I Zur Einleitung: Definition von „Grundlagenforschung“
[1] In der wissenschaftspolitischen Diskussion wird bezüglich der Definition von „Grundlagenforschung“ zumeist auf das von der OECD herausgegebene Frascati-Handbuch verwiesen. Es entstand 1963, derzeit liegt die 7. überarbeitete Auflage vor, die 2015 in Englisch und 2018 in deutscher Übersetzung publiziert wurde. Dort heißt es:
[2] „Der Begriff FuE[1] umfasst drei Tätigkeitsbereiche: Grundlagenforschung, angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung. Bei der Grundlagenforschung handelt es sich um experimentelle oder theoretische Arbeiten, die primär der Erlangung neuen Wissens über die grundlegenden Ursachen von Phänomenen und beobachtbaren Fakten dienen, ohne dabei eine bestimmte Anwendung oder Nutzung im Blick zu haben.“[2] Dieser Definition eignet eine genuin historische Dimension, weil „grundlegende Ursachen“ und „beobachtbare Fakten“ genau genommen nur vergangenheitsbedingt vorliegen.
[3] Innerhalb der Grundlagenforschung wird allerdings zwischen „reiner“ und „anwendungsorientierter Grundlagenforschung“ unterschieden. Unter letzterer wird Folgendes verstanden: „Anwendungsorientierte Grundlagenforschung wird in der Erwartung durchgeführt, dass sie einen breiten Fundus an Kenntnissen schafft, der den Kern für die Lösung von Problemen bzw. die Realisierung von Möglichkeiten bildet, die sich in der Gegenwart oder in Zukunft ergeben.“[3] In Bezug auf die Zukunft, oder noch weiter gedacht in Bezug auf die „Welt von morgen“, geht es demnach um die Variante der anwendungsorientierten Grundlagenforschung.
[4] Zusätzlich wird sowohl in diesem OECD-Grundlagenwerk wie etwa in entsprechenden Papieren des Österreichischen Wissenschaftsrats darauf hingewiesen, dass die drei Forschungsbereiche nicht dogmatisch voneinander abgrenzbar sind und sich in der Forschungspraxis überlappen.
[5] Statistische Erhebungen, zumeist auf der Grundlage des zitierten OECD Handbuchs, gehen freilich von einer klaren Zuordnung von Forschung zu dem einen oder dem anderen Feld aus. Das wirft Fragen nach der Belastbarkeit der Erhebungen auf, dennoch dürften die Grundtendenzen dabei richtig erfasst werden: Grundlagenforschung ist eher an den Universitäten angesiedelt, denn in Unternehmen (wo sie aber nicht völlig fehlt); in den Geisteswissenschaften (Beispiel Österreich) wird beinahe 80% der Forschung der Kategorie „Grundlagenforschung“ zugeordnet (Bericht Wissenschaftsrat 2012). Obwohl dies fast einem Alleinstellungsmerkmal der Geisteswissenschaften gleichkommt, wird in der wissenschaftspolitischen Öffentlichkeit über diese Grundlagenforschung wesentlich weniger geredet als über jene in den Naturwissenschaften, der Medizin oder den Technikfächern. Dies mag damit zusammenhängen, dass der ökonomische und gesellschaftliche Nutzen der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung noch schwerer zu messen ist als in den anderen Fächergruppen. Nutzen zu messen und sichtbar auszuweisen, ist aber eher ein Anliegen der Politik, die, jedenfalls in Bezug auf Universitäten, Akademien und weitere Forschungseinrichtungen, über die Budgets entscheidet und fraglos einem gewissen Rechtfertigungsdruck in Bezug auf die Ausgaben für Forschung ausgesetzt ist.
[6] Doch möchte ich auf solche Aspekte heute weniger eingehen und mich stärker mit prinzipiellen Fragestellungen auseinandersetzen.
II Aktuelle Aspekte der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung
[7] Da dieses Symposion in engem Zusammenhang mit dem Institut für rechtswissenschaftliche Grundlagen der Universität Graz steht, sei als erstes festgehalten, dass in den vergangenen Jahren allein im deutschsprachigen Raum eine Reihe ähnlicher universitärer Institute zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung gegründet wurden. Teilweise handelt es sich um Neuordnungen oder Umgründungen: Kiel, Hannover, Gießen, Würzburg, Luzern, und andere könnten genannt werden.
[8] Der Umfang der unter „rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung“ zusammengestellten Fächer variiert, aber der Grazer Kanon ist durchaus repräsentativ: Römisches Recht, Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtspolitik, Recht und IT, Systemvergleichung. Zweifellos erhöht diese Gruppierung in einem ausdrücklichen Institut die Visibilität der Fächer, insbesondere jener, die wie das Römische Recht, die Rechtsgeschichte und wohl auch die Rechtsphilosophie in den vergangenen zwei Jahrzehnten umfangmäßig reduziert wurden, obwohl sich ihre Bedeutung für die Grundlagenforschung nicht geändert hat. Diese wird von den Curricula oft nicht mehr angemessen berücksichtigt, die sogenannten „Grundlagen“ erscheinen als nicht mehr denn eine Reminiszenz an die frühere Rechtsgelehrtheit, obwohl gerade sie es sind, die einem Maßstäbe beibringen, mit denen beispielsweise die demokratische Qualität einer Rechtsordnung bzw. deren Untergrabung erkannt wird.
III „Grundlagenforschung“ zwischen Prognostik und Science-Fiction
[9] Auf einem Symposium der Mainzer Akademie der Wissenschaften vor rund 19 Jahren zum Thema Grundlagenforschung wagte sich der seinerzeitige Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft Gerhard Wegner, zugleich Direktor des MPI für Polymerforschung, an eine Systematik von Grundlagenforschung.[4] Er identifizierte zwei ganz große Fragen: „Wo kommen wir her?“ und „Wo gehen wir hin?“ Grundlagenforschung hat demzufolge generell eine eminent historische Dimension wie ihr auch eine eminent zukunftsorientierte Perspektive eignet. Grundlagenforschung ist generell Geschichts- wie Zukunftsforschung. Wegner bringt also die beiden Dimensionen, die im OECD-Handbuch unterschieden werden, zutreffenderweise wieder zusammen.
[10] Die Gegenwart fällt aus diesem Schema heraus, einerseits weil sie der zeitliche Standpunkt der Forschung ist, andererseits weil – so sagt es Wegner allerdings nicht – sie vielleicht eher Gegenstand anwendungsorientierter Forschung ist. Die Gegenwart braucht forschungsbasierte Lösungen eben jetzt, im Jetzt.
[11] Die „Welt von morgen“ ist ferner als die nahe Zukunft, auf die sich die mannigfaltigen Prognosen im Bereich von Wirtschaft, Demografie, Steuereinnahmenentwicklung usw. beziehen. Prognosen zum Klimawandel reichen viel weiter in die Zukunft, ebenso Prognosen zu den Erdvorräten an Rohstoffen, zur Ausdehnung der Sahara, und ähnliches mehr. Auch wenn die meisten solcher Prognosen regelmäßig korrigiert werden müssen, besitzen sie viel Bodenhaftung, da sie von empirischen Daten ausgehen, die auf plausible Weise in die maximal einige Jahrzehnte entfernte Zukunft hochgerechnet werden, und da sie in der Regel mit langen weiter zurückreichenden Datenreihen verglichen werden können. Diese Prognostik und Wahrscheinlichkeitsberechnung beruht auf der im späten 17. Jahrhundert bereits deutlich manifest werdenden Überzeugung, dass sich die Welt nicht nur in Bezug auf ihr Sein, sondern auch in Bezug auf ihre weitere Entwicklung berechnen lässt. Klaus Mainzer hat dies in seinem 2014 erschienenen Buch „Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data“ eingehend dargelegt.[5]
[12] Die „Welt von morgen“ liegt jedoch jenseits der Reichweite solcher Prognosen. Der vor kurzem verstorbene Stephen Hawking meinte im Jänner diesen Jahres (2018), dass um 2600 die Erde so überbevölkert sei, dass eigentlich keine andere Wahl bliebe, als rechtzeitig Siedlungen im All anzulegen. Ist unter anderem das die „Welt von morgen“, auf die wir bereits heute Grundlagenforschung ausrichten müssen?
[13] Solche Siedlungen kennen wir aus zahlreichen Science-Fiction-Epen wie Star Trek, Star Wars oder Avatar, um die etwas niveauvolleren zu nennen. Auch die Roboterwelt von morgen ist in vergleichbaren Filmen längst Realität, ebenso neuartige Materialien, die digitale Medizin, die mit Schnittstellen im menschlichen Körper arbeitet. Und die Künstliche Intelligenz hat in der Science-Fiction den Menschen leistungsmäßig überholt. (Thema des neuen Buches von Frank Schätzing) Ist das die Welt von morgen? Hollywood scheint die Welt von morgen bestens zu kennen und vermarktet sie schon heute.
[14] Der Blick der Wissenschaft auf die „Welt von morgen“ verortet sich zwischen einerseits Prognosen mit Bodenhaftung und andererseits Science-Fiction. Ohne Zweifel sind wir in der Lage, plausiblere Annahmen über die Welt in einhundert, zweihundert oder mehr Jahren zu entwickeln, als seinerzeit Nostradamus und andere Prognostiker, weil diese Annahmen aus Forschungsprozessen heraus entstehen. Die Vorhersehbarkeit der Welt hat sich verbessert, weil sehr viel Energie und Ressourcen darauf verwendet werden, alles Mögliche wissenschaftlich vorherzusehen bzw., genauer gesagt, zu berechnen. Jede Wissenschaft und Forschung ist heute ein Stück weit Wissenschaft von der Zukunft. Das gilt sogar dann, wenn eine Wissenschaft dezidiert auf vergangene Epochen schaut, denn jede Vergangenheit impliziert eine „vergangene Zukunft“, die ebenso erforscht wird wie die noch ausstehende Zukunft.[6]
IV Transformationsprozesse, die die „Welt von morgen“ vorbereiten
[15] Sicherlich bleiben wir dem verhaftet, was unsere Gegenwart ausmacht. Die „Welt von morgen“ extrapolieren wir aus unserer Gegenwart, in dem sicheren Wissen, dass grundlegende Transformationen langsam vonstattengehen. Das widerspricht dem Gefühl von Beschleunigung, von immer mehr Beschleunigung, von rasantem Wandel, das seit dem späten 18. Jahrhundert zugenommen hat. Das Gefühl steht aber im Widerspruch zur tatsächlichen Langsamkeit grundlegenden Wandels.
[16] Alles, was uns in dieser Beziehung stark beschäftigt, von Globalisierung über Klimawandel bis zur Digitalisierung der Lebenswelt hat sehr viel früher eingesetzt als es die Empfindung vom immer schnelleren Wandel wahrhaben will. Dass Wandel langsam vor sich geht, wissen wir durch Grundlagenforschung. Dass das Empfinden seit gut 200 Jahren anders ausfällt, hängt mit der verzögerungslosen Sichtbarmachung von Wandel, der verzögerungslosen Generalisierung der Kommunikation von Wandel in die Gesellschaft hinein und dem Umstand, dass Wandel mehr als früher viele Menschen gleichzeitig betrifft, zusammen.
[17] Versuchen wir einige Transformationsprozesse zu identifizieren, die mit hoher Plausibilität die „Welt von morgen“ ausmachen werden und deren Richtung kaum von kurzfristigeren Entwicklungen wie Kriegen oder Regierungswechseln verändert wird. Sie müssen Gegenstand von Grundlagenforschung sein. An der Erforschung der Prozesse sind auf die eine oder andere Weise wohl alle Wissenschaften beteiligt, aber darauf kann ich nicht eingehen, vielmehr stelle ich die Gruppe der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften in den Vordergrund. Diese Wissenschaftsgruppe sollte sich in der Tat intensiver in die Forschung zur „Welt von morgen“ bzw. allgemein der Zukunft einbringen.
IV.1 Globalisierung, Globalität
[18] 1. Globalität[7]: Noch steht im Mittelpunkt der Debatte „Globalisierung“, das heißt der Prozess, an dessen Ende Globalität stehen wird. Weder der Prozess noch das erwartbare Ergebnis sind unumstritten. Der Streit ist aber eher politisch als wissenschaftlich. Die aktuell feststellbaren Gegenreaktionen auf Globalisierung, die faktisch zu einer uneingestandenen Interessensallianz zwischen manchen radikalen NGOs auf der einen Seite und auf Abschottung setzenden Nationalisten auf der anderen Seite führen, sind ideologisch fundiert, sie beruhen nicht auf wissenschaftlich gesichertem Wissen. Damit soll überhaupt nicht bestritten werden, dass Globalisierungsprozesse negative Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebenswelt der Menschen sowie die Natur haben und zu gewalttätigen Machtkonstellationen führen, aber deren Beseitigung wäre eine politische Aufgabe, denn wissenschaftlich sind diese negativen Folgen längst nachgewiesen. So oder so wird am Ende Globalität stehen.
[19] Globalität charakterisiert wahrscheinlich am besten die „Welt von morgen“ – das heißt, es ist von der Irreversibilität des Prozesses auszugehen, da sich schon jetzt mehrere langfristige Transformationen miteinander verwoben haben: Klimawandel, Migration von Menschen, Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen wie z. B. Krankheitserregern, Kohärenz- und Kohäsionsverlust, Digitalisierung der Lebenswelt und Robotisierung des Menschen bzw. Hominidisierung der Roboter.
[20] Diese Prozesse verändern die bisherigen Organisationsformen gesellschaftlicher, staatlicher, ökonomischer und kultureller Natur oder lösen sie sogar auf. Als Fokus nehme ich die Transformation von Gesellschaft, und sehe dabei Staat, Wirtschaft, Kultur und Umgang mit der Natur als Funktionen von Gesellschaft. Dieser Fokus wird es erlauben, auch die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung in Bezug auf die „Welt von morgen“ kritisch zu betrachten, zugleich muss unterstrichen werden, dass Auflösungsprozesse, die die uns gewohnte bis in die Gegenwart reichende geschichtliche Welt betreffen, bereits im Gange sind.
IV.2 Klimawandel
[21] 2. Klimawandel: Unsere Fächer erforschen nicht den Klimawandel selber, wenn man davon absieht, dass die Subdisziplin „Klimageschichte“ rund ein Jahrhundert alt ist und den mit dem Klimawandel befassten Naturwissenschaften zuarbeitet so wie diese der Klimageschichte zuarbeiten. Sie befassen sich mit den Auswirkungen auf die Gesellschaften. Wie verändern zunehmende Unwetter mit ihren oft tödlichen Folgen und erheblichen materiellen Schäden eine Gesellschaft? Wie verändert Migration, die, meistens im Verein mit anderen Faktoren, durch Klimawandel verstärkt oder überhaupt erst angestoßen wird, die jeweils betroffenen Gesellschaften und – beispielsweise ihre Rechtsordnung? Wie verändert das alles den einzelnen Menschen und seine nächste soziale Umgebung? Wie verändert sich die Qualität dieser und anderer Auswirkungen im historischen Vergleich – also, was ist qualitativ anders und nicht mehr mit bekannten historischen Vergleichserfahrungen zu begreifen? Wie verändern sich die Funktionen der Gesellschaft, sprich Staat, Wirtschaft, Kultur und Natur?
[22] Nicht alle solche Fragen, aber viele davon hat Wolfgang Behringer in seinem zuerst 2015 erschienenen Buch „Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte“ aufgegriffen. Er befasst sich mit den Auswirkungen des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 auf die Welt bis 1820 und zeigt mittels einer historischen Studie, wie solche interdisziplinären Forschungen über Folgen klimatisch einschneidender Ereignisse aussehen können. Der Tambora-Ausbruch stellt den gewaltigsten Vulkanausbruch der letzten ca. 5.000 Jahre dar. Der Autor zielt dabei auf mehr, wenn er zusammenfassend schreibt: „Der Tambora-Ausbruch testete die Fähigkeit der menschlichen Zivilisation, mit der dramatischen Verschlechterung ihrer Lebenssituation umzugehen.“[8] Der Klimawandel beschert der Menschheit dieselbe Art von Test, nur, dass dieser länger als fünf Jahre dauert.
[23] Klimawandel wirkt sich global, aber auch lokal aus, das heißt, alles, was unsere Fächer an Methoden besitzen, um Mikro-, Mezzo- und Makroebenen zu untersuchen, muss aufgeboten werden und kann sich dabei nicht auf den eigenen nationalstaatlichen Rahmen beschränken.
IV.3 Migrationen
[24] 3. Migrationen sind Teil des Klimawandels und seiner Auswirkungen, aber nicht ausschließlich. Sie sind Folge des Zerfalls von immer mehr Staaten, der sich verbunden mit unsäglicher Gewalt und Krieg und daraus resultierend Hungersnöten und Epidemien teilweise über Jahrzehnte hinzieht, sie sind Folge von kriminellen Steuerungsprozessen (organisierte Schleuser und Schlepper), sie sind Folge bewährter transkontinentaler Familienstrategien, sie sind Folge von Zukunftsträumen, etc. Migration verändert die Gesellschaften, von denen eine starke Migration ausgeht, sie verändert die Zielgesellschaften. Sie stellt administrative, soziale, rechtliche und kulturelle Systeme vor Herausforderungen.
[25] Migration besteht aber nicht nur aus der dauerhaften Migration von A nach B oder C, sondern auch Tourismus ist eine Spielart von Migration. Die Zahl der Reisenden (Tourismus und Business) steigt von Jahr zu Jahr. Tourismus hat einen Umfang erreicht, dass er nolens volens zur Transformation von Recht, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Natur in den Tourismus-Ländern beiträgt. Er ist ein Transformationsmotor geworden, dessen Kontrolle entgleitet.
[26] Mit den Touristen migrieren auch erlaubter- oder unerlaubter- bzw. unbemerkt-beiläufigerweise Pflanzen und Tiere (z. B. Insekten) sowie diverse Krankheitserreger. Hier ergeben sich Interferenzen mit der Migration von Pflanzen und Tieren infolge des Klimawandels, mit der allgemeinen Migration von Menschen, die wiederum die ökologischen sowie sozio-ökologischen Systeme sowohl hier wie dort verändern. Worin genau bestehen die Veränderungen, was sind die Folgen für die Gesellschaft und deren Ordnungssysteme?
IV.4 Kohärenz- und Kohäsionsverlust
[27] 4. Kohärenz- und Kohäsionsverlust bezeichnen bereits Folgen und Auswirkungen von Transformationen aus Globalität, Klimawandel und Migration. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich das Modell des modernen Staates (zumeist als Nationalstaat verstanden) als DAS soziale Organisationsmodell schlechthin global verbreitet. Die Transformationen verändern aber die gesamten Lebenswelten derart tiefgreifend, dass dieses Organisationsmodell selbst in stabil gewordenen Weltregionen wie Europa zunehmend durch Dysfunktionen charakterisiert wird. Zahl und Umfang der gleichzeitig zu bewältigenden in das System hereingetragenen Aufgaben erhöhen sich, ohne dass es fertige Lösungen gäbe. Die staatlichen und gesellschaftlichen Systeme sind nur für ein gewisses Maß an Transformation optimiert, sie laufen Gefahr, soziale Kohäsion und kulturelle Kohärenz nicht mehr ausreichend herstellen zu können. Zur Optimierung gehören nicht nur ein möglicherweise objektiv feststellbares Leistungs- und Problemlösungspotenzial, sondern auch Einstellungen der Gesellschaft und Kommunikationsstrategien. Diese reichen aber von Transparenz schaffen über Propaganda bis zu Volksverhetzung – das heißt, sie lassen sich nicht zwingend zur Herstellung von Kohärenz und Kohäsion unter den Bedingungen massiver Transformation heranziehen.
[28] Kohäsion und Kohärenz sind aber auch im Hinblick auf die Veränderung der ökologischen Systeme, genauer gesagt ihrer Zerstörung und damit einhergehend der Zerstörung der Vielfalt zu betrachten. Dies wirkt sich ebenso auf Gesellschaften aus, sei es, dass sie mittels Migration an Vielfalt – das ist weder ein negativer noch ein positiver Wertbegriff – gewinnen, sei es, dass sie an Vielfalt verlieren, weil diese als sozial, politisch, ökonomisch und kulturell kontraproduktiv angesehen und infolgedessen unterdrückt und bekämpft wird.
IV.5 Digitalisierung der Lebenswelt
[29] 5. Digitalisierung der Lebenswelt: Der Verlust sozialer Kohäsion und der Verlust kultureller Kohärenz gehen Hand in Hand und sie werden durch Individualisierung infolge von Digitalisierung noch verstärkt. Digitalisierung schafft zwar neue Abhängigkeiten, aber sie sorgt auch für mehr individuelle Autonomie und sie ersetzt traditionelle menschliche Interaktionen durch Autonomisierung, Robotisierung und Automatisierung auf der Grundlage der sogenannten Künstlichen Intelligenz. Sie verändert die Arbeits- und Lebenswelt ganz grundsätzlich.
[30] Die Digitalisierung ist nicht nur global, wie auch der Klimawandel global ist, sondern sie schafft eine global verbreitete Kultur, die überall dieselbe ist. Die digitale Konstruktion der Wirklichkeit beginnt die soziale Konstruktion der Wirklichkeit zu ersetzen.
[31] Die laufenden Digitalisierungsprozesse tendieren zur digitalen Totalerfassung der vergangenen und gegenwärtigen Welt. Aus den Daten lassen sich nicht sichtbare, aber dennoch existierende Wirklichkeiten berechnen. Das gilt nicht nur für Exoplaneten, sondern auch für die Entdeckung von sozialen Realitäten. Aufgrund der entsprechenden Datenmengen können Algorithmen herausfinden, wo, an welchem Ort, für einen Langzeitarbeitslosen oder einen Flüchtling das Maximum an positiven Bedingungen vorhanden wäre, um doch noch zu reüssieren. Ähnlich funktioniert die Berechnung, wo höchstwahrscheinlich die nächsten Wohnungseinbrüche stattfinden werden, sodass präventiv gehandelt werden kann.
[32] Noch sind nicht alle Digitalisierungsprozesse miteinander verknüpft, noch können nicht alle Daten aus allen Digitalisierungen miteinander verbunden und ausgewertet werden. Der Schutz persönlicher Daten, das informationelle Selbstbestimmungsrecht sind Menschenrechte, die dem entgegenstehen. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr unterschiedlichste Daten miteinander verknüpft und nach immer neuen Fragestellungen ausgewertet werden, sehr hoch. KI erlaubt es, die Generierung von Fragestellungen zu automatisieren. Anschließend wird das umfangreiche Datenmaterial – Big Data – selbststätig durchsucht und ausgewertet, so dass ich am Ende nur noch entscheiden muss, ob ich mit dem Ergebnis etwas anfangen kann oder möchte; aber auch diesbezüglich kann mir das Programm wohlüberlegte Vorschläge machen. Das funktioniert in Bezug auf Wissenschaft genauso wie in Bezug auf den Alltag, die Alltagswirklichkeit.
[33] Es werden also nicht nur die weißen Flecken aus der Wahrnehmung von Realität verschwinden, es wird nicht nur die Realität erweitert werden können durch Rechenoperationen und augmented reality im engeren herkömmlichen Wortsinn, sondern Realität wird dem Einzelnen in einem nie dagewesenen Umfang zugänglich sein und in einem nie dagewesenen Umfang Handlungs- und Interaktionsoptionen sowie Interpretationsoptionen eröffnen.
[34] Erkenntnistheoretisch macht das einen großen Unterschied zu den bisherigen Voraussetzungen von Grundlagenforschung, weil die empirische Basis um ein Vielfaches breiter sein wird, auf deren Grundlage über Zukunft und die „Welt von morgen“ geforscht wird.
IV.6 Robotisierung des Menschen, Hominidisierung des Roboters
[35] 6. Robotisierung des Menschen und Hominidisierung des Roboters: Der Mensch wird zunehmend Teil der auf Digitalität beruhenden Vernetzungen. Im Moment werden dazu noch vorwiegend außerhalb des menschlichen Körpers befindliche Geräte benutzt, die aber, wie in der digitalen Diagnostik, immer näher an den Körper rücken. RFID-Chips (radio-frequency identification) sind bereits nicht mehr ungewöhnlich. Cyborg-2.0-Experimente wie die anfangs (2002) von Kevin Warwick zeigen, dass die gegenwärtig noch angenommene klare Unterscheidung zwischen hier Mensch und dort Roboter, also Maschine, hinfällig werden könnte.[9] Der Mensch wird sich immer mehr Roboterbestandteile inkorporieren können. In der „Welt von morgen“ wird der Mensch kaum Opfer digitaler, mittels KI funktionierender Netzwerke sein, wie es die Science-Fiction als Szenario zu bevorzugen scheint, sondern er wird aufgrund seiner Roboterbestandteile im Körper auch selber maschineller digitaler Bestandteil sein. Die große Herausforderung für die Grundlagenforschung in den Rechtswissenschaften wird daher weniger die juristische Klärung von Verantwortlichkeit beim autonomen Fahren sein, von der im Moment viel die Rede ist, sondern wie wird eine Rechtsordnung sein können oder sein müssen, wenn der Mensch robotisiert und Teil von Datennetzen wird?
[36] Die Hominidisierung der Roboter ist ein eigener Vorgang. Die Einkleidung der Maschinenteile eines Roboters in einen Körper, der dem menschlichen ähnelt, und in eine Art Haut sind in gewissem Sinn Spielereien, auch wenn dies womöglich die Gewöhnung daran, dass Roboter immer mehr in unser Alltagsleben einziehen werden, erleichtert. Aber das Wesentliche passiert an anderer Stelle: So ermöglichen neue Fasern, die aus diversen Materialien entwickelt wurden, eine Art „Fühlen“; stattet man eine maschinelle Roboterhand damit aus, kann diese in gewissem Sinn „fühlen“. (WZ 2018, 30.5., S. 24 Kurzmeldung aus der Wissenschaft; ebenso Standard, Presse u.a.) Die Unentbehrlichkeit dieser Helfer macht sie eventuell de facto zu Rechtssubjekten.
[37] Schon jetzt werden unsere traditionellen Rechtsbegriffe auf die Probe gestellt. Bei kritischer Betrachtung schafft die fortschreitende Digitalisierung der Lebenswelt neue Sklavenarbeitssituationen. Jeder von uns produziert immer mehr Daten, nicht nur aus freien Stücken, sondern weil vieles ohne digitale Technik gar nicht mehr geht und weil viele Arbeitsgänge an den Nutzer oder die Nutzerin delegiert werden. Diese Daten sind Grundlage von Wertschöpfungsketten, in denen andere mit unseren Daten Geld verdienen, während wir im Normalfall gezwungen werden, gratis zu arbeiten. Das wird mit der zunehmenden Robotisierung des Menschen verstärkt werden, immer mehr wird unsere Haupteigenschaft das fortlaufende Produzieren von Daten sein, was immer wir gerade tun. Kann man dann immer noch vom Menschen als Rechtssubjekt reden, obwohl er vorrangig zusammen mit ungezählten Computern, Smart Devices etc. als Element des globalen digitalen Netzes funktioniert? Das ist übrigens auch dann der Fall, wenn er nicht robotisiert wird und die digitalen Kleinstgeräte außerhalb seines Körpers verbleiben.
[38] Sicher wird auch unsere bisher gültige Auffassung vom Menschen als jedes Mal von neuem einzigartigen und einmaligen Wesen infrage gestellt. Müssen wir uns nicht fragen, ob in der Welt von morgen der Wert eines Menschen nicht einfach feststeht, aufgrund der alleinigen Tatsache, dass er Mensch ist, sondern davon abhängen wird, wie viele oder wie wenige Daten er produziert und ins globale Datennetz einspeist? Wird unsere anthropozentrische Rechtsordnung durch eine cyberzentrische Rechtsordnung ersetzt werden?
[39] Die Entscheidung, ob die Transformationsprozesse dahin führen werden oder nicht, fällt in unserer Gegenwart. Ist die Grundlagenforschung in unseren Fächern darauf vorbereitet?
V Erkenntnistheoretische Fragen an die Grundlagenforschung
[40] In dieser Konstellation steht Grundlagenforschung vor einer Reihe von prinzipiellen Fragen. Grundlagenforschung diene, so heißt es im Allgemeinen, wie im OECD-Handbuch (Zitatwiederholung, s.o.), „primär der Erlangung neuen Wissens über die grundlegenden Ursachen von Phänomenen und beobachtbaren Fakten (…), ohne dabei eine bestimmte Anwendung oder Nutzung im Blick zu haben.“ Diese Art von Grundlagenforschung hat immer ihre Berechtigung, aber in der Perspektive der Welt von morgen reicht dies bei weitem nicht aus. Was wir bewältigen müssen, ist eine anwendungsorientierte Grundlagenforschung, die in Bezug auf die Auswirkungen der Transformationen in großem Maßstab Lösungen erarbeitet, und die sich zugleich mehr als bisher in der Forschung auf plausible Szenarien in einer ferneren Zukunft, also der „Welt von morgen“, einlässt.
[41] Letzteres tut Forschung, insbesondere die geistes-, sozial- und humanwissenschaftliche, nicht so gern, es sei denn, sie firmiert ausdrücklich als Zukunftsforschung. Hier muss sich meines Erachtens unsere Fächergruppe aber bewegen und sich gleichzeitig in vier zeitlichen Dimensionen verorten:
- Historische Dimension: Alle Fächer der Fächergruppe besitzen diese Dimension, wenn auch unterschiedlich intensiv. Die historische Dimension wird u.a. für Systemvergleiche benötigt, das heißt, sie wird gebraucht um festzustellen, ob gegenwärtig oder zukünftig ein Systemwechsel geschieht. Es ist fundamental zu wissen, welcher Art die Transformationen, von denen ich gesprochen habe, sind. Die historische Dimension erfasst Kontinuitäten und longue-durée-Phänomene, ebenso aber Brüche und kann den steuernden Einfluss von Ereignissen analysieren. Gerade Letzteres ist nicht weniger wesentlich als ein Systemvergleich. Ereignisse wie die Öffnung der Grenzen 2015 für Flüchtlinge oder Donald Trumps Aufkündigung des Atomabkommens mit Iran werden zwar kaum die „Welt von morgen“ ändern, aber sie haben die Gegenwart verändert und werden die Welt in der näheren Zukunft verändern. Um es kurz zu sagen: Alle zu erforschenden Phänomene bedürfen, um zu einer exakten Beschreibung zu gelangen, auf die sich weitere Forschung stützen kann, der historischen Analyse und Einordnung. Das ist überhaupt nicht neu – man nehme sich wieder einmal einen Klassiker der Zukunftsforschung aus dem Bücherregal: Herman Kahn und Anthony J. Wiener „Ihr werdet es erleben – Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000“, das 1967 erschien und bereits 1968 in deutscher Übersetzung vorlag und in hoher Auflage verkauft wurde. Die Autoren beginnen mit – geschichtsphilosophischen Modellen.
- Dimension der Gegenwart: Diesbezüglich trifft das übliche Definitionsmerkmal von Grundlagenforschung „Erlangung neuen Wissens über die grundlegenden Ursachen von Phänomenen und beobachtbaren Fakten“ zu.
- Dimension der Zukunft (die nächsten Jahrzehnte): Hier müssen sich unsere Fächer stärker auf Prognosen und Berechnungen, z. B. auf der Grundlage von Big Data einlassen, also stärker mit anderen Wissenschaften zusammenarbeiten.
- Dimension der „Welt von morgen“: Auch hier bedarf es der interdisziplinären Zusammenarbeit und der Bereitschaft, ausgehend von der dichten Analyse grundlegender Transformationen, sich auf die Möglichkeit einer Welt einzulassen, die ihr Herkommen aus der Geschichte, der Gegenwart und näheren Zukunft hat, sich aber aufgrund der Vernetzung verschiedener Transformationen recht grundlegend von unserer Welt unterscheiden wird. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass man solche fundamentalen Transformationen nicht einfach ihrer Dynamik überlassen darf, wenn nicht gewollt werden soll, dass Ethik, Moral, Respekt vor der Menschenwürde und Bewahrung des Menschen als Träger unantastbarer Rechte untergepflügt werden.
[42] Für unsere Fächer geht es hier um eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Frage nach dem Ort der Grundlagenforschung in unserer Fächergruppe. Es berührt die Frage, was wir als wissenschaftlich gesicherte Erkenntnis gelten lassen können. Je weiter es in die Zukunft bis letztlich zur „Welt von morgen“ geht, desto mehr zeigen sich Widersprüche zu bisherigen anerkannten Arbeitsweisen. Meines Erachtens müssen wir aber diese Diskussion intensiv führen, weil sich der Forschungsbedarf immer mehr in Richtung der dritten und vierten Zeitdimension verschiebt.
[43] Das hat damit zu tun, dass unser Wissen um Transformationen heute ein anderes ist als in früheren Epochen. Als die Industrielle Revolution einsetzte, machte sich niemand Gedanken darüber, dass diese einen bzw. den Klimawandel einleiten würde. Man machte sich Gedanken über die Folgen für die Veränderung der Arbeits- und Lebenswelt, allen voran Karl Marx und Friedrich Engels, aber sie und viele andere flohen gewissermaßen in eine Geschichtsteleologie.
[44] Wir haben gelernt, dass fundamentale Transformationen nicht gesetzmäßig ablaufen und nicht durch einen geschichtsteleologischen Ansatz, der fraglos aus damaliger Sicht die „Welt von morgen“ erreichte, erklärt werden können. Zugleich haben wir gelernt, dass Transformationen unerwartet langfristige Folgen haben können, das heißt wir haben – zum Glück! – die Naivität der Epoche des Fortschrittsglaubens, zu der die Geschichtsteleologie eines Hegel oder Marx bestens passte, verloren.
[45] Der „Ersatz“ dafür ist die Grundlagenforschung, von der aber erwartet wird, dass sie uns zuverlässige Erkenntnisse über die beiden Zukunftsdimensionen liefert. Das verändert außerdem die Stellung von Grundlagenforschung in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit. Der Bedarf an ihr ist allgemein und öffentlich, sodass für die Vermittlung der Forschungsergebnisse weniger fachspezifische denn öffentliche Wege begangen werden müssen. Angesichts der immer kleinteiligeren Spezialisierungen stellt das eine ganz besondere Herausforderung dar. Wir kennen alle die schönen Schlagworte von „Science goes public“ oder „Third mission“ – aber es handelt sich nicht nur um Schlagworte, sondern sie benennen eine unabweisbare Forderung an Wissenschaft und Forschung. Die Öffentlichkeit als Adressat von Grundlagenforschung ist meines Erachtens dem traditionellen Adressaten, das jeweilige Fach selber und seine Forschung, mindestens gleichzustellen. Einem Grundlageninstitut sollte hier eine Schlüsselstellung zukommen.
[46] Da Zukunft nicht einfach Schicksal ist und vorgezogenen Entwicklungsbahnen folgt, sondern auch auf politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entscheidungen bzw. Absichten oder Ideologien beruht sowie von Zufällen und sich kurzfristig ergebenden aber wirkungsvollen Konstellationen abhängt, kann sich Grundlagenforschung, von der erwartet wird, dass sie entscheidend zum Begreifen der Zukunftsdimension beiträgt, nicht vor solchen Fragen drücken, die zum Gegenstand haben, was gewollt werden soll und was nicht.
[47] Die vielzitierte Unabhängigkeit der Grundlagenforschung von ganz bestimmten Zwecken kann nicht bedeuten, dass die ganz große zweite Frage, die Wegner formulierte, auf das knappe „Wo gehen wir hin?“ beschränkt bleibt: Das „Wo sollen wir hingehen?“ bzw. „Wo sollen wir nicht hingehen?“ gehört dazu, denn auf jede Art von Erkenntnis folgt der Moment, wo Entscheidungen zu treffen sind. Wenn in den Geisteswissenschaften in Österreich rund 80% der Forschung als Grundlagenforschung klassifiziert werden, muss sich die Sinnhaftigkeit dieser gewaltigen Forschungsmenge an ihrem Beitrag zu den großen Fragen messen lassen.
[48] Ob die Grundlagenforschung in unserer Fächergruppe darauf schon vorbereitet ist, wäre zu diskutieren. Wenn sie es ist, kann sie es beweisen, durch Grundlagenforschung an den laufenden Transformationen, in denen über die „Welt von morgen“ entschieden wird. Der Beweis wird am besten geführt werden können, wenn man sich der Frage nach dem „Wohin sollen wir gehen?“ zuwendet. Historisch ist dies eher eine politische Frage, eine Aufgabenstellung für Revolutionen oder für umfassende Reformpolitiken oder für Neuanfänge nach absoluten historischen Tiefpunkten wie 1945 gewesen. Ich will diese Frage aber eher, wie schon vorhin angedeutet, als Leitfrage der Grundlagenforschung verstehen.
[49] Wie müssen unsere Fächer strukturiert sein, um in der allgemeinen Grundlagenforschung wahrgenommen zu werden und um diese beeinflussen zu können? Diese Frage betrifft zweifellos den Aspekt der Interdisziplinarität. Diese wird zwar schon lange gefordert und gepriesen, aber alle, die es versuchen, wissen um die Schwierigkeiten in der Praxis und anschließend bei der Rezeption der Ergebnisse. Die Fächer haben sich zwar in Spezialfächer ausdifferenziert, was ihre interdisziplinäre Vernetzung erleichtern müsste, haben dabei aber eine erstaunliche Beharrungskraft bewiesen. Der Aspekt der Interdisziplinarität führt folglich sehr viel weiter, nämlich zur Infragestellung des Zuschnitts der Fächer. Das ist weniger fundamentalistisch gemeint, als es sich zunächst anhören mag, denn es geht um etwas Zusätzliches.
[50] Grundlagenforschung so dezidiert auf Zukunft und „Welt von morgen“ zu beziehen, wie ich es getan habe, ist nicht selbstverständlich, aber dessen ungeachtet nötig. Das verschiebt das Koordinatensystem von Forschung teilweise, denn im Vordergrund steht nicht, was Einzelfächer als Fach leisten, sondern was sie zu einer „multifaktoriellen Analyse“ beitragen können. Inwieweit die Fächer dabei Fächer bleiben können, müssen oder sollen, ist zu entscheiden.
[51] Einen anderen Aspekt, der der Diskussion bedarf, stellen die Voraussetzungen unserer Erkenntnis, sei es wissenschaftlich, sei es allgemein, dar. Ich habe bereits die digitale Konstruktion der Wirklichkeit erwähnt, die sich nicht nur auf die gegenwärtige Wirklichkeit und ihre Konstruktion bezieht, sondern auch auf die der Zukunft und der „Welt von morgen“. Je mehr wir diese digital konstruieren, desto wahrscheinlicher wird sie, das heißt, aus der fantasievollen Fiktion, die von mehr oder weniger plausiblen technischen Möglichkeiten ausgeht, wird eine digital konstruierte Welt.
[52] Wir werden trotz eines starken, wenn auch flacheren Anstiegs der Weltbevölkerung keine Siedlungen auf dem Mars oder weiter entfernten erdähnlichen Planeten haben, sondern wir werden Chips in uns tragen, die einem Großcomputer melden, welcher Nahrungsbedarf für exakt diesen Körper nach Norm des Welternährungsprogramms besteht, und exakt das wird dieser Körper bekommen, und nicht mehr. Kein Zuckerl obendrauf, damit es für alle reicht. Die Definition von „Menschenrecht“ wird sich wohl entscheidend verändern.
[53] Grundlagenforschung muss daher vorrangig die Transformation des Humanen, die durch die Vernetzung verschiedener Transformationen entsteht, erforschen. Welche Weichen sind wohin gestellt, welche müssen anders gestellt werden, welche sollten zusätzlich gestellt werden, wenn unsere Frage „Wohin sollen wir gehen?“ lautet?
[54] Vielleicht überschätzt das die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und ihrer Grundlagenforschung, aber abgesehen von Religion und Glauben, die nicht jedermanns Sache sind, haben wir als Letztbezug, auf den wir uns gründen können, nur die Wissenschaft und die Ethik.
Dokumentation:
Absätze [32] bis [34] wurden zuerst auf Englisch veröffentlicht: https://wolfgangschmale.eu/digital-construction-of-reality/
Der Blogeintrag entspricht im Wesentlichen dem Eröffnungsvortrag unter demselben Titel, zu: „Perspektivenwechsel“. Symposion des Instituts für Rechtswissenschaftliche Grundlagen, Karl-Franzens Universität Graz, 7.-8. Juni 2018.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Welt von morgen und die Grundlagenforschung heute. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/grundlagenforschung, Eintrag 07.06.2018 [Absatz Nr.].
[1] Forschung und Entwicklung.
[2] Frascati Handbuch OECD, dt. Ausgabe 2018, Kap. 2, S. 47-48.
[3] Ebd., S. 54.
[4] Wegner, Gerhard: Grundlagenforschung im deutschen Forschungssystem, in: Clemens Zintzen (Hg.): Die Zukunft der Grundlagenforschung (…), Mainz/Stuttgart 1999, S. 33-42, hier besonders S. 34-35.
[5] Klaus Mainzer, Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data, München 2014.
[6] Zum Thema „Zukunft“ in der Geschichtswissenschaft vgl. vor allem die Arbeiten von Lucian Hölscher. Hölscher, Lucian (1999): Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt; Ders. (Hg.) (2017): Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung. Frankfurt, New York. Zum Begriff „vergangene Zukunft“ s.: Koselleck, Reinhart (1979): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 1. Aufl. Frankfurt am Main (zahlreiche weitere Auflagen).
[7] Zum Hintergrund des Begriffs s. Kühnhardt, Ludger; Mayer, Tilman (Hg.) (2017): Bonner Enzyklopädie der Globalität. Springer-Verlag. Wiesbaden: Springer VS (Handbuch).
[8] Wolfgang Behringer, Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München 2015, Zitat aus dem Klappentext. 2018 erschien das Buch in 5. Auflage.
[9] Eine Mikroelektrodenanordnung (neurale Schnittstelle) wurde mit den medianen Nervenfasern im linken Arm von Warwick verbunden, der damit zwei externe Geräte (Rollstuhl und künstliche Hand) steuern konnte. Wenn zwei Menschen solche neuralen Schnittstellen implantiert werden, können diese darüber interagieren.