[1] 1974 war ich zum ersten Mal in Paris. Notre-Dame habe ich natürlich besichtigt. Seitdem ist kaum ein Jahr vergangen, das mich nicht auch nach Paris geführt hätte. Für einen Spaziergang, der auch zu Notre-Dame führte, war immer Zeit.
[2] Immer waren viele Menschen da, auf dem Platz vor der Kirche, im Garten rund um die Kathedrale. Andere wollten den Nordturm besteigen. Immer viele Künstler*innen, bessere und schlechtere, kitschige, authentische.
[3] Mal ließ ich die Parisexkursion auf den Spuren der Französischen Revolution an Notre-Dame enden. Mal stand für einige Zeit auf dem Vorplatz eine Tribüne, von der aus die Portale sehr gut betrachtet werden konnten.
[4] Innen ist Notre-Dame relativ dunkel. Kein Vergleich mit vielen ihrer lichtdurchfluteten Schwestern wie der Kathedrale von León in Spanien. Kein Vergleich mit der großartigen Fassade des Doms von Orvieto in Italien.
[5] Aber keine dieser Kirchen empfängt im Jahr 14 Millionen Besucher*innen. Wie oft wird sie fotografiert? 500 Millionen mal? Nicht einmal Google weiß darauf eine Antwort.
[6] Niemand stellt sich vor, dass Notre-Dame etwas Schweres zustoßen könnte. Sie liegt nicht im Erdbebengebiet, sie liegt hoch genug über der Seine, um vor Hochwasser geschützt zu sein. Tornados entstehen im Pariser Stadtgebiet höchst selten.
[7] Und dann passiert es eben doch: ein Brand. Das Dach brennt, die ganze Welt kann oder muss zuschauen. Es spielt keine Rolle, dass einem jetzt Dutzende verheerende Brände von historischen Gebäuden in Erinnerung kommen. Es ist Notre-Dame, die brennt.
[8] Der Brand zerstört – und er legt etwas frei: Die Vielfalt der Motive und Gründe, warum die Millionen von Menschen jahrein jahraus zu Notre-Dame kommen. Für Tourist*innen ist Notre-Dame ein Muss. Für andere ist Notre-Dame ein wichtiger Erinnerungsort von Paris und der ganzen französischen Geschichte. Für wieder andere zählt die innovative Architektur. Die nächsten haben das historistische 19. Jahrhundert vor Augen, dem Notre-Dame ihr heutiges Aussehen weitgehend verdankt – wie der Kölner Dom (noch mehr als Notre-Dame) ein Bauwerk des 19. Jahrhunderts ist, welches sich irgendwie berufen fühlte, Geschichte zu vollenden und vor allem wenigstens architektonisch zu harmonisieren.
[9] Notre-Dame ist eine Kirche, ein Ort der Religion und der Spiritualität. Das Besondere daran ist, dass sie es trotz der Millionen Besucher*innen geblieben ist. Und zwar mehr als der Markusdom in Venedig.
[10] Die Reliquien wie die (vermeintliche) Dornenkrone Christi bezeugen die abendländische Strategie, Europa, das Abendland, als sichtbaren Teil der Heilsgeschichte zu inszenieren. „Europa“ hatte ja zunächst abseits gestanden, die Geschichten des Neuen Testaments, ganz zu schweigen vom Alten Testament, geschahen nicht in „Europa“. Natürlich: Petrus und Rom. Die Gemeinde in Korinth. Aber wie brachte man das ganze Abendland in die Heilsgeschichte hinein? Durch Reliquien aus dem Heiligen Land, wobei der Glaube an deren Authentizität das Entscheidende war. Nachbauten der Grabeskirche erfüllten denselben Zweck, das Himmlische Jerusalem war Vorbild für den Städtebau.
[11] Schließlich: Kirche und Staat. 1905 wurde eine strikte Trennung von Kirche und Staat in Frankreich gesetzlich vollzogen. Das gab blutige Konflikte. In dem Land, das sich einmal stolz als älteste Tochter der Kirche verstanden hatte, angeführt vom allerchristlichsten König.
[12] 1905 vollendete im Grunde, was die Französische Revolution nicht erreicht hatte. Eine vollständige Aussöhnung zwischen katholischer Kirche und Republik hat im 20. Jahrhundert nicht stattfinden können. Und nun versucht sich der Staatspräsident Emmanuel Macron daran. Er ist durchaus zuständig, da der Staat die Kirchen besitzt und für deren Erhalt verantwortlich zeichnet. Das wäre aber nicht zwingend ein Grund, jetzt nach dem Brand an die Einheit der Nation zu appellieren.
[13] So legt der Brand also auch das frei, die immer wieder beschworene und nie erreichte Einheit der Nation. Es ist geradezu logisch, dass sich „Gelbwesten“ über die hohen Spenden, die noch während des Brandes in der Nacht von Montag auf Dienstag (15.4./16.4.2019) zugesagt wurden, und deren steuerliche Absetzbarkeit erregen. Dies markiert eine von vielen Bruchlinien.
[14] Es gibt noch mehr Motive: Die gewaltige Orgel in Notre-Dame (ebenfalls 19. Jahrhundert), ihre Bedeutung in der Orgelmusik, die Bedeutung der Cheforganisten, Musiker von Rang. Oder das Dachgestühl, dessen älteste Teile aus ca. 1220 stammten. Dass sie verbrannt sind, macht irgendwie den Umstand, dass 800 Jahre in Flammen aufgingen, viel sinnfälliger als anderes. Mehr als Tausend Eichen hatte es damals gebraucht, daher der Beiname „la forêt“. Die großflächigen Ölgemälde des 17. und 18. Jahrhunderts, die zum Teil von namhaften Malern stammten und Jahres-Geschenke des Pariser Handwerks für die Kirche gewesen waren.
[15] Die Literatur: Allen vor an Victor Hugos „Glöckner von Notre-Dame (1831). Die Fotografen – ab 1851. Die Künstler, darunter Picasso, Matisse, Chagall.
[16] Das alles wird aus Anlass des Brandes freigelegt, wie es sich überlagert, miteinander verbindet. Über den ganzen Globus.
[17] Kriminalistische Techniken – wo entstand das Feuer, was war seine Ursache? Materialprüfung, hält das Gebäude? Wiederaufbau: historisch oder moderne Stahlkonstruktion für das Dach? Erkenntnisse: verwertbar für andere historische Bauten?
[18] Der Mut – der Feuerwehrleute; Entsetzen, Betroffenheit, Trauer, Verlustempfindung – bei vielen Menschen. Hier berührt sich soviel und kommt zusammen, dass es jede Ausführlichkeit in der Berichterstattung rechtfertigt.
Lies: Wolfgang Schmale: Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien: Böhlau 2013. Kapitel über Paris „Je ne crois qu’à la civilisaton française“, S. 181-194; Kapitel über Jerusalem und Europas Platz in der Heilsgeschichte „Jerusalem – Besonderer Ort Europas“, S. 73-99.