[1] David Van Reybrouck veröffentlichte in Le Monde vom 23. Oktober 2021 (S. 35, Rubrik „Idées“) einen Artikel, in dem er für die Einführung des „Präferendums“ wirbt.
[2] Der Begriff ist in der Ökologie gängig, Van Reybrouck lässt allerdings nicht erkennen, ob er auf diesen Gebrauch anspielen möchte. Sein Vorschlag funktioniert auch ohne diesen möglichen Hintergrund, mit der wörtlichen Übersetzung aus dem Lateinischen: Das Vorzuziehende.
[3] Das „Präferendum“ kombiniert drei Methoden demokratischer Teilnahme: Wahlen, Referendum, Bürger*innenversammlung.
[4] Nützlich soll es sein, um Ja-Nein bzw. Entweder-Oder-Entscheidungen bei den üblichen Referenden zu vermeiden, da diese meistens keine optimale Problemlösung darstellen.
[5] Am Beispiel des in Frankreich 2019 per Losentscheid zusammengerufenen Klima-Konvents, an dem 150 Bürger*innen teilnahmen, erläutert Van Reybrouck seine Idee. Dieser Konvent hat zahlreiche Vorschläge für Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels gemacht, von denen jedoch (bisher) nur wenig Eingang in die Politik und Gesetzgebung gefunden habe, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung laut Umfragen die Ziele unterstützen würde. Ein „Präferendum“ mit den Vorschlägen würde mehr Verbindlichkeit herstellen.
[6] Eine Bürger*innenversammlung ist das deliberative Element. Die schlussendlich festgehaltenen Vorschläge zum Thema der Versammlung spiegeln Meinungsvielfalt und viel Expertise wider. Die Vorschläge werden dem Souverän, den Wähler*innen in einem Präferendum vorgelegt. Die Wähler*innen vergeben für jeden Vorschlag Punkte, z. B. max. 10 oder eben 0. Hieraus ergeben sich mehrere Präferenzen anstatt eines einzigen Ja oder Nein/Entweder-Oder beim herkömmlichen Referendum. Die Vielfalt, die das Wahlvolk auszeichnet, wird besser abgebildet, die Politik arbeitet die Präferenzen in der Reihenfolge ab.
[7] Der Vorschlag könnte eine Möglichkeit sein, der Vielfalt in der Gesellschaft in der Demokratie besser Rechnung zu tragen. Man sieht es auch an den Ergebnissen von Wahlen in vielen Ländern: Äußerst selten erreicht noch eine Partei allein eine absolute Mehrheit, Koalitionen sind der Alltag.
[8] Statt aus einer Parteienvielfalt in einer Koalition ein Regierungsprogramm zu zimmern, das so tut, als verträten nun alle an der Regierung beteiligten Parteien Dasselbe, scheint es sinnvoller, die politische Vielfalt als Vielfalt bestehen zu lassen. So kommen mehr unterschiedliche Präferenzen der Wähler*innen zum Zuge – im konkreten Fall auch ohne „Präferendum“, sondern durch Umstellung des Arbeitsprinzips von Regierungskoalitionen.
[9] Insgesamt ist die Rolle von Parteien zu überdenken. Es ist vorstellbar, Arbeitsprogramme für Regierungen stärker an „Präferenden“ zu binden. Das nimmt Parteien Handlungsfreiheit, ja, aber nimmt ihnen auch Manipulationsmöglichkeiten und reduziert vielleicht den permanenten Missbrauch öffentlicher Ressourcen durch die „Familie“ – jene Zirkel in einer Partei, die gerade eine Partei beherrschen und sich selber gut versorgen.
[10] Der Denkanstoß von Van Reybrouck, der in seinem Beitrag zu Le Monde nicht so weit geht wie ich hier im Blog, ist jedenfalls sehr anregend und scheint geeignet, die politische Partizipation in der Demokratie voranzubringen, wenn Bereitschaft besteht, den Vorschlag breit zu diskutieren.
Dokumentation:
David Van Reybrouck: „Le ‚préférendum’, arme ultime de décision citoyenne.“ In: Le Monde, Samstag 23. Oktober 2021, S. 35, Rubrik „Idées“.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Das „Präferendum“ – Ein Vorschlag des belgischen Autors David Van Reybrouck zur Demokratiereform. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/praeferendum, Eintrag 25.10.2021 [Absatz Nr.].