Der Beitrag von Yuqi Bai beschäftigt sich mit der politischen Einstellung der Internetbevölkerung Chinas und der Frage, ob das Internet als Medium der Demokratisierung funktioniert.
1 Einleitung
[1] Das Potential des Internets zur Förderung von demokratischen Werten sowie zur Pluralisierung von politischen Meinungen und Orientierungen ist spätestens seit den Ereignissen des „Arabischen Frühlings“ unumstritten.
[2] So waren sich viele westliche PolitikerInnen und ForscherInnen einig, dass eine fortschreitende Digitalisierung Chinas ebenfalls eine demokratische Zukunft in die Wege leiten und diese letztendlich das autoritäre System ersetzen wird.
[3] Dass die Prophezeiungen über den Sturz des autoritären Systems nicht erfüllt sind, liegt unter anderem daran, dass die digitale Sphäre einer strengen Zensur und einer starken Kontrolle durch die chinesische Regierung unterliegt.
[4] Filterungssysteme, welche Inhalte mit „empfindliche Begriffen“ oder unpässliche Bilder von der Veröffentlichung abhalten sollen, eine rekrutierte Gruppe an KommentatorInnen, die sogenannte „50cent-Armee“, sowie eine Internetpolizei sollen den digitalen Raum „sauber“ von ungewünschten politischen Einflüssen halten. Zusätzlich wird der Zugriff auf bestimmte ausländische Websites verhindert. Diese Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen auf dem Festland sind zusammengefasst unter dem Begriff der „Great Firewall of China“ (GFC) bekannt.
[5] Darüber hinaus üben politische Einstellungen und die Unterstützung der Bevölkerung für das politische System bedeutenden Einfluss auf die Stabilität der chinesischen Regierung aus.
2 Die politische Einstellung der chinesischen Internetbevölkerung
[6] Hat das Internet durch die starke Kontrolle und Steuerung durch die chinesischen Regierung sein Potential als Demokratisierungsmedium eingebüßt? Zur Beantwortung dieser Frage sollen zwei wissenschaftliche Studien von Yawen Lei und Shiru Wang herangezogen werden.
[7] In der Studie von Yawen Lei, welche in ihrem Paper „The Political Consequences of the Rise of the Internet: Political Beliefs and Practices of Chinese Netizens“ (2011) detailliert erläutert wird, hat sie sich mit der politischen Einstellung der chinesischen Bevölkerung auseinandergesetzt und diese in Verbindung mit verschiedenen Faktoren wie Ausbildungsgrad, Lohn, Gruppenzugehörigkeit, etc. näher analysiert.
[8] Sie teilt ihre 1.576 StudienteilnehmerInnen entsprechend ihrer politischen Einstellung in folgende Kategorien ein:
[9] „Politicized“: Personen, welche demokratisch orientiert sind, eher die Politik sowie die Partei hinterfragen und mit hoher Wahrscheinlichkeit an kollektiven Aktionen teilnehmen.
[10] „Conformist“: Personen mit moderater politischer Einstellung, welche grundsätzlich eine demokratische Orientierung aufweisen, aber mit der momentanen politischen Situation zufrieden sind und daher das Regime unterstützen.
[11] „Apathetic“: Personen, welche starken Regime- und Parteisupport aufweisen und sich von demokratischen Normen abwenden sowie dem kollektiven Aktivismus gegenüber feindlich eingestellt sind.
[12] Ein Großteil der InternetnutzerInnen (59,57%) fällt unter die Kategorie „Politicized“, was die These stützt, dass das Internet eine demokratische Orientierung fördert. Personen, welche nur mit traditionellen Medien in Kontakt kommen, gehören eher den „Conformists“ (47,25%) an, und es zeigt sich auch, dass jene, die keine Medien nutzen, eher starke Regime-UnterstützerInnen sind (55,38%). Daraus schließt Lei, dass InternetnutzerInnen viel wahrscheinlicher zur Gruppe „Politicized“ zugeordnet werden können als zu den anderen politischen Einstellungen.[1]
[13] Die aktuellere Studie von Shiru Wang (2017), welche 1.280 chinesische StudentInnen befragt hat, zeigt, dass die TeilnehmerInnen ebenfalls stark demokratischen Werten und Normen zustimmen: so sprechen sich beispielsweise fast 90 Prozent der befragten Studierenden für mehr Meinungsfreiheit im Internet sowie für unabhängige Medien und freie Berichterstattung aus. Die Ergebnisse stehen in direkter Verbindung mit der Nutzung des Internets, da politische Auffassungen und Werte im horizontalen Austausch mit anderen im digitalen Raum neu formiert werden können. Ein zusätzlicher Faktor ist die „Loslösung“ von politischen Kursen, welche an der Universität nicht mehr verpflichtend besucht werden müssen.[2]
3 Bildung als entscheidender Faktor in der politischen Orientierung
[14] Die Bildung beinflusst die politische Einstellung der BürgerInnen ebenfalls in bedeutendem Ausmaß.
[15] Die Stabilität und Legitimität eines politischen Systems und einer Ideologie gründen sich vor allem darauf, inwieweit die Bevölkerung eines Staates mit diesen und dem Handeln der Regierungsverantwortlichen einverstanden ist.
[16] Bildung hat sich in China seit jeher als effektivstes Instrument bei der Indoktrination von Ideologie gezeigt. Daher steht der Bildungsbereich seit den 1950er Jahren stark unter dem Einfluss der Partei: Die Lehrpläne zum politischen Unterricht werden gemeinsam von den zwei Ministerien für Propaganda und für Bildung erstellt, welche die Lerninhalte beginnend ab der Elementarstufe vorgeben. Auch an den Universitäten sind vier verpflichtende und mehrere frei wählbare Gegenstände zur politischen Bildung für StudentInnen vorgeschrieben, welche staatlich vorgegebene Werte vermitteln und die Unterstützung für das sozialistische und politische System in China festigen sollen.[3]
[17] Die Effektivität der politischen Bildung an chinesischen Lehranstalten wird in der Studie von Shiru Wang ersichtlich: Die StudienteilnehmerInnen zeigen unabhängig von ihrer hohen Zustimmung zu demokratischen Normen ebenfalls starken Support für das gegenwärtige Regime und die ihnen vermittelten sozialistischen Werte.
[18] Es ist nicht auszuschließen, dass die politisch korrekten Antworten ein Indiz für eine ‚automatisierte‘ Beantwortung der Fragen als Ergebnis jahrelanger propagandistischer Bildung interpretiert werden können.
[19] In Relation zu den Ergebnissen aus den Untersuchungen von Lei kann abgeleitet werden, dass der Support für das Regime und die Kommunistische Partei unangefochten sind und eine große Zustimmung zur politischen Linie in der chinesischen Bevölkerung vorherrscht.
4 Schlussbemerkungen
[20] Zwar erkennen wir durch die Studien, dass das Internet in China sehr wohl auch Potential zur Demokratisierung zeigt, aber das Ausmaß seines Einflusses auf einen eventuellen Regimewechsel wie beim „Arabischen Frühling“ ist bei Weitem nicht groß genug.
[21] Die Ergebnisse der Studie von Yawen Lei machen deutlich, dass mehr als zwei Drittel mit dem gegenwärtigen System zufrieden sind und/oder die Parteiherrschaft und die sozialistische Ideologie stark unterstützen.[4]
[22] Zusätzlich muss gesagt werden, dass Medien nur einen kleinen Teil der politischen Beeinflussung darstellen, zumal im Falle Chinas auch die starke Kontrolle über den öffentlichen Diskurs sowie den Informationsfluss beachtet werden muss.
[23] Eine stark pluralisierte Atmosphäre im digitalen Raum führt zum einen zur Ausbildung von demokratischen Werten, zum anderen kann sie auch pro-staatliche und parteifreundliche Stimmen fördern.[5]
[24] Entscheidend ist außerdem, dass das Internet von seinen chinesischen NutzerInnen eher zu Unterhaltungszwecken und weniger zur politischen Partizipation und Weiterbildung genutzt wird. Dementsprechend zeigen auch Propagandastrategien und Methoden der politischen Einflussnahme im Web 2.0 nur eingeschränkte Effektivität.
[25] Des Weiteren kann durch die Studien bestätigt werden, dass zwei sich scheinbar ausschließende Komponenten, die Unterstützung für den autoritären Staat und die Ein-Parteien-Herrschaft und die Zustimmung zu demokratischen Werten, gleichzeitig in einer politischen Meinung vertreten werden können.
[26] Das sozialistische China wird oft als Gegenteil zur westlichen Demokratie gesehen, jedoch weist Wang darauf hin, dass demokratische Normen im chinesischen Diskurs oft als „Heilmittel“ („cure“) gegen Machtmissbrauch und andere Regierungsprobleme verwendet werden.[6]
[27] Der Anstieg von politischen Partizipationsmöglichkeiten für die chinesische Bevölkerung, vor allem im Online-Sektor, ist ein Beleg für die Anpassung der chinesischen Regierungsobrigkeit an die durch die Digitalisierung aufgekommenen Herausforderungen.
Dokumentation:
Rongbin Han, Contesting Cyberspace In China. Online Expression And Authoritarian Resilience (New York 2018)
Yawen Lei, The Political Consequences Of The Rise Of The Internet: Political Beliefs And Practices Of Chinese Netizens. In: Political Communication 28, Nr.3, 04.08.2011, 291-322
Shiru Wang, Cyberdualism In China. The Political Implications Of Internet Exposure Of Educated Youth (London/New York 2017)
Info zur Autorin:
Yuqi Bai (BEd.) ist 23 Jahre alt und studiert Latein und Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung im Lehramt an der Universität Wien. Gleichzeitig studiert sie Sinologie.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Yuqi Bai: Politische Einstellung und Internetnutzung in China. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/internetnutzung-in-china, Eintrag 07.04.2021 [Absatz Nr.].
Abstract:
Der Beitrag von Yuqi Bai beschäftigt sich mit der politischen Einstellung der Internetbevölkerung Chinas und der Frage, ob das Internet als Medium der Demokratisierung funktioniert.
[1] Vgl. Yawen Lei, The Political Consequences Of The Rise Of The Internet: Political Beliefs And Practices Of Chinese Netizens. In: Political Communication 28, Nr.3, 04.08.2011, 304-306
[2] Vgl. Shiru Wang, Cyberdualism In China. The Political Implications Of Internet Exposure Of Educated Youth (London/New York 2017) 40, 54
[3] Vgl. Wang, Cyberdualism, 42, 64
[4] Vgl. Lei, The Political Consequences, 306
[5] Vgl. Rongbin Han, Contesting Cyberspace In China. Online Expression And Authoritarian Resilience (New York 2018) 3
[6] Vgl. Wang, Cyberdualism, 39-44