Am 28. Dezember 2021 wurde die russische zivilgesellschaftliche Vereinigung Memorial International verboten. Sie forscht(e) den Opfern des Stalinismus in der Sowjetunion nach, baute ein umfassendes Archiv auf und engagierte sich zunehmend für Menschenrechte im gegenwärtigen Russland.
Zwei Wochen zuvor – ganz anders – hatte die französische Regierung bekannt gegeben, dass die Archive der Polizei und Gendarmerie, betreffend den Algerienkrieg, ab sofort, vor Ablauf der offiziellen Sperrfrist, geöffnet würden.
Im Russland Putins wird die Suche nach der historischen Wahrheit unterdrückt, in Frankreich wird sie endlich vom Präsidenten und seiner Regierung ausdrücklich gefördert – da, wo es lange Zeit ein Tabu war: der Algerienkrieg.
Vor wenigen Tagen starb Desmond Tutu. Er hatte der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission vorgesessen: Die Wahrheit herausfinden, sie aussprechen, den überlebenden Opfern und ihren Angehörigen die Möglichkeit geben, zu erfahren und zu sprechen. Es hat sich erwiesen, dass das wichtiger war als alles andere.
Emmanuel Macron hat seit Amtstritt viele Schritte unternommen, um die Wahrheit über den französischen Kolonialismus ans Licht kommen zu lassen.
Der russische Präsident geht den umgekehrten Weg. Unterdrückung der historischen Wahrheit, zynische Missachtung der Opfer und ihrer Angehörigen, zynische Missachtung des Humanismus von Memorial und anderen Vereinen.
Macron hat Risiken auf sich genommen; die französische Rechte, dabei Teile des Militärs, halten ihn für einen „Nestbeschmutzer“ wenn nicht Verräter. Putin geht keine Risiken ein, er hat das Land mundtot gemacht, wer noch Widerspruch wagt, wird verurteilt und inhaftiert oder getötet.
Zwischen dem ermutigenden Weg in Frankreich und dem Weg des Verschweigens und Unterdrückens in Russland gibt es etliche weitere. Die Geschichtspolitik der polnischen PiS-Regierung eliminiert alles kritisch zu Betrachtende aus der polnischen Zeitgeschichte, kritische Historiker*innen sind starkem Druck ausgesetzt.
Zurück zu Memorial International: Wichtige Archive, die einen historischen Blick aus Richtung der Zivilgesellschaft ermöglichen, der oft ein Blick gegen die offizielle Geschichtspolitik einer Regierung in Vergangenheit und Gegenwart sein muss, wurden von Vereinen aufgebaut und immer wieder durch Regierungsbehörden beschlagnahmt. So die Archive von Menschenrechtsligen, Freimaurerlogen u.a. durch die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. Im Zuge des Vormarsches der Roten Armee fielen diese dann an die Sowjetunion und wurden einer Nutzung außerhalb des KGB entzogen. Erst nach der Auflösung der Sowjetunion wurden Teile solcher Archive wieder zurückgegeben.
Für das Archiv von Memorial muss das Schlimmste befürchtet werden. Es geht nicht um eine „russische interne Angelegenheit“, denn historische Wahrheit hat kein nationales Mascherl.