I – Starttext
[1] Im Lauf eines Lebens sammeln sich viele Gegenstände im Haushalt an. Einiges kommt und geht wieder, weil es kaputt ist, zu abgenutzt oder überflüssig. Anderes bleibt. Weil es schon immer ein Erinnerungsstück gewesen ist oder weil es eines wurde. Weil es einen gewissen ästhetischen und materiellen Wert hat. Weil es ein Familienerbstück ist. Weil der Beruf es mit sich bringt. Weil die Freizeit, wie Reisen, es mit sich bringt. Weil es Geschenke sind.
[2] Auch in einem kleinen Haushalt finden sich Hunderte, meistens über Tausend Gegenstände. In einem größeren sind es schnell mehrere Tausend. Jeder Gegenstand beinhaltet auch eine Geschichte. Er wurde gefertigt, das heißt, es steckt Fertigungsknowhow darin. Das kann Massenproduktion sein, das kann handwerklich sein, das kann selbst gemacht sein, das kann Kunst sein. Es kann eine Tradition in sich tragen, es kann auf Innovation beruhen. Das Objekt wurde in einer Situation gefertigt, es wurde erworben oder gefunden oder geschenkt oder vererbt. Es hat Wege hinter sich gebracht, vielleicht aus China.
[3] Jedes Objekt hat seine ganz ‚persönliche‘ Geschichte, ob diese nun aufregend oder völlig unspektakulär ist. Es ist immer Teil einer größeren weiteren Geschichte – und es verbindet mich mit dieser Geschichte.
[4] Ob es nun ein Küchenmesser, Eierlöffel, eine Teetasse oder ein Buch oder ein Bild oder eine Münze oder ein Schmuckstück ist, die exakte Position in der persönlichen Wertschätzungshierarchie der Besitzerin oder des Besitzers – weit oben, weit unten, irgendwo mittendrin – ändert nichts an der Geschichtlichkeit eines jeden Gegenstandes.
[5] Diese Geschichtlichkeit hat zwei Formen. Zum einen ist sie untrennbar mit dem Gegenstand verbunden, weil sie z. B. im Fertigungsknowhow oder in der Fertigungssituation steckt. Zum anderen ist sie individuell mit mir als Besitzerin oder Besitzer verbunden: Wann, wieso und wodurch kam der Gegenstand ausgerechnet zu mir?
[6] Die erste Form von Geschichtlichkeit macht man sich im Alltag eher selten bewusst, am ehesten bei höherwertigeren Objekten. Eine Zeitung oder ein Buch kann ich lesen, ohne mir die Geschichte, wie das Papier nach Europa kam, vergegenwärtigen zu müssen. Aber würde man sie sich bewusst machen, würde man ins historische Universum gelangen. Dass ich mich in der genannten Lesesituation finde oder finden kann, wenn ich will, wäre ohne diese Geschichte des Papiers nicht denkbar – und schon bin ich Träger und Aktivist einer über Tausend Jahre alten Geschichte, die in China einmal begann. Dass ich heute digital lesen kann ohne Papier ist höchstwahrscheinlich trotzdem nur deshalb möglich geworden, weil es Papier als Werkstoff und natürlich die Druckerpresse gab. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
[7] Die zweite Form von Geschichtlichkeit macht man sich eher bewusst, vor allem bei im engeren Wortsinn persönlichen Gegenständen. Was das für welche sind, ist völlig verschieden und variiert mit jedem einzelnen Menschen. Diese zweite Form der Geschichtlichkeit hat mit mir, mit meiner Person, mit meinem Leben zu tun, sie besitzt eine autobiografische Anmutung. Und deshalb interessieren sich viele Menschen dann oft für beide Formen von Geschichtlichkeit, die in einem Gegenstand enthalten sind.
[8] Ich kann mir sehr viel von der europäischen Geschichte durch meine eigenen Gegenstände erschließen. Nicht nur die europäische, oft steckt Globalgeschichte dahinter. Gegenstände mit starkem lokalen oder regionalen oder nationalen Bezug sind meistens trotzdem aufgrund der ihnen innewohnenden Geschichtlichkeit Teil einer europäischen oder darüber hinausreichenden Geschichte.
[9] Ich mache mir also eines Tages bewusst, dass ich in einem, nämlich meinem, Haushalt voller Geschichte lebe und meine Gegenstände mich in den Hypertext europäischer und weiterer Geschichte einbinden. Vor meinem inneren Auge beginne ich mir Objekte aus meinem Haushalt vorzustellen, die einen Bezug speziell zur europäischen Geschichte besitzen.
[10] Am Anfang ist es ein Gewirr. Gegenstände, die ich selber meinem Haushalt zugefügt habe. Manche, da war ich noch Schüler – ich erwarb 1974 auf unserer letzten Klassenreise bei einem Antiquar in Freiburg eine zeitgenössische Ausgabe mit Theaterstücken von Louis de Boissy. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer das gewesen war, aber es war Französisch (meine Lieblingssprache), es war 18. Jahrhundert (mein bevorzugtes Jahrhundert), es war ein für die Zeit typischer Halbledereinband mit Goldprägung, schönes Papier, schöne Typografie. Das war mir 12 D-Mark wert. Es war eines meiner ersten ‚alten Bücher‘, es weckt Erinnerungen in mir, wenn ich es in die Hand nehme. An die Mitte der 1970er Jahre, an die Erfahrung, sich ein winziges Stück des Frankreichs des 18. Jahrhunderts ins Zimmer stellen zu können und dadurch eine kleine Verbindung zu haben.
[11] Boissy war Mitglied der Académie Française, zu Lebzeiten wurde er viel gespielt. Der Band wurde 1758 gedruckt, sein Todesjahr, oder sagen wir: mitten im Siebenjährigen Krieg, als Frankreich viele Kolonien an Britannien verlor. Ich könnte jetzt zum Jahr 1758 ausschweifen, was ist da alles passiert? Zum Beispiel wurde Marie Lavoisier geboren, die eine berühmte Chemikerin werden sollte. Und schon bin ich in der Frauen- und Geschlechtergeschichte oder in der Wissenschaftsgeschichte oder bei den französischen Salons…
[12] Ich könnte jetzt weiter in die europäische Geschichte ausschweifen, zur Académie Française, die als Modell auf Europa ausstrahlte, zur Frage, ob die Académie ein Akteur der Aufklärung im 18. Jahrhundert war oder nicht.
[13] Ich könnte der Frage nachzugehen versuchen, wie dieses Buch mit Theaterstücken von 1758 zu dem Freiburger Antiquar kam, welche Wege hatte es hinter sich, war es schon im 18. Jahrhundert zu einem Freiburger Bürger gelangt, wer hat es vielleicht in den Händen gehalten? Es einem konkreten Menschen um 1750 oder 1760 zuordnen wäre schwierig, da es kein ex libris oder handschriftlichen Namenseintrag gibt, aber buchhandelsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Forschungen würden es zulassen, die historische Situation plausibel zu rekonstruieren, wie es möglicherweise gewesen ist. Das Buch weist deutliche Benutzungsspuren auf, weshalb sein materieller Wert sehr gering ist, sein geschichtlicher bleibt davon unberührt.
[14] Ich könnte Dutzende von historischen Wegen benennen, die von dem vergleichsweise simplen und in Geld gemessen wertlosen Gegenstand ausgehen. Sie sind autobiografisch und sie sind allgemein historisch. Um mich über den technischen Stand des Buchdrucks und des Buchbinders um 1750/1760 zu informieren, könnte ich zur zeitgleich erscheinenden Encyclopédie von d’Alambert und Diderot greifen, das heißt, sie im Internet aufrufen oder in eine Bibliothek gehen. Der simple Gegenstand hat mich schon zum europäischen Modell der Académie Française geführt, er führt mich zum europäischen Großmodell DER Encyclopédie.
[15] Er führt mich außerdem nach Amsterdam und Berlin, zum italienischen Theater und nicht nur zum französischen – und noch habe ich nicht ein einziges Wort, außer dem Titelblatt, gelesen…
[16] Leichtes Spiel! Ein Buch! Könnte man sagen. Ja, es stimmt. Aber Bücher hat jede/r, und jedes Buch führt in viele Richtungen. Und hier ist es nur ein erstes Beispiel, wie ich meine Gegenstände AUCH betrachten kann.
[17] Für das Europäische Kulturerbejahr 2018 habe ich mir vorgenommen, europäischer Geschichte anhand privater Gegenstände aus meinem Haushalt nachzugehen. Ich werde ganz durcheinander vorgehen: Ich werde an irgendeinem Gegenstand vorbeigehen, oder irgendeinen Schrank öffnen und etwas herausnehmen, es mir vornehmen und seinen zwei Formen der Geschichtlichkeit nachgehen – Europa immer im Blick.
[18] Was wird das? Ich weiß, was es wird – eine subjektive autobiografische Geschichte Europas.
[19] Es soll aber nicht allein meine bleiben. Je mehr mitmachen, desto besser!
[20] Wie kann man mitmachen? Kontaktaufnahme bitte über die Kommentarfunktion des Blogs.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mein Haushalt voller europäischer Geschichte – Geschichte Europas anhand privater Gegenstände. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/mein-haushalt-voller-europäischer-geschichte-1, Eintrag 21.11.2017 [Absatz Nr.].
Lieber Herr Schmale,
das ist eine tolle Idee, die Sie hier verfolgen, und ich möchte mich auch mit einer sehr kurzen Geschichte beteiligen. Es geht dabei weniger um meinen ganz konkreten Haushalt (das wohl auch), aber vor allem um meinen privaten „Kulturhaushalt“ Europas, nämlich in der Popkultur. Ich bin seit etwas über zwei Jahrzehnten ziemlich tief in die Subkultur von Heavy Metal-Musik eingewoben – als Konsument, Konzertbesucher, Hobby-Plattenkritiker und -interviewer. Die „Welt“ von Heavy Metal ist eine sehr eigene und auch ambivalente. Es geht oft darum, Grenzen zu verschieben im Sinne der Nonkonformität einer Subkultur, aber zugleich werden – zuweilen offen – Männlichkeits- und Weiblichkeitsstereotype in sehr konservativr Form konstruiert.
Nun zu meiner Europa-Geschichte hierzu: Eine der erfolgreichsten Bands der 1980er-Jahre (Manowar) hatte um das Jahr 1986 ihren Durchbruch; sie gingen in diesem Jahr erstmals auf Headliner-Tour, spielten also als Hauptact. Diese Geschichte gipfelt im Titel, die dieser Europa-Tour gegeben wurde, nämlich „Hail to Europe„. Kurz, in dieser Tourgeschichte, als Teil meines biographischen kulturgeschichtlichtlichen Geisteshaushalts, machte sich die US-amerikanische Truppe Manowar im Sinne von „Hail to Europe“ auf, über ihre Musik Europa als Raum, Narrativ und Bild zu erschließen. Dies ist vollkommen subjektiv, aber eben auch eine private Geschichte Europas. Hier ist ein Bild der Visualisierung von „Hail to Europe“, nämlich von dem T-Shirt als materialem Kleiderobjekt, das die Tour begleitete.
Lieber Herr Schmale!
Sie haben großes vor! Ob es zusammenhängende Ergebnisse geben wird? Jedenfalls viel Exemplarisches, an dem sich Stories anknüpfen lassen, Blitzlichter in interessante und kuriose Cases der Vergangenheit.
Macht´s Sinn, zu kooperieren? Ev. die Objekte einfach in einer Topothek auffindbar zu machen? Schauen Sie in unser internationales Projekt rein, die Technik lässt sich gut multiplizieren.
Mit lieben Grüßen, Alexander Schatek
Lieber Herr Schatek,
das ist ein guter Hinweis – vielen Dank! Ich werde mir die Topotheken noch genauer anschauen.
Liebe Grüße, Wolfgang Schmale