall des Schiffes an der Meerenge von Otranto, das voll mit Albanischen Migranten war und in den 1990er Jahren zum Sinken gebracht wurde, muss und darf sich nicht wiederholen!
[14] Die Neuentstehung nationalistischer Tendenzen ist sehr gefährlich. Sie ist noch gefährlicher in Südosteuropa, wo eine kritische wirtschaftliche Situation herrscht, vor allem nach den sogenannten Balkankriegen der 1990er-Jahre. EU-Länder sollen helfen und nicht die Situation lediglich ökonomisch ausnützen. Die gemeinsame europäische Idee sollte bekräftigt werden.
[15] Als Letztes: Europa ist stark genug für seine vielfältige Kultur, die in der hellenischen und römischen Kultur, in der Renaissance und vor allem in der Aufklärungszeit ihre Wurzeln hat, es ist stark genug, diese auch den Migranten vor Augen zu führen. Von den Migranten und Flüchtlingen kann Respekt für diese europäische Vielfalt erwartet werden. Die europäische Art des Lebens ist nicht infrage zu stellen sondern muss respektiert werden. Multiculturalism bedeutet nicht nur Τoleranz, sondern auch Respekt vor den Gesetzen der jeweiligen Gastländer von Seiten der Flüchtlinge und sonstigen Migranten. In der Regel ist der Staat in Europa laizistisch, Religion ist Privatsache, die Gesellschaft beruht trotz aller praktischen Defizite auf dem Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter.
Dokumentation:
F.Y.R.O.M. = The Former YugoslavRepublicofMacedonia (offizieller Name)
Beiträge von Olga Katsiardi-Hering:
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/eine-art-protektorat
Greek Merchant Colonies in Central and South-Eastern Europe in the the Eighteenth and Early 19th centuries”, in: V. Zakharov, G. Harlaftis, Olga Katsiardi-Hering (eds), Merchant Colonies in the Early Modern Period, London 2012, 127-140
Meerenge von Otranto: https://www.youtube.com/watch?v=TM-SseFr_WA
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Olga Katsiardi-Hering/Wolfgang Schmale: Griechenland ist wichtig. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/griechenland, Eintrag 01.03.2016 [Absatz Nr.].