„Merkels 4. September 2015“ – Die Beschleunigung der europäischen Gegenwartsgeschichte durch „Ereignisse“
[1] Am 4. September 2015 traf die deutsche Bundeskanzlerin eine Entscheidung, die ein „historisches Ereignis“ par excellence darstellt – obwohl die Charakterisierung als „historisch“ diesem Ereignis bisher so gut wie nicht zugebilligt wird. Doch im Gegensatz zu vielen anderen von den (zumeist politischen oder Medien-)Akteur*innen als historisch apostrophierten Momenten stellt der 4. September tatsächlich ein historisches Ereignis dar.
[2] Der Ereignis-Begriff ist für die öffentliche wie auch wissenschaftliche Betrachtung von Geschichte zentral, seine Definition ist aber unscharf und wird seit mehr als vier Jahrzehnten in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (Geschichte, Philosophie, Literaturwissenschaft, Linguistik, Volkskunde/Ethnologie, Theater- und andere Kulturwissenschaften) kontrovers verhandelt.
[3] Ein „historisches Ereignis“ besitzt mehrere Dimensionen. Angela Merkels 4. September 2015 wird vor allem aus (partei-)politischen Gründen nicht als historisch charakterisiert, weil darin viel Zustimmung und Anerkennung stecken würde – jedenfalls so, wie der öffentliche Gebrauch von „historisch“ seit längerem es suggeriert. Würden andere EU-Mitglieder hier von historisch reden, würden sie ihre Abschottungs- und Verweigerungspolitik in der Flüchtlingskrise ändern müssen. Dennoch hat das Ereignis alle Qualitäten eines „historischen Ereignisses“.
[4] Ein „historisches Ereignis“ trennt einen Geschehensverlauf, der durchaus komplex, vielschichtig und multidimensional sein kann, in ein Vorher und ein Nachher. In der Regel wird dies von den Zeitgenoss*innen auf einer intuitiven und emotionalen Ebene unmittelbar erfasst. Rationale Kategorisierungen als „historisch“, die sich auch nach einiger Zeit noch als zutreffend erweisen, sind selten. Man assoziiert in diesem Zusammenhang Goethes berühmte Kategorisierung der Kanonade von Valmy (20. September 1792) als Beginn einer „neuen Epoche der Weltgeschichte“, die er eigenem Bekunden zufolge am Abend des 20. Septembers 1792 tätigte, da sie durchaus zutreffend war.
[5] Das Ereignis selber besteht aus einem (scheinbar) einfachen Kern, der oft in einer Entscheidung für oder gegen etwas besteht, ist zugleich aber in der Regel in den genannten, eben nicht einfachen Geschehensverlauf eingebettet. Die Entscheidung setzt einen Richtungsverlauf in Gang, der von den Zeitgenoss*innen vor einer einsetzenden rationalen Analyse intuitiv und emotional erfahren und verstanden wird. Dies ist zudem die Voraussetzung für die medialen Transfers des Ereignisses, die dieses verstärken und letztlich in seiner eingenommenen Wirkungsrichtung beschleunigen. Die eigentliche Performanz des Ereignisses liegt im medialen Transfer begründet.
[6] Das gilt besonders für die im 18. Jahrhundert beginnende und bis heute anhaltende Epoche der Massenmedialität, aber es gilt auch für frühere Zeiten, weil die noch-nicht-Massenmedien auf die sozialen Eliten zielten, die Handlungsmacht besaßen und daher ähnliche Effekte erzielten.
[7] Inwiefern ist es berechtigt, Merkels 4. September 2015 – so will ich dieses historische Ereignis einmal ‚taufen‘ – als solches zu kategorisieren? Die Entscheidung, die Grenzen zu öffnen, ist in einem komplexen Zusammenhang gefallen, den die Bundeskanzlerin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk genau einen Monat später am 4.10.2015 aus ihrer Sicht beschrieben hat. Der Kern der Entscheidung war humanitärer Natur, zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wurde eine weitreichende politische Entscheidung, die eine Mobilisierung von Menschen, Ressourcen, Meinungsbildungen und zweifellos Konflikten nach sich zog, aus diesem Grund getroffen. Zugleich wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt, was es heißt, wenn das Grundgesetz nicht lavierend ausgelegt, sondern ernst genommen und befolgt wird. Dasselbe lässt sich von der UN-Menschenrechtserklärung sagen, die alle europäischen Länder angenommen haben, die dasselbe wie das GG verlangt (aber nicht vor Gericht eingeklagt werden kann, im Gegensatz zum Grundgesetz).
[8] Da Deutschland nicht irgendein kleines Land in der EU und Europa ist, sind alle Wirkungen europäisch. Zu den Wirkungen gehören EU-politische und im Grunde weltpolitische Weichenstellungen, außerdem eine täglich spürbare Beschleunigung von Geschehen und Geschichte. Dazu gehört auch der offene Konflikt zwischen den humanitaristisch orientierten Zivilgesellschaften in den europäischen Ländern, die sich durch das Ereignis sichtbar europäisieren, auf der einen Seite, und den gewaltbereiten Rechten und Rechtsextremen, also der unzivilen menschenverachtenden Gewaltgesellschaft, auf der anderen Seite. Das Ereignis ist nicht die Ursache dieser Polarisierung, es legt sie frei und macht diese selber zum Ereignis.
[9] Merkels 4. September 2015 machte zugleich sichtbar, dass Flüchtlinge Menschen mit Rechten sind, und dass sie berechtigt sind, auch fern ihrer Heimat, „hier bei uns“ etwas einzufordern, einfach, weil sie Menschen wie Du und Ich sind. Das ist in Europa in dessen Selbstverliebtheit und Selbstbezüglichkeit verschwunden gewesen und vielen Wortspenden ist anzumerken, dass der asymmetrische Blick des Europäers von oben auf andere ‚da unten‘ unverändert bei vielen Menschen verwurzelt ist.
[10] Das Ereignis legt frei, dass ein „Axiom der Geschichte“, nämlich dass Menschen, die massenhaft in Bewegung getrieben wurden, nicht aufzuhalten sind, gilt und dass die EU insgesamt lange Zeit Realitätsverweigerung betrieben hat. Die EU als solche und als Summe ihrer Mitglieder ist gezwungen worden, in der Realität anzukommen und in ihren politischen Horizont Probleme aufzunehmen, die ihre ganze Kraft fordern und die ihre Verantwortung und Verantwortlichkeit in einer von Krieg beherrschten historisch-nachbarschaftlichen Weltregion ans Tageslicht bringen. Merkels 4. September 2015 beweist, dass die EU gebraucht wird.
[11] In der europäischen Gegenwartsgeschichte gibt es ein weiteres historisches Ereignis, das zeitlich weiter ausgedehnt ist als der 4. September 2015, aber eine bestürzende Einheit durch seine Symbolkraft erhält: Die Zerstörung von Palmyra und der Mord an Khaled al-Asaad. Warum ist dies der europäischen Gegenwartsgeschichte zuzurechnen?
[12] Der IS hat vor Palmyra bereits im Irak wichtige antike Stätten zerstört, und nicht zu vergessen ist die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan durch die Taliban im Frühjahr 2001. Palmyra war und ist jedoch direkt mit der europäischen Geschichte verbunden. Zutreffenderweise wird seit ein bis zwei Jahrzehnten die Frage nach den nah-östlichen Ursprüngen und Wurzeln Europas gestellt. Andreas Schmidt-Colinet bringt die Zusammenhänge in einem die vielen Interviews, die er seit Monaten gibt, um auf Palmyra aufmerksam zu machen, auf den Punkt: „Palmyra ist deshalb wichtig, weil die Bewohner dieser Stadt es einst verstanden haben, aus völlig unterschiedlichen Kulturen eine neue Gemeinschaft zu formen. Da trafen sich im 1.- 3. Jahrhundert nach Christus Römer, Griechen, Inder, Kaufleute aus Thrakien und Mesopotamien, um miteinander Handel zu treiben. Ein Aufeinandertreffen so wie heute zwischen Islam und Christentum in Mitteleuropa. Und damals hat man etwas völlig Neues, Gemeinsames daraus gemacht. (…) Palmyra war eine Brücke zwischen Ost und West, ein multikulturelles Zentrum. Heute ist es die größte und wohl schönste Ruinenlandschaft des Vorderen Orients, wo vor dem Bürgerkrieg jeder Tourist Halt gemacht hat, weil der Ort so eine Faszination ausstrahlt. Auch diese Faszination soll zerstört werden…“
[13] Das Historische des Ereignisses liegt in dem Vorhaben, Europa von historischen Wurzeln abzuschneiden. Hat es je ein solches Vorhaben bisher gegeben?
[14] Wie in der Antike, ist es dieser benachbarte nahe Osten, der für Europa in der Gegenwart historisch relevant ist. Damals gab es noch kein Europa im eigentlichen Wortsinn, aber infolge der nahöstlichen und dann griechisch-römischen Grundlegungen ein „erstes Europa“, um es mit Wolfgang Schuller zu sagen. Heute gibt es ein Europa im eigentlichen Wortsinn, und seine Bedeutung, sein Sinn wird durch das Geschehen im Nahen Osten verändert.
Dokumentation: Fotografie des Kunstwerks von Adolf Frohner „Geschichte Europas“ im Westbahnhof Wien, Bereich Eingang U 3. Foto: Wolfgang Schmale, 16.4.2004.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: „Merkels 4. September 2015“ – Die Beschleunigung der europäischen Gegenwartsgeschichte durch „Ereignisse“ . In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/merkels-4-september-2015, Eintrag 23.10.2015 [Absatz Nr.].