Rotterdam – Auf den Spuren des „ersten bewussten Europäers“
[1] Vor 43 Jahren stand ich zum ersten Mal als Schüler vor Ossip Zadkines (1890-1967) Skulptur „Die zerstörte Stadt“ (1953 enthüllt – kurzer Videoausschnitt der Enthüllungszeremonie), die er für Rotterdam schuf und die auf dem „1940 Plein“ aufgestellt wurde. Diese Bronzeskulptur ist der zentrale Erinnerungsort an die Bombardierung Rotterdams durch Deutschland am 14. Mai 1940, die – darin dem späteren Bombardement Warschaus vergleichbar – das Zentrum der Stadt vernichtete. Ein „herausgerissenes Herz“, wie es die Skulptur sagt und wie es uns SchülerInnen damals erklärt wurde.
[2] Für den Wiederaufbau wurde anders als in Warschau verfahren, es wurden keine historischen Gebäude wiederhergestellt, sondern ein radikaler und umfassender Schritt in die architektonische und lebensweltliche Moderne getan. Es wurden und werden alle Möglichkeiten moderner Architektur und Stadtplanung eingesetzt, Farbe und Buntheit, Wasser und Grün, großzügige Plätze bestimmen den öffentlichen Raum, in dem einige alte Kirchen und ein paar städtische oder Firmenbauten aus der Zeit vor oder kurz nach 1900 durch ihre solitäre Stellung besonders herausgehoben wirken. An den Rändern, etwa zu Het Park hin, stehen großbürgerliche Villen und leiten in die Vorkriegsgeschichte über.
[3] Der Schritt in die städtebauliche Moderne ist auch in der Beziehung konsequent geblieben, als zwar Denkmäler nicht fehlen, aber diese das Zentrum nicht beherrschen, wie es hingegen meistens in Europa bei Großstädten, die schon in der Frühen Neuzeit bedeutend gewesen waren, der Fall ist. Gleichwohl: Wenn es ein Denkmal gibt, dann erinnert es meistens an ‚große Männer‘ der Stadt- und Hafengeschichte, ohne diese im Allgemeinen – und das macht wieder einen Unterschied zu anderen europäischen Großstädten – in heroische Haltungen zu versetzen. Lediglich das Denkmal für die „Morgenröte der Freiheit 1572“ vor dem Erasmuskolleg wird von einer Frauenfigur („De Maagd van Holland“, zur Erinnerung an den 1. April 1572 und die Eroberung von Den Briel – das Denkmal wurde zum 1. April 1872 errichtet) dominiert, an einzelnen Gebäuden der 1920-er und 1930er-Jahren finden sich Halbreliefs mit weiblichen Figuren.
[4] Schlendert man durch Rotterdam, kann man sich gut vorstellen, wie die europäische Gesellschaft aussehen könnte. Welchen ethnischen Ursprung jemand hat, spielt keine Rolle, außerhalb des politischen (Rechts-)Populismus. Die Stadt, repräsentiert durch ihren Bürgermeister Ahmed Aboutaleb, sieht, ohne über Spannungen und Konflikte hinwegzusehen, die Vielfalt der Menschen als ihren Reichtum an.
[5] Ideell steht sie damit vollständig in der Tradition des Desiderius von Rotterdam, dessen autografischer Namenszug an vielen Gebäuden gut sichtbar angebracht ist. Nicht zu vergessen die Erasmus-Brücke und die Erasmus Universität. Es scheint, als habe dieser Erasmus von Rotterdam, den Stefan Zweig als den „ersten bewussten Europäer“ (S. 38) bezeichnete, der Stadt eine Seele gegeben und als sei damit etwas gelungen, was sich der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, für die EU gewünscht hatte: „Europa eine Seele geben“ – ein Slogan, der eine bis heute anhaltende Wirkung erzielte.
[6] 2001 war Rotterdam „Europäische Kulturhauptstadt“, was die Stadt in ein historisches Kurz-Narrativ einordnet, das gegenüber dem Rathaus plakativ dem Vorübergehenden zur schnellen Aufnahme angeboten wird: Von den kulturellen Performanzen von „Rotterdam Ahoy“ (1950) über „E55“, über die „Floriade“ von 1960, aus derem Anlass der damals 107 Meter hohe „Euromast“ in Het Park gebaut wurde, über „C70“ hin zu 2001, Kulturhauptstadt. Dass die städtebauliche Moderne Konflikte hervorrief, weil auch nicht zerstörte ältere Viertel in ihrem Bestand gefährdet waren, wird nicht verschwiegen.
[7] Aber all das sieht ein Besucher vielleicht gar nicht als Erstes oder sieht es als nachrangig an, denn Rotterdam ist ja beinahe ein Synonym für Hafen. Hafen bedeutet Ökonomie und Reichtum, Schweiß, Armut, Tod, Technik, Gigantomanie – und Kolonien, ‚atlantisches Europa‘ und vieles mehr. Man vergisst leicht, dass die Hälfte der Gründerstaaten der EWG immer noch Kolonialmächte gewesen waren, wobei die Niederlande (in dieser Ländergruppe) der erste Staat waren, die den Kolonialismus im engeren Wortsinn beendeten.
[8] Vor allem das Wereldmuseum zeigt Artefakte, die seit dem 19. Jahrhundert in die Niederlande bzw. nach Rotterdam verbracht wurden, diese sind aber in der musealen Präsentation ihres historischen und ursprünglichen Kontextes völlig entkleidet. Die Art der Präsentation macht die Artefakte zu Kunstwerken, ohne dass dies ihre Rolle gewesen wäre – meistens handelt es sich um Kult- und Ritualgegenstände, die einen konkreten Einsatzzweck besessen hatten. Die Provenienz der Artefakte wird auf der Museumsseite sehr summarisch angesprochen, es bleibt unklar, welche Rolle der Umstand spielte, dass die Niederlande eine Kolonialmacht waren. Dass das Sammeln von Objekten auf ethnografisch ausgerichteten Reisen und Expeditionen seine Fragwürdigkeiten hatte, kann man am Beispiel des Zustandekommens der Sammlung des Musée de l’Homme in Paris anhand der detailreichen Tagebücher von Michel Leiris im Sinne eines ‚pars pro toto‘ nachvollziehen.
[9] Die Erasmus Universität Rotterdam ist in diesem Juli (27.-31. Juli 2015) Gastgeberin des 14. Weltkongresses der International Society for Eighteenth-Century Studies (ISECS), der unter dem Haupttitel „Opening Markets: Trade and Commerce in the Eighteenth Century“ steht. Nicht zufällig haben Rotterdam und dieses Kongressthema zusammengefunden. Konsequenterweise wurde die Rezeption Erasmus‘ von Rotterdam im 18. Jahrhundert in einer Sektion thematisiert.
[10] Das 18. Jahrhundert und besonders die Epoche der Aufklärung gilt als eine bis heute für unsere Gegenwart grundlegende Zeit, die zumeist mit positiven Stichwörtern wie Kosmopolitismus, Menschenrechte, Freiheit etc. evoziert wird. Ein Weltkongress, der ForscherInnen aus allen Teilen der Welt zusammenbringt, illustriert dies bis zu einem gewissen Grad sehr lebendig, denn in allen Teilen der Welt wird z.B. über ‚die Aufklärung‘ geforscht. Die wichtigsten Werke der Aufklärung haben überall eine Rezeption erfahren, teils erst im 19. oder 20. Jahrhundert. Das 18. Jahrhundert war bereits ein Zeitalter der Globalisierung. Der Begriff der Aufklärung wird dabei längst nicht mehr nur auf die europäische angewandt. So betitelt das Wereldmuseum einen Teil der Sammlung zum Buddhismus als „The World of Enlightenment“ und folgt dabei einer nunmehrigen Tradition der Begriffserweiterung.
[11] Doch bei allem Interesse, das im 18. Jahrhundert an nicht-europäischen Kulturen gezeigt wurde, blieb es bei einem zumeist asymmetrischen und hierarchischen Blick und eine multiethnische Gesellschaft in Europa selber blieb außerhalb des Betrachtungshorizonts. Wenn in der Aufklärung auf einer abstrakten ethisch-normativen Ebene zeitlos Gültiges formuliert werden konnte, so bleibt die Praxis dessen eine Aufgabe des 21. Jahrhunderts.
[12] Rotterdam ist dabei vielleicht für manche eine Lehrmeisterin.
Dokumentation:
Titelfoto: Gedenkstein von 2010 an die Bombardierung Rotterdams 1940, aufgestellt in der Nähe des Wereldmuseums. Foto: Wolfgang Schmale, 28. Juli 2015.
Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Wien u.a. 1934.
Michel Leiris: Miroir de l’Afrique, kritische Edition Paris 1996.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Rotterdam – Auf den Spuren des „ersten bewussten Europäers“. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/rotterdam, Eintrag 01.08.2015 [Absatz Nr.].