[1] Der 17. Jänner 2017 war ein denkwürdiger Tag – ein Tag zukunftsbestimmender Sprechakte und einer Wahl – für Europa und die Welt: Um 9h begann im Europaparlament die Wahl des neuen Parlamentspräsidenten und erbrachte nach rund zwölf Stunden ein Ergebnis. Um 10h verkündete das deutsche Bundesverfassungsgericht sein Urteil in Sachen NPD. Wenig später hielt der chinesische Staatspräsident Xi Jinping die Eröffnungsrede zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Um 12.45 begann die britische Premierministerin ihre Brexit-Rede.
[2] Die Ergebnisse dieser drei Sprechakte und der Wahl lassen sich wie folgt resümieren: Das Bundesverfassungsgericht hat die NPD nicht verboten, ihr aber klar Verfassungsfeindlichkeit bescheinigt. Der chinesische Staatspräsident plädiert für den freien Welthandel und besetzt die Lücke, die Donald Trump schon vor Amtsantritt geschaffen hat. Die britische Premierministerin skizziert den harten Brexit und bringt einen eiskalten Nationalismus auf den Punkt. Das Europäische Parlament wählt mit Antonio Tajani einen Berlusconi-Mann zum Präsidenten, der Martin Schulz ablöst, den wiederum am 2. Juli 2013 der damalige italienische Regierungschef Berlusconi in gezielter Beleidigung für die Rolle des Konzentrationslagerkommandanten in einem in Produktion befindlichen italienischen Film vorgeschlagen hatte.
[3] Das Bundesverfassungsgericht stufte die NPD als zu unbedeutend ein, um trotz eindeutig festgestellter Verfassungsfeindlichkeit und Nähe zum Nationalsozialismus ein Verbot auszusprechen. Anders ausgedrückt: Das Gericht hält die deutsche Demokratie für stabil und gefestigt genug, eine solche Partei und ihre Umtriebe auszuhalten, es sieht diese Demokratie als hinreichend stark an. Das Urteil und seine zweistündige Begründung sind ausgewogen und nachvollziehbar.
[4] Erneut hat sich das Gericht als Fels, auf dem die deutsche Demokratie gebaut ist, erwiesen. Das hat nicht nur für Deutschland Bedeutung. Es sollte der PiS in Polen und der Fidesz in Ungarn zu denken geben.
[5] Ob man den chinesischen Staatspräsidenten wörtlich nehmen soll, ist mit heutigem Tag noch nicht zu sagen, aber er hat sich zu wichtigen Prinzipien global wirksamer Offenheit bekannt. Die etwas früher erfolgte Hinwendung zu den Klimaschutzzielen verleiht den Ausführungen vom 17.1.2017 Glaubwürdigkeit. Da Trump bereit scheint, viel politisches Kapital der USA zu verzocken, wird China eine zentrale globale Rolle zufallen. China steht bereit und scheint klug vorbereitet. Wird China die USA als Partner der EU ablösen?!
[6] Theresa May hatte also am 17.1.2017 ihren „May-Day“, wie es sich sogleich als Wortspiel in der Öffentlichkeit etabliert hat: Die Rede strotzte vor Reminiszenzen an britisch-imperiale Träume von einer vergangenen Zeit. Intellektuell stehen May und ihre Regierung auf dem Stand der Europaidee von Churchill in der 2. Hälfte der 1940er-Jahre. Churchill hat viel zur Popularisierung der Europaidee beigetragen, aber mehr als den Europarat strebte er nie an. Das hat sich schnell als überholt und nicht ausreichend verwiesen, sodass es zur EU kam. May’s hohle Formeln nach dem Motto, ‚Vereinigtes Königreich – das beste Land der Welt‘ – klingen wie das laute Rufen im Wald, um sich selber die Furcht auszutreiben.
[7] May betrieb über mehrere Sprechminuten eine insulare Nabelschau des Vereinigten Königreichs (=VK) in einer Rhetorik, als handele es sich um ein Riesenreich („VK und der Rest der Welt“, „globale Handelsnation“). Ein wenig frappiert die Geschichtsblindheit, schließlich sind das 18. und 19. Jahrhundert sogar für das VK vorbei.
[8] May stellt die Aushandlung vieler Freihandelsabkommen in Aussicht. Wie schwer diese sind, haben CETA und das sicher gescheiterte TTIP gezeigt. Schon das Abkommen mit der EU wird viele Kräfte bündeln; dass die britische Regierung hier wohl naiv ist, wurde schon mehrfach festgestellt.
[9] May versäumte daher nicht zu sagen, dass ein (zu den nationalen Prioritäten passender) Teil des acquis communautaire, des europäischen Rechts, auch im VK beibehalten werden wird, aber das zu schließende Abkommen wird sich nicht auf die Vergangenheit beziehen, sondern auf die Zukunft. Und die heißt Wandel und ständige Anpassung.
[10] Trump, auf den May setzt, hat sich bezüglich Freihandel sowohl dafür wie dagegen ausgesprochen. Zweifellos wird er gerne einen „Deal“ mit dem VK machen – aber zumindest intentional nach seinen Bedingungen, die womöglich nicht die des VK sein werden.
[11] Die Rede leugnet implizit vollständig irgendwelche positiven Auswirkungen der über vierzigjährigen Mitgliedschaft des VK in der EU. Offenbar denken May und ihre Regierung, dass alles, was aufs britische Habenkonto gelangt ist, aus der Vergangenheit von vor 1973 stammt und nun ohne die Last der EU-Mitgliedschaft endlich wieder Zinsen abwerfen wird. Trotz freundschaftlicher Rhetorik strotzt die Rede vor Zynismus.
[12] Der heimliche Leitgedanke: Keine Solidarität mit anderen, nur das, was vermeintlich dem Land alleine nützt, ist zuzulassen. Unmissverständlicher und eiskälter ist Nationalismus schon lange nicht mehr öffentlich definiert worden. (Immerhin intelligenter als das was Orbán und Kaczynski und Co. von sich geben.) Einzige Richtlinie May’s ist wörtlich „nationales Interesse“. Die „besten Kräfte und Köpfe“ aus aller Welt ins VK holen: Chimären, das wollen viele andere Staaten auch. Und so viele „beste Kräfte und Köpfe“ gibt es dann auch wieder nicht, dass es für alle reichen würde. Abgesehen davon, dass diese nur kommen, wenn das VK selber beste Kräfte und Köpfe durch sein Ausbildungs- und Universitätssystem produziert, dem in Zukunft nicht nur der vierstellige Millionenbetrag aus der EU-Kasse fehlen wird, sondern auch die nun vergeblich aufgebaute Kompetenz als Wissenschaftsakteur.
[13] Zuzustimmen ist May, dass die Trennung freundschaftlich erfolgen soll und muss. Die Betonung des freundschaftlichen Geistes und der Absicht, durch den Austritt aus der EU niemandem schaden zu wollen, sind glaubwürdig, denn die untergriffige Feindseligkeit Orbáns und Kaczynskis ist May und ihrer Regierung nicht zu eigen. Aber was den zweiten Punkt angeht, niemandem schaden zu wollen, dies ist höflich ausgedrückt illusorisch. Der Austritt wird schaden, es ist derweil unklar, wem und wem am meisten.
[14] Das Wort „Solidarität“ kommt in der Rede nicht vor. Solidarität gehört nicht zur politischen Philosophie der britischen Regierung und wohl auch nicht zum VK. Die EU ist bei aller Kritik und vergeblicher Apelle an Solidaritätsübung z.B. in der Flüchtlingsfrage institutionalisierte europäische Solidarität.
[15] Der Brexit weckt Assoziationen an die Zwischenkriegszeit, als sich das Vereinigte Königreich mit dem Vorwurf auseinandersetzen musste, den Völkerbund nur nach dem eigenen Bild formen zu wollen, das heißt, nur die Interessen des British Empire im Blick zu haben. Das bevorzugte Instrument waren bilaterale Verträge, es entstand, wie Henry de Jouvenel es damals formulierte, eine „guerre des pactes“.
[16] Großbritannien besinnt sich auf diese längst ad absurdum geführte politische Technik und hat in Donald Trump einen Partner gefunden. Es wiederholt denselben Fehler, den viele Staaten im späteren 19. Jahrhundert und dann in der Zwischenkriegszeit gemacht haben, was zur Unwirksamkeit des Völkerbundes beitrug. Das System bilateraler oder manchmal trilateraler (etc.) Verträge führte dazu, dass sich die Staaten zum vermeintlichen nationalen Vorteil gegenseitig ausspielten. Der Rückfall in diese Politik muss möglichst unterbunden werden.
[17] Ein Freihandelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU infolge des Brexit ist, so wie die Situation nun ist, sinnvoll, auch wenn das nichts daran ändert, dass die sogenannten Volkswirtschaften längst keine Volkswirtschaften mehr sind, sondern Teil einer europäischen und oft auch noch größeren Verflechtung, für die nicht nur der freie Waren- und Kapitalverkehr, sondern auch die Personenfreizügigkeit, speziell die Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit wesentlich ist.
[18] Vereinigtes Königreich und USA beschreiten gemeinsam einen Weg des Protektionismus, der die Frage sozialer Gerechtigkeit nochmals verschärfen und infolge dessen den Migrationsdruck erhöhen wird. Wenn amerikanische, japanische und europäische Autokonzerne in Mexiko investieren, verringert dies allein in begrenztem Umfang den Migrationsdruck, vor allem in Richtung USA.
[19] Wachsender Wohlstand in Mexiko – wir reden von bescheidenen Dimensionen – ist das beste Mittel, den Migrationsdruck abzusenken. Das gilt sinngemäß in Mexiko wie in Afrika. Mauern, hohe Stacheldrahtzäune oder Meere sind keine Hindernisse, wie wir es tagtäglich erleben. Für Trump spielt die soziale Not in anderen Ländern überhaupt keine Rolle. Dass soziale Gerechtigkeit keine national, sondern nur global zu lösende Frage ist, hat er nicht verstanden. Aber es interessiert ihn nicht.
[20] Damit sind wir bei der Humanität, die (nicht erst und nicht nur) in der Zwischenkriegszeit ein Schlüsselwort für alle pazifistischen und demokratischen Kräfte darstellte. Humanität wurde universal gedacht und als Voraussetzung für einen nachhaltigen Frieden erachtet. Der humanitäre Idealismus schloss Rassismus, Antisemitismus, Aufrüstung, nationalen Egoismus, ökonomische Dominanz auf Kosten anderer, autoritäre Politiksysteme und vieles mehr aus. Seit dem Jahr 2016 verstärkt sich das Gefühl, dass die Prinzipien rücksichtsloser Politik, die in der Zwischenkriegszeit das Feld für den nächsten großen Krieg bereiteten, erneut zu Adelstiteln gelangen.
[21] Das große Verdienst (nicht nur) der europäischen Institutionen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war und ist es, den Umgang der Nationalstaaten miteinander transparenter und offener gemacht zu haben, gemeinsame Prinzipien institutionell und juristisch abzusichern, damit sie nicht von jeder emotionalen Welle sofort weggespült werden wie bis 1945.
[22] Alle Argumente, die schon vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg zugunsten sei es eines Völkerbundes, sei es der Vereinigten Staaten von Europa, zugunsten von Abrüstung, von europäischem Binnenmarkt, gegen Abschottung und Protektionismus etc. etc. immer und wieder von den zahllosen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen vorgebracht wurden, müssen im Jahr 2017 allesamt mit Nachdruck wieder angeführt werden. Zu viele haben nichts dazugelernt. Wie ich im letzten Blogeintrag vom 29.12.2016 schrieb, ist das 20. Jahrhundert noch nicht zu Ende.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: May-Day: Europa zwischen Zukunft und Rückfall in die Zwischenkriegszeit. 17. Januar 2017 – ein Tag zukunftsbestimmender Wahl- und Sprechakte. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/may-day, Eintrag 17.01.2017 [Absatz Nr.].