[1] Bedroht der IS-Terrorismus die europäische Ausprägung von Kultur? Oder wird dem Terrorismus mehr kulturelle Bedeutung beigemessen als es zutreffend wäre, wenn solche Fragen gestellt werden?
[2] Samuel P. Huntington hat mit seiner griffigen Formulierung vom „Kampf der Kulturen“ (Aufsatz zunächst 1993 in Foreign Affairs) (Buch englisch 1996; deutsch 1997) einen Topos in die Welt gesetzt, an den auch derzeit unwillkürlich gedacht wird, obwohl er aus verschiedenen Gründen den Sachverhalt, mit dem wir es zu tun haben, nicht trifft.
[3] Hinter keiner Ausprägung von Terrorismus seit den 1970er-Jahren stand so etwas wie Kultur. Es handelt sich nicht um einen gegenwartsgeschichtlichen Fall von kulturellem Imperialismus, der mit SelbstmordattentäterInnen, Kalaschnikows und Bomben vorangetrieben würde. Faktisch ist der Terrorismus von IS, Al Kaida, Boko Haram und den vielen anderen Gruppierungen jedes kulturell sinnvollen Inhalts entleert.
[4] Ideelle Ressourcen gibt es dort nicht, die Berufung auf den Koran missbraucht den Islam. Es gibt materielle Ressourcen wie Waffen, Schmuggel, Diebstahl, Korruption mit staatlichen Stellen, die der Ausübung von Gewalt dienen.
[5] Ohne Zweifel spielen kulturelle Entwurzelungen bei der Rekrutierung von Terroristen eine Rolle, mehr sogar als soziale Entwurzelungen, denn weder sind die AttentäterInnen noch die Personen, die sie steuern, ihrer familiären und sonstigen sozialen Umfelder und Netzwerke entledigt, noch ist es einfach ein ökonomisches Abseits, das Menschen zu Terroristen macht. Teilweise wird das familiäre Umfeld durch ein soziales Umfeld Gleichgesinnter und Radikalisierter ersetzt, das heißt aber auch, dass eine bestimmte soziale Kompetenz fortbesteht.
[6] Kultur ist Ausdruck von kollektiver/gesellschaftlicher Produktion von Sinn und Bedeutung. Damit dies überhaupt gelingt, müssen die Instrumente der Ausübung von Macht sowie die Rolle von Gewalt in der Gesellschaft begrenzt und in der Praxis so eingedämmt sein, dass sich sozial-konstruktive kulturelle Dynamiken entwickeln können. In vielen Ländern des Nahen Ostens sowie der nördlichen Hälfte Afrikas sind diese Voraussetzungen schon lange nicht mehr gegeben.
[7] Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Der europäische Kolonialismus mit seinem nicht zuletzt kulturellen Imperialismus trägt dabei Verantwortung, mehr aber wohl noch das ‚post-koloniale‘ Desinteresse der ehemaligen Kolonialmächte an stabilen Staaten in den früheren Kolonialgebieten. In den meisten dieser Länder besaßen die Eliten eine deutliche europäisch-kulturelle Prägung, die anfangs praxiswirksam gewesen war. Das ist längst Geschichte.
[8] Europa und die USA haben politisches, ökonomisches und unmoralisches Fehlverhalten kumuliert. Das erklärt einiges, aber nicht alles und keineswegs einfach den Terrorismus.
[9] Man könnte jetzt die Länder einzeln durchgehen: Hat Afghanistan noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Hat Syrien noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Hat der Irak noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Hat Ägypten noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Hat Libyen noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Haben Tunesien, Algerien und Marokko noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von anderen? Hat die Türkei noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Hat Russland noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen? Hat Europa noch eine Kultur, charakteristisch unterscheidbar von einer anderen?
[10] Bleiben wir bei der allerletzten Frage. Eigentlich sollte die Antwort leicht fallen und in einem „ja“ bestehen können, aber so einfach ist es nicht. Wenn die Bezeichnung „europäische Kultur“ zutreffen soll, bedarf es eines Mindestmaßes an kultureller Einheit. Ob Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und anderes – diese sind im Sinne der Produktion von Sinn und Bedeutung Ausdruck von Kultur. Der Blick auf die Politik ist zugleich ein Blick auf die Kultur.
[11] Einheit und Solidarität werden angesichts der seit einem Jahr dicht aufeinanderfolgenden Attentate laufend beschworen. Erstaunt und entsetzt muss man zur Kenntnis nehmen, dass die europäischen nationalen Geheimdienste zwar gegenseitig SpitzenpolitikerInnen abhören, aber ein geregelter Datenfluss zur Verhinderung und Aufklärung von Terror nicht besteht, trotz aller Lippenbekenntnisse und aller Initiativen, die zwar gemeinsam verabschiedet werden, an die sich dann aber – in Bezug auf das EU-Europa – nur die wenigsten halten.
[12] Solidarität scheint inzwischen ein sinnentleertes Wort zu sein, da es nicht gelingt, daraus ein praktisches Verhalten im Miteinander zu machen. Solidarität bedeutet nicht nur, sich gegenseitig zu helfen, sondern auch, im eigenen Land Missstände und Fehlentwicklungen abzustellen, um, erstens, erforderlichenfalls selber solidarisch sein zu können und um, zweitens, Solidarität nicht deshalb verlangen zu müssen, weil die mit dem Solidaritätsprinzip verbundenen Selbstverpflichtungen, Missstände und Fehlentwicklungen abzustellen, als nur für Andere gültig interpretiert wurden.
[13] Die Verantwortung liegt in der Selbstkultivierung, also in einer Verhaltensweise, die begriffsgeschichtlich in Europa wesentlich zum Kulturbegriff überhaupt gehört. Die politische Selbstkultivierung wird in etlichen europäischen Staaten teils schon seit ein paar Jahren (Ungarn, Russland), teils neuerdings (das Polen der PiS) ausgesetzt. Andere Staaten sind auf dem Weg dahin, weil sie sich gegenüber Problemlösungen wie im Fall der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen abschotten.
[14] An der Flüchtlingsfrage lässt sich studieren, ob es noch eine europäische Kultur gibt oder der Zerfall in national-regressive Varianten schon stärker ist. Es ist durchaus verstanden worden, dass der Umgang mit Flüchtlingen in Europa nicht so aussehen kann, dass diese in riesigen Lagern wie in den Nachbarstaaten Syriens ‚untergebracht‘ werden, sondern dass sie Integrationsangebote erhalten müssen.
[15] Integration setzt eine dynamisch-intakte Kultur voraus. Ist das der Fall, gelingt Integration. Sich im Sinne der Selbstkultivierung zur Integration von Flüchtlingen zu verpflichten, hält Kultur intakt und dynamisch. Kultur ist immer offen, hält nicht still, verändert sich, transferiert und lässt Transfers zu. Abschottung ist das Gegenteil von all dem und führt zu kulturellem Austrocknen.
[16] Terrorakte machen Menschen außerhalb Europas zu Flüchtlingen. Terrorakte in Europa sollen Angst schüren, Abschottungsreflexe aktivieren und die Aushebelung rechtsstaatlicher Prinzipien provozieren. Die humanitären, sozialen und kulturgeschichtlichen Verflechtungen zwischen Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika sollen zerrissen werden.
[17] Zweifellos muss der aktuelle Terrorismus als Angriff auf die europäische Kultur verstanden werden. Das heißt noch nicht, dass er diese tatsächlich bedroht. Das wird der Fall dann sein, wenn an die Stelle der Selbstkultivierung als essentiellem kulturellem Agens die Abschottung tritt. Abschottung und Kultur schließen sich gegenseitig aus.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Europäische Kultur und der Terrorismus. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/kultur-und-terrorismus, Eintrag 26.03.2016 [Absatz Nr.].