[1] Historisch gesehen war so etwas wie eine Europäische Union eine zivilgesellschaftliche Vision. Sie entstand dort, wo Geschichte „von unten“ gemacht wurde: In den Revolutionen von 1848, in der Pazifismusbewegung, die aus 1848 hervorging, bei den Menschenrechtsaktivist/innen, die sich seit 1898 in Menschenrechtsligen organisierten, bei den Vereinen zur Unterstützung der Völkerbundidee schon im Ersten Weltkrieg, bei den Frauenrechtlerinnen, im europäischen Widerstand während des Zweiten Weltkrieges, in den Europäischen Bewegungen seit 1945.
[2] Ohne die Beharrlichkeit der Zivilgesellschaft bis zum Ende der 1950er Jahre und ihre emotionale Zuwendung zu Europa wäre es nicht zur Europäischen Integration gekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die Politik die Verantwortung für die Integration und schuf erfolgreich die europäischen Institutionen: Europarat, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft(en) bis hin zur heutigen EU – die viele Bürger/innen kalt lässt. Wie konnte das passieren?
[3] Aus dieser Kurzgeschichte der Europäischen Integration lässt sich folgende Lehre ziehen: Die Bürger/innen, die Zivilgesellschaft, wurde von der Politik abgehängt und muss nun wieder als treibende Kraft auftreten können und die EU-Reform mitbestimmen. Die Wiedergewinnung dieser Rolle als Akteur/in ist Voraussetzung für ein Gelingen der EU-Reform. Ohne dass „wir“ uns wieder als europäische Bürger/innen fühlen, wird die Reform scheitern.
[4] Fragen wir zuerst, was wir bereits haben und worauf aufgebaut werden kann, und was dazukommen muss:
[5] Als EU-Bürger/in ist man formal durch den EU-Pass ausgewiesen, man besitzt das Wahlrecht zum Europäischen Parlament. Lebt man innerhalb der EU, aber außerhalb des Landes, dessen nationale Staatsbürgerschaft man besitzt, hat man am Wohnsitz kommunales Wahlrecht und kann das Wahlrecht zum Europaparlament im Wohnsitzland ausüben.
[6] Der Europäische Vertrag garantiert die Freizügigkeit, sich in dem Unionsland niederzulassen, wo es jemand möchte. Wer im Schengenraum lebt und reist, wird bei Grenzübertritten im Normalfall nicht mehr kontrolliert, auch wenn Ausnahmen zulässig sind, von denen aktuell Deutschland, Österreich, Dänemark und weitere Länder zur Kontrolle der Migration aus Fluchtgebieten Gebrauch machen. Bei der Einreise an den EU-Außengrenzen sind eigene Kontrollschalter für EU-Bürger/innen eingerichtet worden – dort geht die Einreise schneller vonstatten.
[7] EU-Bürger/innen besitzen das Petitionsrecht, sie können außerdem unter bestimmten Voraussetzungen vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg direkt klagen, wenn EU-Recht ihre individuellen Rechte verletzten sollte. Viele EU-Förderprogramme lassen eine individuelle Antragsstellung zu, z. B. im Bereich von Wissenschaft und Mobilität. Das ist nicht wenig, und die Aufzählung ist nicht vollständig.
[8] Das haben wir. Und was nun muss dazukommen?
[9] Ideell geht es um die persönliche Haltung. Die kann ich nicht auf „die Politik“ abschieben, sondern hier muss ich selber aktiv sein. Fühle ich mich selber als Europäer oder Europäerin? Ca. 18 Millionen von EU-Bürger/innen machen Gebrauch von der Freizügigkeit und leben in einem anderen Unionsstaat. Manche leben und arbeiten im Lauf der Zeit in mehreren Unionsstaaten.
[10] Europäer/in zu sein, setzt voraus, sich an verschiedenen Orten in der Union heimisch fühlen zu können und zu wollen. Es setzt Freude an der sprichwörtlichen europäischen Vielfalt voraus, Freude daran, mit der Vielfalt alltäglich umzugehen, sie zu leben, sie zu erlernen. Europäische Solidarität und Mitmenschlichkeit als handlungsleitende Maxime erhält hier einen praktischen Wert, der individuell gelebt werden kann.
[11] Zukünftig geht es um eine bewusste Bejahung des EU-Bürgers, die im EU-Vertrag verankert sein muss und sich zuerst in einer Erweiterung der Mitbestimmungsrechte ausdrücken sollte: In den letzten Jahren, vor allem unter dem Einfluss der englischen Brexit-Debatte, wurde aus dem EU-Bürger rhetorisch immer öfter der „EU-Ausländer“ oder gelegentlich der „ausländische EU-Bürger“ (!!). Das zeigt einen Rückschritt in den Nationalismus an. Dieser muss gestoppt werden.
[12] Die politischen Rechte der EU-Bürger/innen sollten hingegen deutlich gestärkt werden. Die Wahlen zum Europaparlament erfordern derzeit, dass Abgeordnete des Landes, in dem jemand den Wohnsitz hat, gewählt werden. Das könnte reformiert werden, sodass ein/e Österreicher/in z. B. auch eine/n spanische/n EU-Abgeordnete/n wählen kann, schließlich gibt es ja längst die europäischen Parteifamilien, die das politische Angebot strukturieren.
[13] EU-Bürger/innen sollten in dem EU-Land, in dem sie leben, auf allen Ebenen (kommunal, ggf. Bundesland/Region, nationales Parlament, Europaparlament) wählen dürfen, auch wenn sie die Staatsbürgerschaft von einem anderen EU-Land besitzen. Das nötigt die Parteien auch im nationalen Rahmen, ein wenig europäischer zu denken, weil die Wählerschaft europäischer wäre.
[14] Fundamentale Fragen wie Eintritt in und Austritt aus der Union sollten nicht national oder nur durch den Europäischen Rat und das Europäische Parlament abgestimmt werden. Vielmehr bedürfte es eines europäischen Referendums, an dem alle stimmberechtigten EU-Bürger/innen teilnehmen, denn Eintritt wie Austritt betreffen Alle, nicht nur das betreffende Land, das ein- oder austreten möchte. Dies erzwingt, dass Austritts- und Eintrittsdebatten europäisch geführt werden, wer ein- oder austreten will, muss sich allen erklären und bei allen europäischen Bürger/innen um Zustimmung werben.
[15] Diese Reformen zielen darauf, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Diese ist die eigentliche Heimat der EU-Bürger/innen. Diese Heimat muss zuerst durch im EU-Vertrag verbriefte erweiterte Wahl- und damit Mitbestimmungsrechte geschaffen werden. Die emotional wirksamste Reform wäre die Einführung des EU-Referendums. Im Gegensatz zu heute wären dann alle wahlberechtigten EU-Bürger/innen wieder an allem, was für Europa grundlegend ist, mitbeteiligt. Und es sollte ein Übriges getan werden: Das Wahlalter überall in Europa auf 16 Jahre senken. Dies drückt praktisch aus, was immer behauptet wird, dass Europa die Zukunft der jungen Menschen sei.
Dokumentation:
Zuerst veröffentlicht 2.2.2017: http://www.huffingtonpost.de/wolfgang-schmale/wie-koennen-wir-uns-wiede_b_14386922.html#, unter dem Titel: „Die Politiker sind nicht für unsere Probleme verantwortlich – wir selbst müssen handeln“
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Wie können wir uns wieder als Europäer/in fühlen? In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/wie-koennen-wir-uns-wieder-als-europaeerin-fuehlen, Eintrag 06.02.2017 [Absatz Nr.].