Europatagebuch 3. bis 7. Februar 2016
[1] Dieses Mal führt mich mein erster Weg in Paris zur Place de La République. Das Republik-Denkmal ist bis zur Höhe einer nach oben ausgestreckten Hand mit Zetteln und Sprüchen, mit Kuscheltieren, die an den Szenen aus der Französischen Revolution darstellenden Bronzetafeln aufgesteckt sind, und am Boden mit Kerzen bedeckt. Es ist zum gegenwärtigen Erinnerungsort an die Terrorattentate vom 13. November 2016 geworden. Die Sprüche sind manchmal tief religiös, manchmal pazifistisch, manchmal radikal, manche Mohammed-Karikaturen finden sich auch. In erster Linie geht es um Anteilnahme an den vielen Opfern.
[2] Früher, bei den Paris-Exkursionen, stand ich hier mit Studierenden und wir diskutierten über die Französische Revolution in all ihren Ausprägungen und Facetten. Das 1883 eingeweihte Denkmal ist typisch für seine Zeit, es gehört in die Phase der Festigung und Bewährung der Dritten Republik. In der ersten Hälfte der 1890er-Jahre gab es mehrere anarchistische Attentate auf die Republik – einem fiel der Staatspräsident Carnot am 24. Juni 1894 zum Opfer. Die Republik erlebte einen Rechtsruck.
[3] Wechsel zum linken Seineufer, zur Tour Montparnasse. Es gibt viele Türme in Paris, auf die man steigen und von denen man schauen kann, jeder Ausblick ist anders. Jener von der Terrasse des Montparnasse-Hochhauses hat viel für sich, man ist mehr in der Mitte der Stadt als auf dem Eiffelturm oder dem Arc de Triomphe und immerhin über 210 hoch.
[4] Das Wetter wechselte stürmisch zwischen kleinen Wolkenbrüchen und Sonne, die Farben wechselten zwischen regennassem Grau und goldenem Widerschein der Sonnenstrahlen. Das ‚himmlische‘ Wetterdrama passte bestens zu diesem grau-braun-schwarzen Turm.
[5] Wie oft habe ich ihn vom Jardin du Luxembourg in allen Wetterlagen von unten wahrgenommen. An diesem Februartag nun warf er einen mehrere hundert Meter langen Schatten, als die tiefstehende Sonne die Wolken für ein paar Minuten vertreiben konnte, bis an den Rand des Jardin du Luxembourg. Weiter in der Ferne leuchtete westlich von Sacré-Cœur ein Regenbogen, und weiter nach Westen schloss sich La Défense an, ein riesiger hoher Haufen aus Beton, Stahl und Glas. Der Louvre zog sich wie ein mattgoldenes Band an der Seine entlang, davor (vom Turm aus) erhob sich lichtstark die goldene Kuppel des Invalidendoms. Saint-Sulpice, wie immer: mächtig; Notre-Dame: weiter entfernt, grauer, kleiner wirkend. In der Verlängerung das Institut du Monde Arabe, dessen aktuelle Osiris-Ausstellung sehr beeindruckend ist. Und beim Blick senkrecht vom Turm hinunter der Montparnasse-Friedhof, der zu dieser Jahreszeit wie ein großes dunkles Karree in der Stadt liegt.
[6] Osiris führt in eine Geschichte aus der Antike, die auch eine europäische ist. Unter den griechischen Ptolemäern flossen ägyptische und griechische Traditionen ineinander, im Lauf der Zeit, vor allem um und nach 1800 führte die französische und allgemeiner europäische Ägyptomanie zu einer ästhetischen und formalen Renaissance der Figuren und Geschichten rund um Osiris. Ein kleiner Bildband unter dem Titel „Paris Égyptien“ von Jean-Marcel Humbert zeigt die ‚Gegenwart‘ Ägyptens in Gestalt von Obelisken, Sphinxen, Skulpturen, Ornamenten usw. im öffentlichen Raum in der Stadt. Würde man noch die Ausstattung von Privathäusern und Sammlungen ägyptischer Artefakte hinzunehmen, hätte man ein sogar quantifizierbares Bild von der visuellen Präsenz Ägyptens vom 17. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart, das die Verflechtung der historischen Räume unmissverständlich zum Ausdruck bringt.
[7] Zur gleichen Zeit zeigt das Musée d’art et d’histoire du Judaïsme eine Ausstellung zu Moses in der jüdischen und christlichen Tradition. Beide Traditionen trafen immer wieder in der Geschichte aufeinander und beeinflussten sich gegenseitig. Die Ausstellung schlägt eine Brücke in die USA, wo Moses als Identifikationsfigur große Bedeutung im Kampf für die Rechte der afroamerikanischen Bevölkerung besaß. Keine Brücke wird in den Islam geschlagen, wo Moses als Prophet große Bedeutung besitzt. In persischen Handschriften gibt es figürliche Darstellungen (z.B. im National Museum Krakau, Sammlung Czartoryski), man hätte sich also nicht mit der Kalligraphie des Namens Moses ‚begnügen‘ müssen. Das heißt, da die Ausstellung den Schwerpunkt auf die figürlich-bildlichen Darstellungen von Moses-Szenen und deren sich entwickelnde Interpretation im Lauf der Zeit legt, hätte es sogar passende visuelle islamische Quellen gegeben. Die Transkription von Texten, die Moses in der islamischen Tradition betreffen, hätte gleichfalls in der Logik der Ausstellung liegen können. So der so bringt auch diese Ausstellung die Verflechtungen zwischen den historischen Räumen in Erinnerung.
[8] Und damit ist noch einmal eine Verbindung zu den Attentaten 2015 in Paris zu schlagen, die zudem in einer sehr langen Reihe stehen, ‚beginnend‘ mit dem Attentat in der rue des Rosiers im Marais vom 9. August 1982. Die Attentate haben auch eine geschichtspolitische Mission, die leicht übersehen wird. Sie zielen unter anderem darauf, den Raum Europas und des Mittelmeers, der historisch zusammengehört, zu trennen. Ein Mittel ist, Touristen aus Angst vor Attentaten vom Reisen abzuhalten und sich mit den regionalen Kulturen und deren Verflechtungen miteinander vertraut zu machen. In Paris ist die Zahl der Touristen nach dem 13.11.15 bis jetzt deutlich zurückgegangen. Generell wird es, ich sage es vorsichtig: „atmosphärisch“ schwieriger, sich objektiv mit der historischen und gegenwärtigen Bedeutung des Islam in diesem Europa einschließenden Raum zu befassen. Der Umstand, dass Pegida in 14 europäischen Ländern existiert und am 6.2.2016 in mehreren dieser Länder Demonstrationen abhalten konnte (in Frankreich in Calais), ist besorgniserregend.
[9] Ein anderer Weg führte in das vom Architekten Frank Gehry gebaute und im Oktober 2014 eröffnete „Schiff“ der Fondation Louis Vuitton, das spiegel.de ohne klaren Grund als „pharaonisches Monument“ bezeichnete – wahrscheinlich wegen seiner Größe, die allerdings am Standort am Rand des Bois de Boulogne kaum auffällig wirkt. Gezeigt wurde eine Ausstellung mit chinesischer Gegenwartskunst. Für ‚europäische‘ Augen waren die Exponate keineswegs ungewohnt, sondern fügten sich in hierzulande bekannte formale und sonstige ästhetische Kategorien. Die Brücke zwischen chinesischer und europäischer Kunst schlägt Xu Zhen, der auf den Kopf eines Buddha aus den Grotten von Tianlongshan die Nike von Samothrake setzt (2013).
[10] Zum guten Ende Monet im Musée Marmottan Monet. Im Souterrain hängen die großen Blumenbilder, die der Maler während des Ersten Weltkrieges und seinen allerletzten Lebensjahren (gest. 1926) mit seiner nicht irren könnenden Hand malte. Nahezu abstrakte Glyzinien-Bilder, die berühmten Seerosen, Rosen, Iris, Schmucklilien. Darin steckt eine explosive Energie, die zwar ästhetisch eingefangen ist, aber sich auf den betrachter überträgt und ihn Kraft schöpfen lässt. Gleichzeitig wurden unter anderem Bilder der Impressionistin Berthe Morisot ausgestellt, die viele andere Impressionisten an Eindringlichkeit weit übertrifft.
Dokumentation:
Osiris-Ausstellung: Katalog oder Sondernummer der Zeitschrift „Connaissance des Arts“: Osiris – Mystères engloutis d’Égypte. Paris 2015
Jean-Marcel Humbert: Paris Égyptien. Paris 2015
Moses-Ausstellung: Katalog „Moïse. Figures d’un prophète.“ Paris 2015.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Wanderungen in Paris zwischen Osiris und Moses, von Xu Zhen zu Claude Monet. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/paris, Eintrag 08.02.2016 [Absatz Nr.].