Der Historiker Peter Blickle verstarb am 20. Februar 2017. Ich lernte ihn als Student Ende der 1970er-Jahre kennen, als ich als studentische Hilfskraft an dem Forschungsprojekt zu agrarischen Sozialkonflikten im frühneuzeitlichen Westeuropa teilnahm, das von ihm und Winfried Schulze geleitet wurde.
Peter Blickle hat durch seinen Zugang zur Geschichte auf mehrere Generationen von Historiker*innen prägend gewirkt. Die Geschichte, die vom ‚gemeinen Mann‘ und der ‚gemeinen Frau‘ gemacht wird, mitbestimmt wird, deren Erforschung ein fruchtbarer Weg der Erkenntnis ist und die Peter Blickle so auf den Punkt brachte: „Freiheit ist die von Menschen immer gewollte Grundform ihrer Existenz.“.
Zum Gedenken möchte ich mit den folgenden Zeilen an sein Buch über Leibeigenschaft und Menschenrechte erinnern.
Peter Blickle: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland. München, 2. durchges. Aufl. 2006. C.H. Beck Verlag, 426 S. ISBN 3-406-50768-9
Im Allgemeinen wird Leibeigenschaft als das pure Gegenteil von Freiheit und zudem von Grund- und Menschenrechten angesehen. In den Debatten der Aufklärung war die Überwindung von Leibeigenschaft, die mit Sklaverei gleichgesetzt werden konnte, ein unausweichliches Ziel – Freiheit statt Leibeigenschaft. Die damaligen Debatten, die sich etwa auch in Frankreich an den Überbleibseln der „mainmorte“ in Burgund entzündeten, waren so heftig, dass sie bis heute nachwirken und es zum Gemeinplatz gehört, dass Freiheit und Menschenrechte durch die Aufklärung sowie die amerikanische und französische Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts grundgelegt wurden. So gesehen, ist die Geschichte von Freiheit und Menschenrechten recht jung, davor gab es aufklärende Philosophie, manche Rechtsdokumente, diesen oder jenen praktischen, wenn auch gescheiterten Ansatz.
Das ist sehr schön, klingt gut, lässt sich gut merken, aber im Grunde ist es ziemlich falsch – und das wurde mehr als einmal nachgewiesen. Gleichwohl hält sich der Mythos. Einer der Gründe dürfte sein, dass es einen Kanon englischer, französischer, deutscher und manch anderer philosophischer und naturrechtlicher Schriften der Aufklärung gibt, in denen die Grundlagen des neueren Menschenrechtsverständnis formuliert wurden. Ja, sie wurden bei Locke, bei Voltaire, bei Lessing und Kant, bei Beccaria und vielen anderen formuliert, aber nicht neu erfunden. Das ist und bleibt ein hartnäckiges Missverständnis, aller Forschung zum Trotz.
Peter Blickle diagnostiziert dieses weit verbreitete Missverständnis sehr klar – und macht sich dann an die mühevolle Arbeit zu zeigen, wo die Freiheit in Deutschland herkam. Das muss anderswo nicht genauso abgelaufen sein, aber man kann Peter Blickle nur Beifall zollen für die Vehemenz, mit der er den praktischen Weg der Freiheit nachzeichnet, denn auch in Frankreich z.B. legten Freiheit und Menschenrechte einen Weg praktischer Realisierung zurück, bevor alle Welt davon sprach und sie sich auf die philosophischen Fahnen heftete. Damit ist nicht gesagt, dass Praxis und intellektuelle Auseinandersetzung grundsätzlich getrennten Wegen gefolgt wären; es gab immer Kreuz- und Querverbindungen, die aber in der Forschung nach wie vor einseitig betrachtet werden. Peter Blickle fasst seine Grundthese folgendermaßen zusammen: „Freiheit ist keine Erfindung der Moderne, Freiheit ist die von Menschen immer gewollte Grundform ihrer Existenz.“
Dass das so war, diesen Nachweis führt er für „Deutschland“; damit sind die eidgenössischen (de jure seit 1648 nicht mehr Teil des Reichs), die südwestlichen, die westlichen sowie die nördlichen und östlichen Territorien gemeint, die deutschsprachigen österreichischen Erblande spielen eher nur am Rande eine Rolle. Die These von der Freiheit als „gewollter Grundform“ menschlicher Existenz lässt sich zunächst sozio-ökonomisch und demografisch nachweisen. Unterstreichen wir dabei sogleich, dass die Geschichte von Freiheit und von Grund- und Menschenrechten etwas mit Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Demografiegeschichte nicht nur zu tun hat, sondern ohne deren Beachtung gar nicht geschrieben werden kann. Peter Blickle bringt die oft komplizierten Gemengelagen auf den Punkt, wenn er einerseits die freiheitsbeschränkenden Praktiken von Herrschaft und Obrigkeit analysiert und dann die Reaktionen der betroffenen Menschen darauf untersucht: Sie entzogen sich derartigen Maßnahmen so massiv durch Flucht – wozu man auch die ungenoßsame Ehe zählen kann – , dass die Herrschaft unter Zugzwang geriet und Freizügigkeiten zugestehen musste. Gelegentlich halfen dem Revolten und Prozesse, und ganz gelegentlich Bauernkriege nach, aber der Regelfall war, sich dem Zwang zu entziehen.
Das alles spielte sich über die Jahrhunderte nicht selten nach dem Prinzip von Ebbe und Flut ab, das heißt, die ‚historischen Richtungen‘ waren nicht unidirektional gestrickt, z.B. von Unfreiheit zu immer mehr Freiheit oder umgekehrt. Letzteres traf am ehesten noch auf die Zunahme der Leibeigenschaft in Schleswig-Holstein und den ostelbischen Gebieten im Lauf der Frühen Neuzeit zu. Anderswo, wie bei einigen werdenden Mitgliedern der Schweizer Eidgenossenschaft, wurde die Freiheit gekauft, eine Entwicklung, die man auch im nicht so weit entfernten Herzogtum Burgund beobachten konnte.
Auf lange Sicht wurde die Leibeigenschaft – Peter Blickle insistiert auf dem Herkommen der darunter gefassten Rechtsinstitute aus dem „Eigen“, der „Eigen-Verfassung“ – immer wieder verändert und fortentwickelt, und zwar in Richtung persönlicher Freiheit und Eigentum. Darin steckt Blickles stärkste und die bisherige Forschung aufwirbelnde These, dass nämlich Freiheit und Eigentum weniger als Gegenentwurf zu Leibeigenschaft, sondern aus dieser heraus im Lauf der Frühen Neuzeit entstanden.
„Der Traum von Freiheit war im Mittelalter und in der Neuzeit immer aus demselben Stoff gemacht. Verwirklicht wurde er in der allmählichen Herstellung einer, wie man sagen kann, leibhaftigen Freiheit. Die damit gemeinte Freiheit, über die eigene Person verfügen zu können, zog Eigentum als Materialisierung von Arbeit nach sich und letztlich auch Bürgerrechte als Definitionshoheit über die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens freier Menschen.“ Entscheidend ist der Zusammenhang mit der sich verändernden Bewertung von Arbeit, bäuerlicher Arbeit: Eine zunehmende Wertschätzung, ihre Verbindung mit der Würde des Menschen, ihre Verbindung mit der Entstehung des Eigentums durch die Transformation des ursprünglichen und lediglichen dominium utile.
Die Versuche der feministischen Geschichtswissenschaft, die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 neu zu interpretieren und nachzuweisen, dass es sich faktisch, wahrscheinlich aber auch philosophisch um Männerrechte handelte, sind vom Mainstream der Forschung zur Geschichte der Menschenrechte immer äußerst distanziert betrachtet und nicht wirklich aufgegriffen worden. Nach wie vor muss man den Eindruck haben, es handele sich um ein Forschungsgebiet, wo eine Genderperspektive nur irrtümlicherweise eine Rolle spielen kann.
Vielleicht gelingt es Peter Blickle, à la longue, mit seinen ‚bodenständigen‘ Analysen – bodenständig insoweit sie sich jeder spekulativen Interpretation enthalten, sondern vielmehr Archivakten, Rechtsdokumente, Verträge usw. begrifflich genau sezieren – die Genderperspektive zu verankern: „Am Prozeß der Herstellung von Freiheit waren Männer und Frauen gleichermaßen beteiligt. (…) die Quellen sprechen von dem Leibeigenen und der Leibeigenen, von dem Zinser und der Zinserin, von dem Freien und der Freien. Männern und Frauen wird die Heirat erlaubt oder verboten, Männern und Frauen wird die Freizügigkeit eingeräumt oder erschwert, Männern und Frauen wird der Freikauf gestattet oder nicht, Männern und Frauen können ihren Nachlass vererben oder nicht.“
Das heißt, im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit (als Blickles Untersuchungszeiträumen) wurde genau differenziert zwischen dem Rechtsstatus eines Mannes und einer Frau, die in der Tat oft nicht gleich waren; die großen Entwicklungslinien resultieren jedoch aus der Transformation des Rechtsstatus‘ sowohl von Frauen wie von Männern.
Natürlich setzt sich Peter Blickle mit theologischen und rechtsphilosophischen bzw. rechtstheoretischen Schriften (insbesondere mit Samuel Pufendorf) auseinander und zeigt die Kreuz- und Querverbindungen. Der Naturrechtsargumentation kommt dabei die zentrale Rolle zu, die ihr auch die Ideengeschichte immer wieder zuweist, ohne dabei und im Gegensatz zu Peter Blickle in die Niederungen der Gerichtspraxis abzusteigen – was sicher ein Fehler ist.
Zuzugestehen ist, dass die vielen regionalen und lokalen Entwicklungen wohl erst durch die bekannten Aufklärungsdebatten miteinander in Beziehung gesetzt wurden; der Generalangriff auf Unfreiheit, der immerhin zum Konstitutionalismus mit seinen nicht gering zu achtenden Rechtsgarantien führte, wäre ohne diese europäischen Debatten, die bis in die Walachei reichten, nicht zu führen gewesen. Aber auch nicht ohne die praktischen Grundlegungen, die Peter Blickle erforscht hat.
[Der vorstehende Text stellt die redaktionell bearbeitete Rezension des Buches von Peter Blickle dar, die in der Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 2011 erschienen ist.]