Sind 650 Jahre für die Universität Wien genug?
[1] Das Jubiläumsjahr der Universität Wien neigt sich zum Ende. Werden nun die nächsten 650 Jahre in Angriff genommen oder ist das Format der Universität am Ende angelangt? Mit über 92.000 Studierenden zählt die Universität zu den größten in Europa. In dieser Zahl steckt Reichtum und Problem zugleich.
[2] Die hohe Zahl resultiert aus dem freien Hochschulzugang in Österreich. Dieser stellt jedoch nicht das Problem dar, sondern vielmehr die politische Lebenslüge (vieler europäischer Länder), dass der freie Zugang ohne einen adäquaten finanziellen Aufwand zu bewältigen sei.
[3] Um es sehr kurz zu machen: Aufgrund der politischen Lebenslüge landet das Problem der hohen Zahl tagtäglich im Hörsaal und macht die Wahrnehmung der eigentlichen Aufgabe einer Universität, nämlich Wissenschaft, zur Nebensache. Wissenschaft findet nicht nur im Hörsaal statt, aber dieser Raum ist ein wesentlicher Begegnungs- und Vermittlungsraum für Studierende und Lehrende und bedarf der einfühlsamen Pflege. Wie andere Universitäten auch, sieht sich die Uni Wien in der Zwangslage, im Lehrbetrieb einen Verrechtlichungs- und Verschulungsprozess voranzutreiben, dessen Synonym „Resignation“ lautet.
[4] Gemeint sind damit folgende Umstände: Faktisch nehmen die Finanzmittel ab, während die Studierendenzahlen steigen. Die politische Berechnungsakrobatik, bei der am Schluss immer feststeht, dass es den Universitäten gut geht und sie immer mehr bekommen, kann man, wenn sich selber als WissenschaftlerIn noch ernst nimmt, getrost dort lassen, wo sie herkommt – aus dem Trickkasten für belustigende Zaubereiaufführungen. In der Alltagspraxis werden immer feinere Mechanismen implementiert, mit denen der quantitative Output aus jeder einzelnen Lehrveranstaltung jenseits von pädagogischen und humanistischen Überlegungen noch weiter gesteigert werden kann.
[5] Die in den Massenfächern, von denen gerade die Uni Wien einige hat, zwangsweise herrschende Anonymität wird inzwischen gewissermaßen als „Schicksal“ nicht mehr in Frage gestellt. Stattdessen sollen immer mehr Kontrollmechanismen Platz greifen, die sicherstellen, dass trotz Anonymität alles dokumentiert und nachprüfbar ist. Bei den Maßnahmen wird zwischen kleineren Fächern und großen bis Massenfächern nicht unterschieden. So sollen auch in prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen (z.B. Seminare, Kurse, Übungen) in der ersten Sitzung die Ausweise der Studierenden kontrolliert werden, ob diese auch die sind, die sie ‚vorgeben‘ zu sein.
[6] In der Verrechtlichungslogik muss das so sein. Aber fragen wir uns – mit „wir“ meine ich jetzt meine Fächergruppe, die historischen Kulturwissenschaften oder auch Geisteswissenschaften –, wo wir damit inzwischen angelangt sind? Wenn das „universitas“ in Universität, sowie humanistisches und pädagogisches Ethos noch für die Universität relevante Haltungen sind, dann bedeutet das praktisch, dass zwischen den lehrenden WissenschaftlerInnen und den Studierenden eine Beziehung zwischen Personen aufgebaut wird, ohne die keine Wissenschaft entsteht und gedeiht. Je mehr Studierende in eine einzige Lehrveranstaltung eingebucht werden müssen, desto mehr geht dies verloren und wird am Ende durch Identitätskontrollen ersetzt.
[7] Die prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen wie Seminare, Kurse usw. müssen wieder kleiner werden dürfen und das bedeutet, dass mehr Geld in die universitäre Lehre gesteckt werden muss. Einen ökonomischen Umgang mit Ressourcen anzustreben, ist in Ordnung. Routinevorgänge einem Rationalisierungscheck zu unterwerfen, ist auch durchaus in Ordnung. Solange jene rote Linie nicht überschritten wird, jenseits derer Lehrende und Studierende nur mehr Avatare sind, deren Aufgabe darin besteht, den in Kennzahlen gemessenen Output zu steigern.
[8] Wissenschaft ist und bleibt, im Kleinen wie im Großen, in der ersten Lehrveranstaltung des Studiums wie am Ende eines wissenschaftlichen Weges in der allerletzten Publikation ein „Abenteuer“, das heißt ein in seinem Ausgang nicht berechenbarer komplexer Vorgang, der einen Teil seines gesellschaftlichen Zwecks gerade in dieser „Abenteuerlichkeit“ findet. Veränderung, auch Veränderung im Sinne des Fortschrittsbegriffs der Aufklärung, der noch nicht obsolet erscheint, gibt es nur um den Preis dieser „Abenteuerlichkeit“.
[9] Wo ist deren Platz an der Massenuniversität? „Abenteuerlichkeit“ und „Massenuniversität“ sind von sich aus keine Antonyme, denn im Präfix „Massen-„ steckt der eingangs genannte Reichtum. Sehr viele Studierende bedeutet sehr viele Chancen und Talente.
[10] So gesehen gehört die Universität Wien zu den reichsten Universitäten in Europa, aber kann sie aus dem Reichtum etwas machen? Der Zeitpunkt, wann das Feld der intrinsischen Motivation der Studierenden und der Lehrenden, aus dem die Universität ihre Nährstoffe bezieht, von der voranschreitenden Sandwüste ausgetrocknet wird, lässt sich nicht berechnen, aber man kann ihn sich vorstellen: Schon jetzt erfordert das aus dem Verrechtlichungs- und Verschulungsprozess erwachsende Drumherum zu jeder Lehrveranstaltung einen enormen Zeitaufwand, der stetig ansteigt und das „doing science“ schrumpfen lässt. Der Aufwand an Selbstmotivation und Emotion, um das stetig unwirtlicher werdende Drumherum noch auszugleichen, wird immer größer. Jeder Luftballon platzt einmal.
[11] Der Rückblick auf 650 Jahre Universität Wien muss in einen sehr kritischen „Blick nach vorne“ münden. Es handelt sich keineswegs um Spezifika der Universität Wien, aber jedes Allgemeine äußert sich nun mal im Konkreten, und das Konkrete ist hier die Universität Wien.
Dokumentation: Das Foto wird von der Universität Wien aus Anlass der 650-Jahr-Feier zur Verfügung gestellt. Download und weitere Fotos.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Sind 650 Jahre für die Universität Wien genug? In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/650-jahre-universitaet-wien, Eintrag 10.11.2015 [Absatz Nr.].
Dieser Beitrag spricht mir aus dem Herzen! Die Universitäts- und Bildungssysteme weltweit leiden schon seit Jahren an zwei grundlegenden und sich immer weiter verschlimmernden Krankheiten. Die erste ist eine überbordende Bürokratie und Reglementierungswut, die unsere eigentlichen Aufgaben, wissenschaftliche Forschung und Lehre, fast unmöglich machen. Dazu kommt als zweite die Tendenz, alle Fächer gleich zu behandeln, ohne Rücksicht auf Unterschiede z. B. zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften, so daß Forderungen an uns herangetragen werden, die eine sinnvolle Erfüllung unserer Aufgaben in bedenklichem Maße in Frage stellen. Dem muß unbedingt und schnellstmöglich ein Riegel vorgeschoben werden – wir (alle!) müssen endlich den Mut aufbringen, die Probleme anzusprechen und den dafür Verantwortlichen zur Kenntnis geben. Es ist die Aufgabe der Dekanate, dies gegenüber dem Rektorat anzusprechen, und die Aufgabe des Rektorats, unser „Unbehagen“ der Politik nachdrücklich verständlich zu machen. Es ergibt keinen Sinn und ist nicht zielführend, in (teils vorauseilendem) Gehorsam alle derartigen Zumutungen unwidersprochen hinzunehmen mit der Ausrede, daß es sich dabei um einen „Trend“ handle, gegen den man nichts unternehmen könne, und so um kurzfristiger angeblicher Vorteile willen die Zukunft der Wissenschaft aufs Spiel zu setzen – wie es bislang geschieht.
Es ist nicht nur unser Recht, dagegen zu protestieren, sondern unsere PFLICHT!
„Politische Lebenslüge“, „universitas“ und „Haltung“ sind wohl die zentralen Begriffe dieses Beitrags und sie markieren gleichzeitig das Spannungsfeld, in dem universitäre Lehre in unserem Haus stattfindet.
Die „universitas“ wurde rechtlich mit der nun bald 15 Jahre alten Universitätsreform abgelegt. Dass dieser Umstand im universitären Alltag viel weniger spürbar ist, als er könnte, ist der „Haltung“ der Beteiligten zu verdanken, die sich weigern, die politische Lebenslüge als gestaltende Realität anzuerkennen. Dieser Geist – um einen gleichermaßen unzeitgemäßen wie problematischen Begriff zu verwenden – eröffnet tätig umgesetzt im Konkreten Handlungsspielräume, wo eigentlich keine sein sollten. Das Bewusstsein bestimmt das Sein, gerade an unserer Universität. Die so ertrotzten Spielräume erweisen sich (noch) als unterschwellig wirksames Korrektiv im Kontext der angesprochenen Verrechtlichung.
Jenen Personen und Institutionen, die letztere durchführen, ist kein Vorwurf zu machen. Ihre Tätigkeit ist es, die unter den Bedingen des Mangels überhaupt noch einen Universitätsbetrieb ermöglicht.
Die Kritik müsste eigentlich an die Vertreter der politischen Lebenslüge adressiert werden – als aber die Studenten im im Winter 2009/10 just das durch ihre fortgesetzte Anwesenheit im Audimax taten, erhielten sie erschütternd wenig Unterstützung von den anderen Mitgliedern der universitas.
From someone who spent much of his career outside Europe, this university has proven to be an alien form. A place that celebrates its birthday to the cost of 4 Million Euros, but has no money for teaching. A place that also produces masses of paper, including the latest Satzungen concerning exams from the Studienpräsesbüro, papers and rules that likely will be neither read nor obeyed. Come to think of it, it is not so much an alien form after all. It fits the set image one has of the Habsburg polity in its fin de siècle version — lots of Repräsentation and political theater without substance, and lots of documents. The Lüge is being lived, with grandeur, but without substance.