[1] Der späte August 2016 hat alles, um aus einer Liebe zu Florenz eine unsterbliche Liebe zu machen. Ein Vorrat an lichtvollen Bildern legt sich wie von selber an und wird helfen, die grau-tristen Tage, manchmal Wochen, des Wiener Spätherbstes und Winters zu überstehen. Tagsüber ist es heiß, aber der stetig wehende Wind ist angenehm, nachts kühlt es merklich ab, die Morgende erfrischen.
[2] Seit der Verkehr in der Altstadt reglementiert wurde, hat sich der Lärmpegel erheblich gesenkt. Es kommt immer wieder zu Momenten der Ruhe, ja Stille, als würde der Atem für einige Sekunden angehalten, und alles lauscht in die unerwartete Stille hinein.
[3] Die vielen Touristen – Paare, Eltern mit Kindern, Gruppen, Singles – alle gehen entspannt durch die Stadt, als ob die Kunst, die Florenz in unvergleichlicher Überfülle bietet, sie nicht nur in ihren Bann schlagen, sondern zugleich beruhigen, besänftigen würde.
[4] Es ist ja auch unvergleichbar, dieses Florenz! Ob man sich in eines der ‚offiziellen‘ Highlights begibt oder in irgendeinen ehemaligen Palazzo, die z.B. (noch) von der Universität belegt werden, überall – hohe und höchste Kunst. Eine Stadt der Künstler. Feuerwerke der Künstler. Gutes, im Grunde fast immer höchstes Niveau. Wenn etwas, im positiven Sinn, heute „Lärm“ verursacht, dann der multicolore ‚Angriff‘ auf die Sinne in Santa Maria Novella, in Santa Croce, im Palazzo Pitti, oder wo auch immer.
[5] Was – horribile dictu – unerträglich bleibt, sind die Uffizien. Es ist verständlich, dass fast alle Florenz-BesucherInnen, die nicht so nah dran sind wie jemand aus Wien, die Uffizien besucht haben möchten, aber Kunstgenuss stellt sich nicht ein, weil es unmöglich ist, in Ruhe die Werke zu betrachten. In Paris hat der Direktor des Louvre den spürbaren Rückgang der Besucherzahlen, der im Vergleich zum allgemeinen Touristenschwund aufgrund der Attentate in Frankreich überdurchschnittlich ausfällt, nicht nur negativ kommentiert, sondern – zu Recht – darauf hingewiesen, dass man grundsätzlich mehr über die Qualität eines Museumsbesuchs reden müsse. Diese Frage stellt sich längst für alle Spitzenmuseen, aber sie ist in der Praxis schwierig zu beantworten.
[6] Im Museo del Bargello bin ich an einem Morgen kurz nach der Öffnung beinahe allein und schlendere nach Lust und Laune hin und her. Selbst in der Galleria dell’Academia bleibt es möglich, sich auf die Kunstwerke zu konzentrieren, auch wenn täglich rund 6.000 BesucherInnen Michelangelos David (1501-1504) betrachten kommen.
[7] Der Kommerz verkürzt die Skulptur erotisch, aber diese hält das aus. Michelangelo ist wohl eine Skulptur gelungen, die in Proportion, technischer Vollendung, Ausdruck und inhärenter Körperbewegung nicht nur mit den besten Skulpturen der Antike gleichzieht, sondern diese übertrifft.
[8] Während sich im Louvre vor der Gioconda alle gegenseitig behindern, steht die gut fünf Meter hohe Figur des David zudem auf einem kopfhohen Sockel und erlaubt es, sich trotz des Waldes hochgereckter Smartphone-Arme auf Michelangelos Interpretation des biblischen David einzulassen.
[9] Ursprünglich war der David für den Dom in Auftrag gegeben worden, wurde dann aber vor dem Palazzo Vecchio aufgestellt, von wo das Marmororiginal 1873 in die Akademie der Schönen Künste verbracht und auf der Piazza della Signoria durch eine Kopie aus Stein ersetzt wurde.
[10] Michelangelos David war in Florenz keineswegs die erste völlig nackte biblische Figur. In Santa Maria Novella hängt (heute in der Capella Gondi) Brunelleschis nackter Christus (Holz, 1410-1425), Donatello schuf seinen nackten David (heute Museo del Bargello) 1430 (Bronze), Michelangelo hat wahrscheinlich um 1495 einen nackten Gekreuzigten geschaffen, der heute in der Cappella della Maddalena im Museo del Bargello ausgestellt ist. Es handelt sich dabei um eine Zuordnung, die freilich nicht unumstritten ist.
[11] Während Michelangelos David dann doch für den Dom abgelehnt wurde, scheint es ein paar Jahrzehnte später weniger Bedenken gegeben zu haben, denn Bandinellis (Baccio Bandinelli, 1493-1560) „Adam und Eva“ (im Museo del Bargello), die allen antiken Statuen von Göttinnen und Göttern Ehre machen, wurden im Chor aufgestellt, bis sie 1722 als „obszön“ (so das Museum) in die Uffizien und später in den Bargello verlegt wurden.
[12] In der Akademiegalerie wurde David auf sehr spezielle Weise in Szene gesetzt. Man betritt (jedenfalls zur Zeit) durch eine Seitentüre gewissermaßen der Kirchensüdseite einen Raum, der das Langschiff einer Kirche evoziert. Der Weg führt zum ‚Chor‘ durch die vier Sklavenskulpturen Michelangelos auf David zu, der sich gerade in der Konfrontation mit den Sklaven als Sinnbild des autonomen freien Menschen verstehen lässt. Vor ihm verläuft das ‚Querschiff‘, er selbst steht in etwa auf der Begrenzungslinie der ‚Chorapsis‘, also nicht direkt in der Vierung von Lang- und Querschiff, worüber sich die Kuppel befindet.
[13] Die Inszenierung macht durchaus Sinn, denn zum einen zeigt die Galerie im Wesentlichen religiöse Kunst des 14. bis 17. Jahrhunderts, und zum anderen geht es, auch wenn noch so viel anderes hineinspielt, bei David um den biblischen David.
[14] Im ersten Stock, wo unglaubliche Meisterwerke der religiösen Kunst des Spätmittelalters ausgestellt sind, hat sich der Besucherstrom auf ein Rinnsal reduziert. Zum Glück – und doch fast schade, weil sich hier Jahrhunderte und Epochen des Lebens gewissermaßen selber und in höchster künstlerischer Meisterschaft ausstellen. Wer will, kann die Bilder christlich-religiös lesen, aber man ist frei, sie – von mir aus profan und materialistisch – als Zeugen ihrer Epochen zu sehen. Tut man den Künstlern damit unrecht? Nein – sie brachten religiöses Zeugnis und Lebenszeugnisse ihrer Zeit zusammen. Manche Farbgebungen sind geradezu poppig!
[15] Was ist der schönste Ort in Florenz? Das ist absolut subjektiv. Mir ist Santa Maria Novella und der große Platz davor, das Pentagon, am liebsten. Auf dem Platz merkt man nichts vom 1932-1935 unter Mussolini errichteten Hauptbahnhof mitsamt dem Lärm dieses Areals. Die spätgotische, in die Renaissance hinübergeglittene Kirche und die Klosteranlagen schirmen völlig gegen diesen Modernismus ab, als erübrige und erledige er sich wie von selbst.
[16] Die absolut vollkommene Fassade der Kirche von Leon Battista Alberti aus den Jahren 1456-1470 ruht in ihrer Authentizität, die sie von den nicht vollkommenen, aber perfekten, allzu perfekten Fassaden, die Santa Croce und dem Dom von einem nach einem perfekten Mittelalter strebenden 19. Jahrhundert vorgesetzt wurden, ergreifend absetzt.
[17] Florenz‘ künstlerische Einzigartigkeit hat mit den mäzenatischen Familien, unter denen die Medici eine besondere und herausragende Rolle spielten, zu tun, denn es lohnte sich der Wetteifer der Künstler, noch besser als die anderen zu sein. Nirgendwo war auf so dichtem Raum der Wettbewerb so immens und führte dermaßen zum Erfolg. Aber das macht Florenz unter den Schönen Italiens und Europas auch ein wenig einsam.
[18] Die vielen Details, die beim Spazieren durch die Stadt ins Auge fallen, holen ein wenig auf den ebenen Boden zurück – bis hin zu Zeichen des Zerfalls.
[19] Florenz ist neben dem Vielen, was die Stadt bedeutet, die erste europäische Stadt gewesen, die im öffentlichen Raum konsequent heroische Männlichkeit inszenierte und zur Schau stellte. Hotspot ist die Piazza della Signoria mit dem Reiterstandbild des Cosimo I. de’Medici, dem Neptunbrunnen, dem David, dem Herkules, und im rechten Winkel dazu verlaufend die Loggia dei Lanzi mit unter anderem Cellinis Perseus, dessen Entstehung Cellini in seiner Autobiografie als Drama inszeniert. In der Verlängerung zum Arno hin folgen die Uffizien, die außen nach Gedanken von Vasari mit einer Vielzahl von Statuen ‚großer Männer‘ im 19. Jahrhundert ausgestattet wurden.
[20] Die Darstellung heroischer Männlichkeit bezieht sich auf mythologische, biblische und historische Gestalten. Und wenn sie sich im Machtzentrum der Stadt verdichtete, so streute sie zugleich durch die ganze Stadt. Im Innenhof, um ein Beispiel zu nehmen, jedoch unvermeidlich in der Blickachse der zwei einander gegenüberliegenden Tore zum Palazzo Medici-Riccardi, steht ein Orpheus (von Baccio Bandinelli), der im Morgenlicht Strahlen von sich wirft. Eine solche Lichtinszenierung wurde/wird Michelangelos David am Palazzo Vecchio nicht zuteil. Neuerdings, das heißt abgesehen vom ‚kleinen‘ Bronzedavid auf dem 1865-1870 eingerichteten Piazzale Michelangelo, steht ein weiterer David in den Gartenanlagen der Villa Salviati oberhalb Florenz‘: David und Jonathan, fünf Meter hoch, Marmor, von Filippo Dobrilla. Vom Standort blickt man auf Florenz zur Kuppel der Synagoge.
[21] Brunelleschis mutige Domkuppel erinnert mich immer an die auf ihre Weise herrliche, zeitgleich konstruierte Kuppel des Mausoleums Gur Emir von Timur in Samarkand. Während ich in der Menge zwischen Dom und Baptisterium stehe, belebt sich plötzlich die Szenerie. Zwei junge Frauen mit Hidjab stehen vor einer der Bronzetüren der Taufkapelle und machen vergnügt Selfies. Ihre Vergnüglichkeit überträgt sich auf die Menschen rings um sie herum, mehrere fragen die beiden Frauen, ob sie sie fotografieren dürften? Geduldig und immer wieder lächelnd stimmen die beiden zu, bis alle ihr Foto haben.
[22] Wenige Schritte weiter, auf der Höhe der Nordseite des Doms, ein muslimisches Paar: Er in einem gelben kurzärmeligen Hemd, die obersten Knöpfe geöffnet, kurze Hose. Sie: Kopftuch, langärmelige Bluse mit dezent-farbigen Blumenmuster, lange dunkle Hose, geschlossene Schuhe. An einem anderen Tag zwei Frauen nahe der Piazza della Repubblica mit schwarzer Burka und fröhlich-farbigen Turnschuhen. Niemand stört sich daran, die auch in Italien öffentlich geführten Diskussionen von Kopftuchverbot bis Burkiniverbot scheinen hier fern. Das schöne Florenz ist für alle da.
Dokumentation:
Fotos: Wolfgang Schmale; Daten und Größenangaben sowie damit verbundene Fakten sind den Erläuterungen in den Museen (Beschriftung, Museumsführer) und dem Florenz-Baedeker entnommen.
Zur Inszenierung heroischer Männlichkeit in Florenz: Wolfgang Schmale: Nacktheit und männliche Identität. Verhandlungen im öffentlichen Raum, in: Elisabeth Leopold/Tobias Natter (Hg.): Nackte Männer von 1800 bis heute (Ausstellungskatalog Wien), München 2012, S. 27-35
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Florentiner Sudelbuch. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/florenz, Eintrag 04.09.2016 [Absatz Nr.].