Am heutigen 27. September 2016 wäre meine Mutter, Dr. Irene Schmale-Ott, hundert Jahre alt geworden. Sie starb neun Tage nach ihrem 94. Geburtstag 2010. Wenn ich ihr heute meinen Blog widme, dann als Historiker, der auch im Feld der historischen Gender Studies arbeitet und der im Leben seiner Mutter nicht nur das Leben seiner Mutter, sondern auch das einer Frau sieht, die sich selbst zwar nie als Feministin definierte, aber an verschiedenen Stellen für die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Frauen in der Gesellschaft eintrat und dies in bestimmten Zusammenhängen sehr energisch-kämpferisch tat. Haupttendenzen der, aber auch Alternativen in der Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts, das ist Teil dieses Lebens von fast einem Jahrhundert.
Geboren im Ersten Weltkrieg, Weimarer Republik, „Drittes Reich“, Krieg, Promotion im Zweiten Weltkrieg, eigene Familie in der ‚Wirtschaftswunderzeit‘ und angesehene Privatgelehrte, ehrenamtliche Tätigkeit als Präsidentin der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands, Bundesverdienstkreuz und kirchlicher Orden, publizistisch tätig und im besten Wortsinn streitlustig bis ins höchste Alter, wenn es um die Stellung von Frauen in der Gesellschaft ging.
Viele andere Frauen haben sich in ihrem Leben ebenfalls für Frauenrechte, Geschlechtergerechtigkeit und Gleichbehandlung eingesetzt. Sie waren keine Berühmtheiten wie Alice Schwarzer, aber wenn sich die deutsche Gesellschaft zu mehr Geschlechtergerechtigkeit entwickelt hat, ist dies in erster Linie den vielen Frauen zu verdanken, die sich nicht haben beirren lassen, die dies praktisch gelebt haben, um es zu leben, nicht, um bekannt zu werden.
Das Leben führte meine Mutter in Bastionen der hegemonial-männlichen Gesellschaft hinein. Ich meine damit vor allem das Wissenschaftssystem und die katholische Kirche, zwei Lebensbereiche meiner Mutter. Die Kirche ist immer noch eine solche Bastion, ersteres hat sich zu wandeln begonnen.
Zum 90. Geburtstag schenkten wir ihr das Buch „Geboren 1916. Neun Lebensbilder einer Generation“ – in der Hoffnung, sie würde ihr Leben selber aufzeichnen, wie sie es einmal gesagt hatte. Dazu kam es jedoch nicht mehr.
Familiäre Sozialisation
Familiär hat Irene Ott es wahrscheinlich besser getroffen als viele andere Frauen. Sie war das sechste und jüngste Kind. Das Foto zu diesem Blogbeitrag zeigt sie mit ihren Eltern und allen Geschwistern, sie sitzt bei ihrem Vater auf dem Schoß. Als einziges der sechs Kinder studierte sie.
Über ihren Vater, einen leidenschaftlichen Bergsteiger und Skifahrerpionier, kam sie ans Bergsteigen. Bergsteigerinnen gab es in der Zwischenkriegszeit einige, aber dieser Sport war noch überwiegend ein männlicher. Die Bergsteigerrhetorik war männlich, so manche dieser Sprüche hatte auch meine Mutter drauf. Gegen sich selbst und ihren Körper war sie „hart wie ein Mann“ – Sprünge in eiskalte Bergseen, eine geschickte Kletterin, kompromisslos gipfelorientiert. Verletzungen, Schmerzen – war da was? Nein, war ihre Haltung. Wo hatte sie diese Haltung gelernt?
Anders als ihre Schwestern ging meine Mutter auf ein Gymnasium, ein gemischtgeschlechtliches, wo sie sich gegenüber Jungen behaupten musste. Sie hatte zwei Brüder, wovon der eine 1932 nach Kanada auswanderte. Sie lernte von den männlichen Familienmitgliedern, sie musste sich behaupten. In vielem, so denke ich heute, entsprach ihre Sozialisation sehr viel mehr jener für Jungen, und meine Mutter profitierte von den wenigen liberalen Jahren, die die Weimarer Republik bereithielt, in Bezug auf ihre Sozialisation.
1953 heiratete sie einen Mann, der den bald folgenden Kindern ebenso die Windeln wechselte oder den Kinderwagen schob wie sie, der (gerne) kochte und für den Putzen kein unverständliches chinesisches Wort war – und der trotz der Hausmanneigenschaften auch dem entsprach, was in der Nachkriegszeit eher von einem Mann erwartet wurde, wie handwerkliches Geschick, Sportlichkeit, zu gewissen Gelegenheiten auch Trinkfestigkeit, Führerschein und flotte Fahrweise, beruflicher Erfolg. Es gab beruflich stark fordernde Phasen, in der meine Mutter die Familie managte, aber mein Vater dankte es ihr und übernahm mit zunehmenden Alter (er war ein paar Jahre jünger und starb 2015) den Haushalt nach und nach ganz. Bis 90 war meine Mutter sehr agil, dann aber schlich sich das Leben ganz, ganz langsam aber unaufhörlich aus ihr heraus.
Beruf
Mit dem Sommersemester 1939 begann Irene Ott ein Studium in Latein, Deutsch, Geschichte – in Marburg, in München, Wien und Freiburg im Breisgau. Sie schloss die Studien mit der Promotion 1942 an der Universität Marburg (Rektor und Doktorvater Theodor Mayer – s.u.) ab. Ihr Interessensschwerpunkt war die mittelalterliche Geschichte geworden, wobei sie sich, gestützt durch ihre beiden philologisch-literaturwissenschaftlichen Fächer, früh auf mittelalterliche Handschriften und deren wissenschaftlich-kritische Edition spezialisierte. Aber sie hatte weit gespannte Interessen und hörte z. B. auch einmal eine Vorlesung bei dem Philosophen Heidegger – der ihr überhaupt nicht zusagte und der sie auch in viel späteren Jahren immer noch zu satirischen Bemerkungen veranlasste.
Ein Jahr später, 1943, erwarb sie in Freiburg einen weiteren Abschluss, die „Wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an Höheren Schulen“, nachdem sie vor dem Studium nach ihrem Abitur zunächst eine Ausbildung als Volksschullehrerin absolviert hatte.
Promovierte Frauen gab es durchaus, aber sie stellten eine kleine Minderheit dar, speziell in der Geschichtswissenschaft, deren ‚staatstragender‘ Charakter frauenfeindlich war.
1943 stand meine Mutter vor einer Entscheidung. Sollte sie Lehrerin werden? Was zu diesem Zeitpunkt meistens eine Entscheidung für ein eheloses Leben bedeutete. Noch 1966, als ich aufs Gymnasium kam (ein humanistisches, das zum ersten Mal auch Mädchen aufnahm) waren alle der (wenigen) Lehrerinnen, die wir hatten, unverheiratet geblieben. Eine der Schwestern meiner Mutter ging diesen Weg, nicht als Lehrerin, aber als Hauswirtschaftsfachfrau und Ökotrophologin, sie leitete nach dem Krieg lange Zeit zusammen mit einer Freundin eine Einrichtung des Müttergenesungswerks. Ihre älteste Schwester hatte geheiratet, wurde Kriegswitwe und heiratete nie wieder, eine berufstätige alleinstehende Frau.
Die Entscheidung konnte meine Mutter vertagen, denn sie erhielt ein Stipendium für eine ihrer wissenschaftlichen Ausbildung gemäße Tätigkeit – in einer geschichtswissenschaftlichen, schon von der Gründungsidee her staatstragenden, Männerbastion: den Monumenta Germaniae Historica (MGH). Die MGH war damals in Berlin angesiedelt, Direktor war der schon genannte österreichische Historiker Theodor Mayer, damals eine zentrale Figur des deutschen Wissenschaftssystems, der unter anderem auch Mitglied der NSDAP war.
Im Zweiten Weltkrieg arbeiteten bei den MGH vier Frauen, darunter meine Mutter. Prof. Dr. Martina Hartmann, Präsidentin der MGH, hat deren Geschichte aufgearbeitet (s. u. Dokumentation). Dass es im Zweiten Weltkrieg bei den MGH gewissermaßen Frauenpower gab, war nicht einer emanzipatorischen Kehrtwendung dieser 1819 von Freiherr vom Stein gegründeten Einrichtung zu verdanken, sondern dem Umstand, dass Männer kriegsbedingt fehlten.
Infolge dessen wurden die Frauen nach dem Krieg aus den regulären Stellen der MGH herausgedrängt. Meine Mutter wurde im Herbst des Jahres 1950 bei den MGH für entbehrlich erachtet. So verfolgte sie zunächst den Weg zur Lehrerin weiter, war zeitweise auch als „Nebenlehrerin“ an einem Mädchenrealgymnasium tätig, erhielt dann ein Stipendium für Rom, wo sie meinen Vater, den sie in München flüchtig kennengelernt hatte, richtig kennen und lieben lernte, war 1953 kurz wieder als „Studienassessorin“ tätig – und wurde dann vom Schuldienst ausgeschlossen: Nicht, weil sie sich etwas hätte zu Schulden komme lassen, sondern weil sie – heiratete… Mein Vater war zum Zeitpunkt der Heirat übrigens arbeitslos und jobbte, wie man heute sagen würde. Soviel zur Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Frauen in der frühen Bundesrepublik Deutschland.
Meine Mutter erzählte diese Vorgangsweise immer mit großem Ärger, denn sie hätte sich neben Kindern und Familie eine Berufstätigkeit in Teilzeit gut vorstellen können. Sie hielt sich aber nicht damit auf, sondern entschied, da sie bei der Heirat knapp 37 Jahre alt war, für Familie und wissenschaftliches Arbeiten als Privatgelehrte.
Eine kämpferische Katholikin
Meine Mutter kam aus einer katholischen Familie, der Katholizismus war bei ihr fest verwurzelt. In den zwölf nationalsozialistischen Jahren half ihr das, den inneren Kompass zu behalten. In den 1970er-Jahren begann eine neue Phase, das Engagement in der Katholischen Frauengemeinschaft. Zunächst überlegte meine Mutter die Rückkehr in den Schuldienst und war mit der Rektorin eines Mädchengymnasiums im Gespräch, doch schließlich entschied sie sich für das ehrenamtliche Engagement.
1981 wurde sie Präsidentin der kfd, die bis heute einer der größten deutschen Vereine mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern in Deutschland ist. In dieser Zeit besuchte sie systematisch die deutschen Bischöfe und stritt mit ihnen über die Rolle von Frauen in der Kirche. Sie war entschieden für das Frauenpriesteramt. Zugleich war sie intensiv publizistisch tätig und setzte sich mit der Vereinbarkeit der vielen Rollen, die Frauen ausfüllten, ausfüllen mussten, ausfüllen konnten, auseinander – Frau sein, Familie, Beruf. Das waren lebensweltliche Figurationen, die sie selber erfahren und in denen sie sich selbst-reflexiv positioniert hatte. Sie spürte der Bedeutung von Frauen in der frühchristlichen Kirche nach und schrieb oder gab heraus populärwissenschaftliche Werke, die die Forderungen nach einer ganz anderen Rolle von Frauen in der katholischen Kirche und in der Gesellschaft historisch unterfütterten.
Schaut man sich die katholische Kirche von heute an, kann man nur sagen, dass sich die ganze Mühe nicht gelohnt hat. Ich sehe das nicht als persönliches Scheitern meiner Mutter. Ich denke, es war in den 1980er-Jahren sehr wichtig, dass eine überzeugte Katholikin in einem hohen Ehrenamt den deutschen Bischöfen gegenüber für die Frauen in der Kirche eintrat, denn der Papst – Johannes Paul II. – vermochte zwar die Welt zu faszinieren, aber theologisch war er erzkonservativ.
Das Leben der Wissenschaftlerin Irene Schmale-Ott ist noch nicht ganz abgeschlossen. Ein Editionsprojekt, das sie gewissermaßen in die Ehe mit einbrachte, führte meine Mutter, später mit Unterstützung meines Vaters, bis zur Manuskriptreife aus und übergab es den MGH, wo es seit langem der Publikation harrt. Gemeint ist die Weltchronik des Frutolf von Michelsberg. Martina Hartmann hat sich den Abschluss und die Publikation des Projektes zum Ziel gesetzt, wobei neue technische Methoden zur Untersuchung mittelalterlicher Manuskripte wie die Multispektralanalyse zum Einsatz kommen.
Dokumentation:
Martina Hartmann: Aus der Reichshauptstadt auf die „Insel der Seligen“. Die Mitarbeiterinnen der Monumenta Germaniae Historica in Berlin und Pommersfelden 1943-1945. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 2014, Band 77 [Heft 1], S. 27-41.
Martina Hartmann: Die Stunde der Frauen? Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der MGH nach dem Ersten und im Zweiten Weltkrieg. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 76 (2020/2), S. 653-698 zuzügl. 10 Seiten dokumentarische Fotografien.
Gert Dressel, Günter Müller (Hg.): Geboren 1916. Neun Lebensbilder einer Generation. Wien 1996.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Jahrgang 1916 – Meiner Mutter Dr. Irene Schmale-Ott zum 100. Geburtstag. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/irene-schmale-ott, Eintrag 27.09.2016 (aktualisiert 31.05.2021) [Absatz Nr.].