Einleitung: Das „Volk“ wird zugerichtet
[1] „Volk“ ist ein schon immer schwer definierbarer Begriff gewesen. Die tatsächliche Bedeutung hängt, unabhängig von der Sprache, die untersucht wird, vom jeweiligen Kontext ab. Er gehört zu den leicht instrumentalisierbaren Begriffen.
[2] Aktuell tritt uns „Volk“ regelmäßig im Zusammenhang des „Populismus“ entgegen. Im Populismus ist „das Volk“ vorwiegend Adressat bzw. Objekt und wird als nicht hinterfragbarer Legitimator herangezogen. Es ist eine Manipulationsmasse. Als selbständiger Akteur und als Staatsvolk ist es weniger gefragt, es sei denn, es will exakt das, was die betreffende populistische Partei wünscht.
[3] Das „Volk“ des Populismus hat wenig gemein mit dem „Volk“ der Aufklärung, es hat wenig gemein mit dem „Volk“ der Revolutionen zwischen 1776 und 1848, es hat wenig gemein mit dem Staatsvolk der Nationalstaaten seit der vor allem zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Am meisten ähnelt es dem Volk in Faschismus und Nationalsozialismus, weil es mit der Peitsche der Angst traktiert und zugerichtet wird.
[4] Sehr allgemein, das heißt über den Betreff des Populismus hinaus, ist festzuhalten, dass im Begriff „Volk“ etwas territorial vergemeinschaftet wird, was es außerhalb der modernen verfassungsrechtlichen und damit rein formalen Definition als Staatsvolk als reale Gemeinschaft eigentlich nicht gibt. Der Begriff eignet sich für Projektionen und Imaginationen aller Art, die formale Definition von Staatsvolk lässt Raum für verschiedene Ausdeutungen, die zwar, wenn sie rassistisch und antisemitisch sind, damit zugleich verfassungswidrig sind, aber nicht minder Wirksamkeit entfalten.
[5] „Volk“ und das oftmals synonym gebrauchte „Nation“ sind so häufig dekonstruiert worden, ohne dass dies einen tieferen Einfluss auf die anhaltende Imagination und Konstruktion von Volk, Nation und Nationalstaat gehabt hätte. Wir erleben, trotz aller Dekonstruktion, aller wissenschaftlichen und pädagogischen Aufklärungsarbeit, im Zusammenhang der angestiegenen Migration nach Europa, wie sich die Zombie-Armee des radikalen Nationalismus in Stellung bringt. Dabei wird der Begriff „Volk“ mittels Angst wieder zugerichtet, wie man es zu brauchen meint.
[6] Dass das Volk zugerichtet wird, besitzt als Methode eine in das 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition, die mit einer älteren Tradition brach, in der das „Volk“ selber bestimmte, was es sein wollte.
[7] Wenn ich die Geschichte gegen den Strich bürste, ergibt sich folgende Hypothese: In der Revolutionsepoche wurde das „Volk“ zwar zum politischen Souverän erkoren, allerdings wurde es dadurch seines historischen „Rechts“ auf Eigensinn und Selbstbestimmung seines politischen Handelns beraubt. Um der politische Souverän sein zu können, wurde es zugerichtet. Um politischer Souverän sein zu können, musste das „Volk“ ein anderes werden, als es seiner historischen Tradition entsprochen hätte. Als Souverän und Quell der öffentlichen Gewalt konnte es nicht mehr Eigensinn und Eigenrecht geltend machen, es sei denn, es entstand jene in der Déclaration von 1789 angesprochene Situation, in der das Menschenrecht auf Widerstand griff.
[8] Die Zurichtungen erfolgten außerdem auch auf anderen Gebieten; Stichwortgeber sind dabei „Volksaufklärung“ und das „Volk“, wie es in den Universal- oder Menschheitsgeschichten bzw. gemalten Erdteildarstellungen auftritt. Ziel der Zurichtungen ist die Brauchbarmachung von Volk für die Zwecke der Modernisierung. Dabei kann das Politische überwiegen, wie schon Ende des 17. Jahrhunderts in England, dann ein Jahrhundert später in Frankreich, aber die Brauchbarkeit kann auch eher im „volksaufgeklärten Volk“ bestehen oder gar im christlichen Volk der Menschheit, wie im Alten Reich.
[9] Die Zurichtungen, die im Lauf des 18. Jahrhunderts, in der Revolutionsepoche und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgenommen werden, dienen zunächst denen, die sich im Zuge sozialen und ökonomischen Machtzuwachses schließlich die politische Macht erobern. An einen Volkssouverän, wie wir es heute verstehen, ist von einigen radikaldemokratischen aber chancenlosen „Ausreißern“ abgesehen nicht ernsthaft gedacht. Die Männer, die die Amerikanische Unabhängigkeit und Verfassung ins Werk setzten oder die Männer von 1789 in Frankreich, waren nicht „das Volk“, sie waren im Wesentlichen eine Elite, die sich den Begriff „Volk“ für klare Zwecke zurichtete.
[10] Momente, in denen diese Unterscheidungen aufgehoben schienen, gab es, wie den Bastillesturm vom 14. Juli 1789, aber diese Einheit und Einigkeit im Handeln hielt immer nur kurz an.
[11] Manchmal handelt es sich um „ein“ und nicht „das“ Volk, aber wie bei „le peuple de Paris“ steht es nicht nur für das, was der Name sagt, sondern stellt auch den praktischen Inbegriff von dem dar, was man sich in der Frühen Neuzeit unter einem politischen Volk vorstellt: Unbotmäßig gegenüber letztlich jeder Art von Herrschaft, mit reflexartig funktionierenden Organisationsstrukturen im Falle eines Aufstandes, mit einem klaren Begriff von Gerechtigkeit, auf die die Herrschaft zu gründen und zu verpflichten ist.
[12] „Volk“ ist Objekt von Hass und Liebe, es ist zugleich unterstellterweise Subjekt von Hass und Liebe. Die Beziehung zwischen König und Volk wurde z. B. frühneuzeitlich in der Kategorie der Liebe zwischen beiden evaluiert. Volk hat mit Vielen und ggf. mit Masse zu tun. Wenn Viele zusammenkommen, wird es emotional, Hemmungen fallen, das Phänomen wird in einer „Psychologie der Massen“ (Gustave Le Bon, 1895) oder wenigstens unter dem Titel „Die Massen in der Geschichte“ abgehandelt.
Momente der Forschung
[13] Das Letztere ist der Titel eines sehr bekannt gewordenen Buches von Georges Rudé[1] aus den 1970er-Jahren und charakterisiert eine im Grunde globale Großforschungslage ab den 1940er-Jahren, die sich mit „dem Volk“ als politischem Akteur zu allen Zeiten in der Geschichte befasste. Infolge dieser Forschungen wurden Volks- und Bauernaufstände zu einem zeitweiligen Hauptthema der Forschung über Europa hinaus. In Bezug auf die Geschichte des Alten Reiches kam es zu einer Neuinterpretation des Bauernkriegs von 1525 und vieler weiterer kleiner Bauernkriege und Aufstände in Stadt und Land. „Volk“ erwies sich als politischer Akteur mit Eigensinn und Vorstellungen von fundamentalen Werten und Rechten.
[14] Forschungsgeschichtlich interessant ist die trans- und internationale Vernetzung der Forschung gewesen, ebenso wie der sehr fruchtbare Streit zwischen historisch-materialistischen bzw. westlichen Forschungsansätzen. Letztere folgten verschiedenen Theoremen wie „Verrechtlichung sozialer Konflikte“ (Winfried Schulze) sowie ‚sozio-politische Alternativen in der Geschichte‘ (Peter Blickle) – u.a.m.
[15] Im Rahmen dieser Forschungen wurden Strukturen und Logiken freigelegt, die belegen, dass „Volk“ sich nicht einfach, spontan und unreflektiert unbotmäßig zusammenrottete. „Volk“ erwies sich als ein in unterschiedlichen Graden organisierter politischer Akteur, dem im Kern klare Vorstellungen von gerechter Herrschaft und moralischer Wirtschaft eigneten, die, wie im Bauernkrieg, durch politische Utopien angereichert werden konnten.
[16] Ein Forschungszweig, in dem auch ich verortet war und bin, hat sich mit der Frage der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit „von unten“ befasst, wofür soziale bzw. sozio-politische Konflikte mit dem Volk als Akteur untersucht wurden. Wählt man eine Großperspektive, ging es dabei um den zivilisationsgeschichtlichen Beitrag von „Volk“ zu Europa.
[17] Alle diese Forschungen waren eng mit der nicht weniger trans- und international vernetzten Forschung zur „Kultur des Volkes“, der „Kultur der kleinen Leute“, etc. verwoben, die wichtige Ergebnisse zum Verständnis der zwischen Herrschaft und Volk entstehenden, kulturell bedingten, Dynamiken, beitrugen. Teils wurde die Sachlage auf einen Konflikt zwischen Volks- und Elitekultur zugespitzt, den wir in der aktuellen Populismusdiskussion wiedererkennen können. Diese funktioniert nur mittels eines klassenrassistischen Elite-Begriffs. Teils wurde den vielen Vernetzungen und Verästelungen nachgespürt, die der Fundiertheit einer solchen Annahme – Volkskultur versus Elitekultur – widersprechen.
[18] Im Endeffekt stehen wir auf einem Berg empirischer Forschung zu „Volk“ und haben zahllose Einblicke in diesen sozialen, ökonomischen, politischen, religiösen und kulturellen Akteur gewonnen, der sich anders verhielt, als es viele schriftliche Äußerungen über das Volk in der Frühen Neuzeit und dann in der Aufklärung vermittelten. Wussten alle die, die über das Volk und z. B. Volksaufklärung schrieben, über wen sie schrieben?
Begriffsgeschichtliche Forschungen
[19] An begriffsgeschichtlichen Arbeiten zu „Volk“ mangelt es nicht. Der Artikel „Volk, Nation, Nationalismus, Masse“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ (GG) hat 290 Seiten, die Hälfte davon entfällt auf die Neuzeit ab dem Humanismus, ist allerdings sehr stark auf das Alte Reich bzw. Deutschland fokussiert. Dieser lange Teil wurde von Bernd Schönemann verfasst. Zum Französischen „peuple“ bzw. „nation“ gibt es den Artikel von Elisabeth Fehrenbach im „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich“ (HPSG), das von 1680 bis 1820 reicht und auf den Schönemann bereits zurückgreifen konnte. Bezüglich Frankreich lohnt sich außerdem immer noch der Griff zu Gérard Fritz‘ Studie von 1988: „L’idée de peuple en France du XVIIe au XIXe siècle“.
[20] Nach den beiden deutschen begriffsgeschichtlichen Artikeln entstand der Eintrag „Volk“ in der „Enzyklopädie der Neuzeit“, von Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer, der einen gewissen Akzent auf Synonyme von Volk und bestimmte Bedeutungszuwächse wie „Volkssouveränität“ legt. Wie schon bei Schönemann liegt der Schwerpunkt auf dem deutschen Gebrauch und nicht zuletzt auf Herder, soweit es die Zeit um 1800 betrifft.
[21] Wenig wird in diesen Arbeiten auf den Aspekt des „auserwählt sein“ geachtet, obwohl dies bei der Entstehung von Nationsbewusstsein, in Frankreich z. B. schon im Mittelalter, eine wesentliche Rolle spielte. Kaum eine Nation verzichtete auf diese Selbstcharakterisierung, die tatsächlich religiös gemeint sein konnte, oder es wurden wie im revolutionären Frankreich religiöse Paradigmen und Praktiken auf das säkulare Gemeinwesen übertragen.[2] Das Auserwähltsein des Volks zeigte sich aber auch in der religiösen Ikonografie, die eine öffentliche und im Gegensatz zu Texten, die entsprechende Kompetenzen verlangten, relativ klar verständliche Sprache besaßen.
[22] Ab den 1970er-Jahren wurde mit lexikometrischen Arbeitsweisen experimentiert, allerdings lag dies vor dem Beginn der systematischen Digitalisierungen von historischen Texten und stellte insoweit noch keine methodische Option für die allgemeine Forschung dar. Insgesamt musste der linguistic turn mit zeitaufwändigen Traditionshandwerksmethoden auskommen.
[23] Wirklich grundlegend hat sich das nicht geändert, obwohl nun Millionen von Digitalisaten zur Verfügung stehen, ebenso Algorithmen für die Forschung, aber die Corpusbildung hinkt hinterher bzw. ist enorm hochpreisig, sodass oftmals keine Alternative zum kostenlosen und frei zugänglichen Ngram Viewer von Google Books besteht. Ich werde ein paar Beispiele zum Sprachenvergleich zeigen, die zunächst eher eine methodische Debatte anfüttern sollen als dass sie unerschütterbare Ergebnisse liefern würden.
Wortgeschichtliche Befunde – methodisches Experiment
[24] Machen wir einen ersten Test: Pierre Richelet entschied sich in seinem „Dictionnaire“[3] von 1680 zu mehreren Einträgen bezüglich „peuple“: Einmal seien die „gens de qualité“ gemeint, einmal das Volk ohne die „personnes de qualité“, einmal schlicht die Einwohner eines Ortes. Bestimmte Adjektive dienen der Auffächerung des Begriffs wie etwa „petit peuple“: „Le petit peuple. C’est toute la racaille d’une ville. C’est tout ce qu’il y a de gens qui ne sont pas de qualité ni bourgeois aisez, ni ce qu’on apelle honnêtes. [Le petit peuple de Londres est méchant.]“ Richelet führt darüber hinaus noch „peuple poëtique“, die Vielzahl der „petits poëtes“, an.
[25] „Peuple“ bezeichnet Richelet zu Folge einmal die bürgerliche Oberschicht, einmal die Schichten darunter. Die Gesamtheit der Bevölkerung der Monarchie wurde eher als „nation“ bezeichnet (vgl. Fehrenbach, Art. „nation“ in HPSG Heft 7). Eine „nation“ kann aus mehreren „peuples“ (z. B. Burgunder, Bretonen, Normannen usw.) zusammengesetzt sein.
[26] Die Kombination „petit peuple“ wirkt auf den Historiker vertraut, aber eine Häufigkeitsstichprobe hierzu wirft Fragen auf. [Diese Stichproben bzw. Kurven über einen längeren Zeitraum, die ich im Folgenden zeige, wurden mit Hilfe des Ngram Viewer von Google Books erstellt. Grundlage der Berechnungen, die im Bild mit geglätteten Kurven dargestellt werden, ist das Korpus von Google Books.]
[27] [FOLIE 1] Sucht man nach „peuple=>*_ADJ“ für 1680-1700, ergibt sich, dass die von Richelet in gewisser Weise betonte Kombination „petit peuple“ keineswegs die häufigste ist. Die Kombination „menu peuple“ lässt sich dazurechnen, und weitere Kombinationen wie „peuple ingrat“, „pauvre peuple“ oder „peuple pauvre“ beziehen sich meistens auf denselben Personenkreis. Die Häufigkeitsstichprobe zeigt darüber hinaus, dass der „peuple méchant“, den Richelet gesondert glaubt erwähnen zu müssen, nicht zu den zehn häufigsten Kombinationen gehört. Warum erwähnt er sie dann? Nun, er wird kaum Häufigkeit als Maßstab benutzt haben, im konkreten Gebrauchsbeispiel hat er aber wahrscheinlich überhaupt keinen Maßstab verwendet, denn auch die sprachgeschichtliche Forschung stößt sich an seinem Eintrag.[4]
[28] Dass die Kombination von „peuple“ mit „tout“ oder „Tout“ die häufigste ist, scheint den rhetorischen Hang zu Pauschalierungen, wenn es um „das Volk“ geht, zu unterstreichen. „peuple“ ist im ausgehenden 17. Jahrhundert in erster Linie eine Generalgröße, demgegenüber Einschränkungen durch Beiwörter nachrangig erscheinen.
[29] [FOLIE 2] Eine zweite Stichprobe, hundert Jahre später, weist eine Reihe von Veränderungen aus: Mitte der 1780er-Jahre beginnt die Kombination „peuple français“ einen schnell steil werdenden Aufstieg, um 1794 stellt dies die häufigste Kombination dar. Die Französische Revolution bedeutete eine erste Hochzeit des Nationalismus in Frankreich. Der Zugewinn bei „peuple libre“ überrascht vermutlich niemanden, eher überrascht, dass sich die Kurve bereits 1794 verflacht. Pauschalierungen wie „tout“ oder „entier“ in Verbindung mit „peuple“ bleiben beliebt. „Petit peuple“ taucht unter den zehn häufigsten Kombinationen nicht mehr auf, dafür gibt es „bas peuple“.
[30] [FOLIE 3] Vergleicht man die Eigenschaft „français“ mit der Eigenschaft „souverain“, überwiegt eindeutig „français“. Darauf lässt sich die Hypothese gründen, dass nationalistische Aspekte wichtiger waren, als der politische der Volkssouveränität, und zwar während der gesamten Revolution bis zu Napoleons Staatsstreich von 1799. Verlängert man den Untersuchungszeitraum bis 1820, bleibt es bei dem Befund [ohne Folie]. Erweitert [FOLIE 4] man die Untersuchung nochmals, und zwar um „grande nation“ bzw. „grand peuple“, ändert sich abermals nichts am Übergewicht der nationalen Eigenschaft. „Grand/e“ übertrifft „souverain“ und unterstützt eher die Eigenschaft „français“.
[31] [FOLIE 5] Der Vergleich mit dem deutschen „Volk“ ist sicherlich überraschend, weil er einen erheblichen Unterschied zum Französischen ausweist. Bei insgesamt geringer Häufigkeit sind Adjektive wie „sündig“, „österreichisch“ oder „zerstreut“ zu finden. Nimmt man die andere Schreibweise mit „ck“ (Volck) auf, ergänzt sich die Liste um „gemeines“ und „armes“ „Volck“. Zwischen 1680 und 1690 ist „sündiges Volk“ Spitzenreiter. Das Deutsche „Volk“ erscheint im ausgehenden 17. Jahrhundert sehr viel kleinteiliger als das Französische „peuple“ mit seiner Tendenz zur Generalgröße. Einschränkend ist anzumerken, dass gerade für den Sprachraum des Alten Reiches neulateinische Texte einzubeziehen wären; eine Suche nach populus, populi, populo und populum in Digitalisaten führt überwiegend auf religiöse und antike Schriften.
[32] [FOLIE 6] 1780 bis 1800 sieht es im Deutschen ebenfalls anders als im Französischen aus: Kombinationen mit „ganz“, „gemein“ und „französisch“ führen die Hitliste an, „frey“ kommt gleichfalls vor. „peuple“ im Französischen wird allerdings ungleich häufiger als „Volk“ im Deutschen eingesetzt, wo gleichwohl nunmehr eine Tendenz zu „Volk“ als Generalgröße feststellbar ist.
[33] [FOLIE 7] Im britischen Englisch sind 1680-1700 „common“ und „poor“ die häufigsten Kombinationen mit „people“. [FOLIE 8] 1780-1800 gibt es Veränderungen, aber „common“ und „poor“ bleiben häufig. Neu sind „young“ und „free“. Alles in allem ist „people“ im Englischen gemessen an der Häufigkeit präsenter als im Deutschen und im Französischen – wobei der Umstand, dass „people“ ebenso „Volk“ wie „Leute“ bedeutet, die Häufigkeit beeinflusst.
[34] [FOLIE 9] Das englische „people“ wird mit deutlichem Abstand häufiger verwendet als das entsprechende Wort in den anderen Sprachen. Es wird im späten 17. Jahrhundert häufiger verwendet als im späten 18. Jahrhundert. Der frühe Höhepunkt zu Beginn der Kurve hat durchaus, wie man wohl spontan beim Blick auf die Daten annehmen wird, mit den politischen Umwälzungen in England im Zuge der Glorious Revolution zu tun, aber das allein hätte nicht zu dieser, im Übrigen auch absolut gesehen, bemerkenswerten Häufigkeit geführt. Ein Anteil von mehr als 0,08% ist für sich genommen ein sehr hoher Wert, den viele andere Wörter nicht erreichen. Historische und religiöse Kontexte tragen ebenfalls zum hohen Wert im Englischen bei. Inwieweit Vermischungen unter dem Gesichtspunkt der „elect nation“[5] stattfanden und zur Quantität beitrugen, wäre genauer anhand der einzelnen Quellen zu betrachten.
[35] In Frankreich macht sich die Revolutionsepoche entscheidend bemerkbar, Deutschland bleibt ein Spätzünder, und das auf niedrigem Niveau.
[36] Dieselben Untersuchungen, die ich am deutschen, englischen und französischen Beispiel gezeigt habe, lassen sich im Ngram Viewer, soweit es europäische Sprachen angeht, auch für das Italienische, das Russische und das Spanische durchführen, was ich hier allerdings nicht ausführe.
[37] Die Sprachen bezeichnen Sprachgebiete, nicht eigentlich Länder, aber in Bezug auf den Zeitraum, um den es hier geht, das „lange 18. Jahrhundert“, handelt es sich im Wesentlichen um das Reich plus Schweiz, um Frankreich plus „Belgien“ und französischsprachige Schweiz, um Großbritannien bzw. Vereinigtes Königreich mit, später im 18. Jahrhundert, Nordamerika soweit es englischsprachig war. Die Entsprechung zwischen den Sprachen und den drei Aufklärungen – die deutsche, die englisch-schottische und die französische – kann ebenfalls angeführt werden.
[38] Diese Sondierungen und Vergleiche können dann inhaltlich und für eine qualitative Analyse anhand der Quellen, die als Digitalisate im Corpus von Google Books oder in anderen Corpora zur Verfügung stehen, ausdifferenziert werden. Ich denke, dass allein schon der quantifizierende Sprachenvergleich von hohem Interesse ist und einen deutlichen Unterschied zur Methode üblicher begriffsgeschichtlicher Untersuchungen darstellt. Es erleichtert eine europäische Herangehensweise, auch wenn der Ngram Viewer „kleinere Sprachen“ wie das Niederländische, Portugiesische, Schwedisch usw. nicht anbietet. Diese sind freilich über die „erweiterte Suche“ in Google Books zugänglich, aber Häufigkeitsberechnungen müsste man dann auf anderen Wegen durchführen.
[39] [FOLIE 10] Außer den Eigenschaften, die dem „Volk“ mittels Adjektiven zugewiesen werden, ist es sinnvoll nach Kombinationen mit „Volk“ als genitivus subiectivus zu fragen, da dies ebenfalls Eigenschaften bestimmt. Ich führe das am Beispiel von „Recht des Volkes“ durch, das in den frühneuzeitlichen Konflikten zwischen „Volk“ und diversen Obrigkeiten eine wichtige Rolle spielte.
[40] Wieder übertrifft der englische Sprachgebrauch sowohl den französischen wie erst recht den deutschen in auffälliger Weise. Bei Frankreich ist auch nochmals auf die oben ermittelte offenbar geringe Bedeutung des Adjektivs „souverain“ hinzuweisen, sodass sich die Frage stellt, ob die bisherige hohe Gewichtung der verfassungspolitischen Aufladung von „nation“ bzw. „peuple“ gerechtfertigt ist.
[41] Nimmt man all diese Befunde zusammen, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der Stellenwert von „people“ im gesamten Betrachtungszeitraum sehr viel höher als der von „peuple“ ist, der am engsten mit der Revolutionsepoche verbunden bleibt. „Volk“ nimmt sich im Vergleich eher unbedeutend aus. „People“ wird im Englischen selbst in der Revolutionszeit öfter verwendet als „peuple“ im revolutionären Frankreich.
[42] Natürlich sind die Befunde in dieser Rohform mit Vorsicht zu interpretieren. Es kommt auf Doppelbedeutungen wie bei „people“ und auch auf Synonyme an, die zuerst miteinander zu addieren wären, bevor aus dem Häufigkeitsvergleich weitergehende Schlüsse in Bezug auf die Bedeutung eines Themas, das der Begriff ggf. nicht alleine repräsentiert, gezogen werden. Addiert man nun allerdings „Volk“ und „Nation“ als die beiden offenbar wichtigsten Synonyme jeweils in den Sprachen, ändert sich der Gesamtbefund nicht entscheidend.
[43] Bei den Texten, die der Ngram Viewer durchsucht, handelt es sich um gedruckte Texte, quer durch die Gattungen. Die zahllosen handschriftlichen Quellen, die es gab, sind nicht berücksichtigt. Zunächst gibt es keinen Grund anzunehmen, dass dies einen großen Unterschied ausmacht, da Schreiber oder Schreiberinnen und Leser oder Leserinnen denselben alphabetisierten Sozialgruppen angehörten. Die Schreiberinnen und Schreiber aus den Milieus der „kleinen Leute“ oder dem bäuerlichen Milieu, die es natürlich gab, fallen jedoch heraus, würden allerdings statistisch die Befunde höchst wahrscheinlich nicht fundamental verändern.
[44] Es kann sinnvoll sein, die Bedeutungsfelder von „Volk“ durch die Suche nach zusammengesetzten Begriffen wie „Volksaufklärung“ weiter auszuleuchten. Wegen des Aufwandes beschränke ich mich im Folgenden auf das Deutsche.
[45] Erweitert sich das Spektrum, und wenn ja, wie? Ich habe dabei getestet, inwieweit sich verschiedene damals übliche Schreibweisen auf die Häufigkeit auswirken (z. B. ‚ck‘ statt nur ‚k‘ oder ‚th‘ statt nur ‚t‘ oder Bindestrich zwischen zwei Substantiven statt Zusammenschreibung in einem Wort). Da sich in der Regel dadurch die Häufigkeitsrelationen nicht verschieben, habe ich, um die Grafiken übersichtlich halten zu können, jeweils nur eine Schreibweise dokumentiert. Die Zeitabschnitte variieren leicht, das hängt damit zusammen, dass sich signifikante Entwicklungen je nach Häufigkeit mal so oder mal so besser visualisieren lassen.
[46] Welches Bild ergibt sich, wenn nach „Volksaufklärung“ bzw. „Aufklärung des Volks“ gefragt wird, das heißt nach „Volk“ in einer genitivus obiectivus-Konstruktion? Parallel habe ich weitere Kombinationen wie „Volkslied“, „Volksliteratur“ und „Volkskultur“ erhoben. [FOLIE 12]
[47] Der Häufigkeitshöhepunkt bei „Volksaufklärung“ liegt zwischen 1800 und 1810. „Aufklärung des Volks“ ergibt eine Reihe weiterer Treffer, die zu „Volksaufklärung“ addiert werden müssen. Erweitert man das Zeitfenster bis 1850, bleibt es dennoch beim Höhepunkt zwischen 1800 und 1810.
[48] „Volkslied“ wird erst im Vormärz bedeutsam, obgleich auf niedrigem Häufigkeitsniveau. Volkslied stellt ebenso wie Volkskultur einen genitivus subiectivus dar, während Volksliteratur genitivus subiectivus oder obiectivus sein kann. Man kann auch ergänzend nach z. B. „Volkskirche“ suchen und wird feststellen (hier ohne Folie), dass dieses Wort offenbar durch die 1848-Revolution einen kräftigen Schub erhält. Alles in allem werden aber proaktive Eigenschaften von Volk nieder gehängt.
[49] [FOLIE 13] Weitere Zusammensetzungen wie „Volkswille“, „Volkssouveränität“, „Volkswirthschaft“, „Volkserziehung“ und „Volksschule“ sind abgesehen von der „Volksschule“ nicht übermäßig häufig und gewinnen erst in den jeweiligen Revolutionsphasen 1830 und mehr dann 1848 an Fahrt. Die Auswahl dieser Begriffe resultierte aus einer Erhebung der zehn häufigsten Kombinationen mit „Volk *“.
[50] Der auf der Ordinatenachse sichtbare Häufigkeitswert, der die Häufigkeit in der deutschen Sprache der Zeit angibt, ist gering, was durchaus einen Hinweis zur Einordnung der Debatte um Volksaufklärung etc. ergibt. Zum Vergleich kann man noch einmal die bereits ermittelten Häufigkeiten von „Volk“, „Nation“, „Rechte des Volks“ sowie zusätzlich „Volkssouveränität“ dazu nehmen, und muss zu dem Schluss kommen, dass „Volksaufklärung“ kein hochrangiges Thema war. „Rechte des Volks“ und „Volkssouveränität“ waren es ebenso wenig.
[51] Dieser Befund steht in einem gewissen Widerspruch zur Bibliografie von Böning und Siegert zum Volksaufklärungsschrifttum seit dem späten 17. Jahrhundert[6], weil deren beeindruckender Umfang suggeriert, das Thema sei extrem wichtig gewesen. Aber vielleicht war es doch nicht so wichtig in Relation zu anderen Themen?
[52] [FOLIE 14] Vergleicht man das deutsche „Volksaufklärung“ mit dem französischen „éclairer le peuple“, führt Letzteres wieder zu einem revolutionären Höhenflug, dessen Spitzenwerte aber auf insgesamt niedrigem Niveau sogar zunächst deutlich unterhalb des deutschen Spitzenwerts, der nach 1800 erreicht wird, liegen. Die französische Kurve steigt nach 1810 wieder an, während die deutsche nach unten tendiert; ab 1817 steigt sie wieder an, um sich dann verschiedentlich mit der französischen zu kreuzen. Wir haben es in der Epoche der Französischen Revolution noch nicht mit nachhaltigen Entwicklungen zu tun.
[53] Auch dieser Befund steht nicht ganz im Einklang mit der Interpretation von Böning/Siegert, denen zufolge „Volksaufklärung“ ein spezifisches Merkmal der deutschen Aufklärung gewesen sei. Laut Häufigkeitsbefund charakterisiert das Thema genauso die französischen Lumières und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei die Führung in quantitativer Hinsicht hin und her wippt.
[54] Es kommt freilich auch darauf an, wo die Begriffe verwendet werden. Das heißt, die Häufigkeit in Texten ist letztlich nur ein Kriterium. „Volksaufklärung“ kommt regelmäßig in den Zeitungen und Zeitschriften vor, denen nach den Ergebnissen der Leseforschung zu urteilen immer ein nennenswerter Multiplikatoreneffekt zukommt, selbst wenn die Druckauflage nicht sonderlich hoch ist.
[55] Die Messung von Quantitäten ist freilich immer sinnvoll, denn die mediale Bedeutung und Präsenz eines Themas wie „Volksaufklärung“ ist nicht durch textimmanente Forschung allein und ebenso wenig durch die Anwendung der wissenschaftlich-heuristischen Kategorie der „Volksaufklärung“ bewertbar, vielmehr ist auch die Relativität im Vergleich zu anderen Themen zu beachten – und dies beginnt mit quantitativen Messungen.
[56] Was die Ergebnisse der Häufigkeitsanalyse folglich anstoßen können, ist genauer danach zu fragen, welchen Stellenwert typische Themen der Aufklärung, die wir in der Aufklärungsforschung naturgemäß detailliert unter die Lupe nehmen, im Gefüge der zu der Zeit insgesamt verhandelten Themen besaßen. Darüber hinaus können typische Eigenschaften, die durch Adjektive oder in Gestalt eines genitivus subiectivus ausgedrückt werden, quantitativ und vergleichend erfasst werden.
[57] Inwieweit differenzieren diese „Volk“ als Akteur aus, inwieweit machen sie „Volk“ zu einer Kategorie der Masse? In welchen historischen Kontext gehört die Entwicklung des Wortfeldes? Geht es tatsächlich um das politische Volk oder eben um die Zurichtung im Kontext der Modernisierung und Industriellen Revolution, wo das Volk als Massenressource gebraucht wird?
[58] Außerdem zeigt sich, dass ein stringenter Vergleich mehrerer Sprach- und Aufklärungsräume in Bezug auf „Volk“ und Begriffskombinationen keinesfalls leicht zu leisten ist. Dabei handelt es sich um eine zugegebenermaßen höchst banale Feststellung, die aber in der Praxis erhebliche Auswirkungen zeitigt, wenn man sich die zitierten und andere begriffsgeschichtliche Studien zu „Volk“ (etc.) vornimmt.
„Volk“ ins Bild gesetzt
[59] Über die Textquellen vergisst man leicht, dass „Volk“ vielfach ins Bild gesetzt wurde, das heißt, dass es hierzu auch Bilddiskurse gab. Gut untersucht ist das für die Französische Revolution, in der beispielsweise Herkules zur Personifikation des Volkes wird. Vermutlich fallen einem dazu spontan auch englische Karikaturen ein, aber es gab darüber hinaus Felder, in denen eine Darstellung von „Volk“ konstitutiver Bestandteil war.
[60] Abgesehen vom einzelnen Menschen und z. B. dem „großen Mann der Geschichte“ stellt „Volk“ oder „Nation“ oder auch „Gesellschaft“ in den immer zahlreicheren Universal- oder Menschheitsgeschichten gewissermaßen die Grundeinheit der geschichtlich-zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit. „Volk“ erscheint darin als historischer Akteur und Träger von Zivilisation oder Kultur, zumeist allerdings in engem Zusammenhang mit den „großen Männern der Geschichte“.
[61] In dieser Funktion wurde „Volk“ bildlich dargestellt, und zwar im Rahmen des Themas der „vier Teile der Welt“, die ich zusammen mit einer Forschungsgruppe in einem Forschungsprojekt untersucht habe.[7] Die Darstellung der vier Erdteile wurde, wenn entsprechend Platz zur Verfügung stand oder das geplante Bildprogramm es erforderte, für kultur- oder zivilisationsgeschichtliche Darstellungen genutzt. Damit ist nicht gesagt, dass in diesen Fällen universal- oder menschheitsgeschichtliche Texte gemalt wurden – solch konkrete Abhängigkeiten lassen sich nicht nachweisen.
[62] [FOLIEN 15-18] Das beeindruckendste Beispiel hat 1752/1753 Tiepolo in der Würzburger Residenz geschaffen. Das Deckengewölbe des Stiegenhauses umfasst mehr als 600m², sodass Tiepolo das Thema der Erdteile tatsächlich zivilisationsgeschichtlich breitwalzen konnte.
[63] Die vier Herrscherinnen – Amerikas, Afrikas, Asiens und Europas – sind jeweils von viel „Volk“ umgeben, das zwar wie ein Gefolge der Herrscherin zusammengebunden wird, aber faktisch auf verschiedene Szenerien aufgeteilt wird – von der „Beherrschung des Feuers“ in den Anfängen der Zivilisation (bei Amerika) bis hin zu den hochentwickelten Tätigkeiten in der über allen anderen stehenden europäischen Zivilisation. Bei der Europa gibt es kein „niederes Volk“, weil alles, was „nieder“ sein könnte, nicht im Europabild unterkommt, um die Botschaft von der haushoch überlegenen Zivilisation nicht zu konterkarieren. Das Volk bei den anderen drei Erdteilherrscherinnen ist, je nach zugedachter Ordnungs- oder Entwicklungsstufe wenig bekleidet und mit naturnahen oder wie im Falle Asiens schon entwickelteren Tätigkeiten beschäftigt.
[64] [FOLIE 19] In anderen Darstellungen können es auch schon mal spielende junge Leute sein, wie im Jagdschloss Glaswein bei Korneuburg in Niederösterreich um 1769 (Darstellung Amerikas). „Volk“ steht im Kontext der vier Erdteile immer im Zusammenhang der angenommenen zivilisatorischen Entwicklungsstufe.
[65] [FOLIE 20] In der Kirche Mariä Heimsuchung in Rettenbach bei Deggendorf wurden 1789 im Langhaus die Erdteile gemalt, also dort, wo das Volk saß. Diese verherrlichen Maria während ihrer Apotheose. Marion Romberg schreibt zur Interpretation:
[66] „Während im Chor die Verkündigung an Maria dargestellt ist, ist das Langhausfresko der Apotheose der Gottesmutter gewidmet. Zentral dargestellt ist Maria auf Wolken kniend vor ihrem Sohn. Unter ihr haben sich auf einem Wolkenkranz Personen aus dem Alten und Neuen Testament und Heilige geschart. Unter dieser himmlischen Szene hat sich die irdische Bevölkerung auf Erden auf den Stufen zu einer monumentalen Tempelarchitektur um einen Altar versammelt. Teil dieser Menschenmenge, die sich aus geistlichen und weltlichen Würdenträgern wie auch aus Vertretern des einfachen Volkes zusammensetzt, sind die vier Erdteile. Durch ihre Kleidung und Physiognomie stechen sie aus der Gruppe hervor: ein Mohr, ein Indianer und ein Türke. Europa kniet zur Seiten des Papstes.
[67] Die Rettenbacher Erdteile gehören zu einer kleinen Gruppe von Kompositionen, in denen die Erdteile unmittelbar im Bild mit Vertretern der lokalen Bevölkerung dargestellt werden. Gemeinsam fungieren sie als Bezugspunkt des Betrachters.“
[68] Die Erdteilallegorien sind deshalb von besonderem Interesse, weil sie sich keineswegs nur in kirchlichen oder weltlichen Palästen finden, sondern auch in einfacheren Profanbauten und Kirchen. Unter letzteren bilden die Dorfkirchen und teilweise Wallfahrtskirchen den zahlenmäßig größten Teil aus. Räumlich bezieht sich diese Bemerkung auf den Kernraum des Barock, das heißt den Süden des Heiligen Römischen Reichs inklusive Tirol und Südtirol.
[69] Oft hängt der Umstand, dass in einer Dorfkirche das Thema der vier Erdteile gewählt wurde, mit dem Gedanken der Christianisierung der Erde zusammen. Hier wird eine Verbindung zur christlichen Kirchengemeinde vor Ort geschaffen. Nicht immer sind die vier Personifikationen von viel „Volk“ umgeben, oft bedeuten sie gemeinsam, wenn sie z. B. die hl. Eucharistie verehren, einfach „christliche Menschheit“. Selbst der Türke mit Turban und Halbmond wird so vereinnahmt. Das heißt, die Menschheit wird zum Volk Gottes oder alle sind im Grunde Völker Gottes.
[70] Da diese Befunde durch unser Projekt räumlich radiziert sind, wäre es prinzipiell möglich, textliche Quellen, in denen von Volk, Volksaufklärung etc. die Rede ist, mit demselben Raum abzugleichen, auch wenn sich direkte Einflüsse oder Rezeptionen selten nachweisen lassen. Aber die Botschaften könnten sich ähneln.
[71] Mein Ansatzpunkt sind die Erdteilbilder, weil dies unser Projekt war, aber man könnte ebenso gut von vorneherein und ganz generell bei kirchlichen (dorfkirchlichen) Bildprogrammen ansetzen, da die religiösen Kontexte (Geschichten der Bibel, Geschichte des Christentums, Mission, Theologie, Katechismus) ungezählte Anlässe boten, „Volk“ darzustellen. Wenn wir Begriffs- und Bedeutungsgeschichte sozialhistorisch verstehen wollen, müssen wir jedenfalls die Untersuchungen auf diese und andere Bildwelten ausdehnen und mit den textlichen Quellen konfrontieren.
[72] Jedenfalls plädiere ich dafür, auch für die Zeit der Aufklärung die Verbindung zwischen „Volk“, „Christentum“ und Selbstcharakterisierung als „auserwähltes Volk“, das womöglich dann eine weltlich-missionarische, sprich zivilisatorische Mission angedichtet bekommt, stärker auszuleuchten.
[73] Zum Schluss dieser selektiven Zugänge, die ich präsentiert habe und die keine lückenlose „Beweisführung“ darstellen, möchte ich zur anfänglichen Hypothese von der „Zurichtung des Volks“ zurückkehren.
[74] In dem „Augenblick“, in dem (revolutionär) das Volk zum Souverän und zur politischen „nation“ wird, verliert es jene Freiheit, die es als unbotmäßiges Volk in der Frühen Neuzeit besaß, weil es zugleich zum staatstragenden Staatsvolk wird. Die amerikanische Verfassung von 1787 und die französische Déclaration von 1789 stellen jeweils eine Staatszielbestimmung an den Anfang. Das wischt, jedenfalls auf dem europäischen Kontinent, die Legitimität lokaler oder regionaler Zielvorstellungen des „Volks“ hinweg.
[75] Man muss die Frage stellen, ob das „Volk“ in der Frühen Neuzeit nicht viel schlagkräftiger war – oft im wörtlichen Sinne – als nach der Aufwertung zur politischen Nation? Nun bleibt die Frequenz von Volksaufständen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts recht hoch, insbesondere auch in Frankreich, andererseits hat die Revolutionsepoche inklusive der Napoleonischen Kriege viel von jenen Strukturen zerstört, innerhalb derer das frühneuzeitliche „Volk“ agierte.
[76] Die am Beispiel des Deutschen gezeigten Zusammensetzungen mit „Volk-“, sei es in der Bedeutung eines genitivus subiectivus oder obiectivus, steigern sich quantitativ erst nach 1830, teils erst mit 1848. Die im 18. Jahrhundert begonnene Zurichtung des Volks als Staatsvolk, das Akteur der Zivilisationsgeschichte ist, das Träger von Liedkultur und Literatur ist usw., das zugleich Aufklärung verdient aber auch benötigt, trägt Jahrzehnte später immer mehr Früchte.
[77] Es handelt sich zwar um eine Zurichtung, die aus dem „Volk“ der frühen Neuzeit ein anderes macht, aber dieses „Volk“ bleibt im Kontext des Denkrahmens der europäischen Zivilisation, deren Konzept und Geschichte die Aufklärung zuerst schrieb.
[78] Es ist kein „populistisches“ Volk; im Vergleich dazu erleben wir im Jahre 2018 unter den Hieben einer Marine le Pen, eines Viktor Orbán, eines Matteo Salvini, eines Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache, eines Geert Wilders und der zwei deutschenTriumvirate aus Dobrindt, Söder und Seehofer bzw. Gauland, Weidel, von Storch, – um nur wenige unter Außerachtlassung der Erdoğans, Dutertes oder Trumps der Gegenwart zu nennen – eine Reduktion des „Volks“ auf einen vorwiegend von Angst beherrschten Kollektivkörper, demgegenüber sie sich als Schutzherr oder Schutzmadonna gerieren.
[79] Wenn wir heute fragen, was „Volk“ ist oder sein soll, stehen wir wieder an einem Anfang.
Dokumentation:
[1] Rudé, George (1977): Die Volksmassen in der Geschichte. England und Frankreich 1730-1848. Frankfurt u.a.
[2] Vgl. Mosser, Alois (Hg.) (2001): ‚Gottes auserwählte Völker‘. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte. Frankfurt (Pro Oriente. Schriftenreihe der Kommission für südosteuropäische Geschichte; 1). Darin: Schmale, Wolfgang (2001): Politischer Messianismus und Nationsbewußtsein in Frankreich vom Mittelalter bis zur Résistance, S. 143–160.
[3] Pierre Richelet: Dictionnaire françois: contenant les mots et les choses, plusieurs nouvelles remarques sur la langue françoise … : avec les termes les plus connus des arts et des sciences … Verlag J.H. Widerhold, 1680. Digitalisat der Universität Lausanne: https://books.google.at/books?id=AME-AAAAcAAJ.
[4] Man kann den Satz von Richelet z. B. in Google Books eingeben; dann werden verschiedene Auflagen dieses Dictionnaire gelistet, in denen sich der Satz auch noch im 18. Jahrhundert regelmäßig findet, außerdem gibt es bibliografische Einträge zu sprachgeschichtlichen Arbeiten mit kritischen Bemerkungen zu dem Satz.
[5] Asch, Ronald G. (2001): An Elect Nation? Protestantismus, nationales Selbstbewußtsein und nationale Feindbilder in England und Irland von zirka 1560 bis 1660. In: Alois Mosser (Hg.): ‚Gottes auserwählte Völker‘. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte. Frankfurt (Pro Oriente. Schriftenreihe der Kommission für südosteuropäische Geschichte; 1), S. 117–141.
[6] Böning, Holger; Siegert, Reinhart (1990-1994): Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, 4 Bände. Stuttgart-Bad Cannstatt.
[7] Schmale, Wolfgang; Romberg, Marion; Köstlbauer, Josef (eds.) (2016): The Language of Continent Allegories in Baroque Central Europe. Stuttgart.
Der Text dokumentiert meinen Vortrag „Die Aufklärung, das ‚Volk‘ und wir heute“ am IZEA, 2. Juli 2018.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Volk – Geschichte seiner Zurichtungen. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/volk, Eintrag 02.07.2018 [Absatz Nr.].