[1] Wenn in der Europäischen Union die Schwierigkeiten wachsen, bei einem Problem einen Kompromiss zu finden, erwacht regelmäßig die Diskussion um ein „Kerneuropa“ bzw. um ein Europa zweier Geschwindigkeiten – wie jetzt im Zusammenhang der Aufnahme von Flüchtlingen.
[2] Auf den ersten Blick scheint dies eine pragmatische Option zu sein. Nicht alle können immer alle dasselbe wollen, was auch immer die Gründe dafür ‚zuhause‘ sind. Faktisch existiert bereits ein EUropa mehrerer Geschwindigkeiten. Sichtbar ist es insbesondere beim Schengenabkommen und der Währungsunion, denn beiden Arbeitsfeldern gehören nicht alle EU-Mitglieder an, dem Schengenabkommen hingegen sind auch nicht-EU-Mitglieder beigetreten. Diese Handlungsoption eröffnet folglich auch nicht EU-Ländern eine vertiefende Kooperationsperspektive.
[3] Einigen Ländern wurden Ausnahmen vom EU-Vertrag (Lissabonner Vertrag) zugestanden, ausgerechnet in Bezug auf die Grundrechte-Charta etwa. Dieses faktische EUropa der zwei Geschwindigkeiten könnte auch wieder helfen, wenn es um die Veränderungswünsche des britischen Premiers geht. Dieser möchte allerdings den EU-Vertrag für alle ändern, nicht nur Ausnahmen für sein Land erreichen. Vorerst scheint er nicht auf die pragmatische Option verschiedener Geschwindigkeiten setzen zu wollen, weil die Zielsetzungen für alle dieselben bleiben, sie werden nur von den einen früher und von den anderen später erreicht.
[4] An diesem Punkt kommt die Idee eines „Kerneuropas“ ins Spiel, weil sie unterschiedliche Zielsetzungen zulassen würde. Die einen vertiefen die Gemeinschaft, wie es der EU-Vertrag will und vorschreibt, die anderen vertiefen nicht.
[5] Nicht zu vergessen ist die wichtigste und bisher meistens praktizierte Handlungsoption, nämlich alle dasselbe zu wollen und dazu einen Kompromiss zu erarbeiten. Dies hat oft und lange Zeit funktioniert, scheint aber aufgrund der „neuen europäischen Vielfalt“ an seine Grenzen gestoßen zu sein.
[6] Zweifellos hält die Union einiges aus. Man denke nur zurück an Charles de Gaulles „Politik des leeren Stuhls“ 1965/66. Er wollte eine Änderung der Finanzierungsgrundlagen der EWG und des Wechsels vom Einstimmigkeitsprinzips zur Mehrheitsentscheidung verhindern. Die EWG ist daran weder gescheitert noch zerbrochen, das Ganze endete mit einem Kompromiss, dem sog. Luxemburger Kompromiss.
[7] Prinzipiell ist es immer die Frage nach der Tiefe der Integration, die das Thema alternativer Handlungsoptionen auf den Tisch bringt. Prinzipiell ist bisher auch immer die Entscheidung für mehr Integration gefallen.
[8] Nun scheint aber eine Grenze erreicht worden zu sein. Vordergründig ist dies eine Folge des neuen Nationalismus, der seit Ausbruch der Finanzkrise, insbesondere aber seit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen (nicht erst 2015!) die Bühne beherrscht. Tatsächlich dürfte der eigentliche Grund aber darin zu suchen sein, dass sich das Ziel der Integration nicht mehr nur ‚innereuropäisch‘ verstehen lässt.
[9] In der öffentlichen Diskussion wird oft darauf verwiesen, dass nun die Globalisierung mit ihren negativen Auswirkungen in Europa zu spüren und zu bewältigen sei. Sicherlich ist es richtig, dass heute überall auch Faktoren aus der Globalisierung eine Rolle spielen, aber die Kriege und gewaltsamen Konflikte sowie der Terrorismus in der Großregion vom Nahen Osten über Nordafrika bis zum Atlantik haben regionale und lokale Ursachen. Die historische Zusammengehörigkeit Europas mit diesen Großregionen bedingt die neue Bedeutung der Zielvorstellung „Integration“.
[10] Integration in Europa kann nicht mehr nur ‚innereuropäisch‘ gedacht werden, sondern ist in dieser Weltregion (Europa, Türkei, Naher Osten, gesamtes Nordafrika) zu situieren und neu zu konzipieren.
[11] Macht es dann Sinn, über ein Kerneuropa zu spekulieren? Nein, dafür ist die Aufgabenstellung zu groß! Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten würde besser passen; die EU-Mitgliedsländer – die restlichen europäischen Nichtmitgliedsländer hätten hier nur ein zu vernachlässigendes Potenzial) –, die bereit sind, in der Flüchtlingsfrage die bisherigen Beschlüsse umzusetzen und sich gegenseitig zu unterstützen, sollen dies tun.
[12] Die meisten Flüchtlinge haben einen handfesten Mehrwert für das veraltete und undynamische Europa mit im Gepäck. Die Integration wird sich auszahlen, dazu braucht es nicht einmal eine moralische Argumentation.
[13] Es gibt viele andere Gründe, nicht mit der Schaffung eines Kerneuropa zu spekulieren. Kann denn heute abgesehen werden, ob gemeinsame Zielvorstellungen bei einigen EU-Ländern in der Flüchtlingsfrage weiter tragen werden als nur in dieser Frage? Denn das bräuchte es, wenn ein Kerneuropa Sinn machen sollte.
[14] Der Fall ist es nicht! Nach wie vor liegen die Ansichten zum Beispiel über die richtige Budgetpolitik weit auseinander. Frankreich steht weder in dieser Frage noch in der Flüchtlingsfrage auf derselben Plattform wie Deutschland; und Italien steht wiederum auf einer anderen; usw.
[15] Freilich könnte man die Änderungswünsche (ich sehe nicht, dass der Begriff „Reform“ hier adäquat wäre) des britischen Premiers zum Anlass nehmen, die Grundsatzfrage zu stellen, wer die Vertiefung der Integration, auch in ihrer neuen Bedeutung, die sie in der Weltregion, zu der Europa gehört, erhält, auf der Grundlage des Wortlauts des Lissabonner Vertrags fortsetzen möchte, und wer nicht. Dann würden die einen die EU fortsetzen, und die anderen würden sich zu einer etwas aufgepeppten EFTA-2016 (EFTA=European Free Trade Association) zusammenfinden. Wir haben doch schon viele Europas: Das des Europarats, das der EU, das der Nichtmitglieder der EU, das der OSZE, das der NATO…
Dokumentation:
Meiner Wiener Kollegin Christa Hämmerle danke ich für die Überlassung des Fotos, das die Baustelle Europaviertel in Brüssel im Herbst 2015 zeigt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Kerneuropa oder EFTA-2016. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/kerneuropa, Eintrag 30.01.2016 [Absatz Nr.].