[1] Europäizität ist ein überwiegend nur wissenschaftlich gebrauchter Terminus, der in Forschungsarbeiten aus den Bereichen Geschichte, Politik, Literatur, Sprache verwendet wird. Er bezeichnet das „Europäischsein“. Europäizität ist folglich implizit Voraussetzung für einen EU-Beitritt oder für eine Inklusion in den Begriff der „europäischen Kultur“. Als Label hat Europäizität einen hohen Wert.
[2] Im Deutschen ist das Wort seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre fassbar. Vorwiegend bezieht sich der Gebrauch auf das östliche Europa. Das englische „European(n)ess“ reicht dagegen in die 1830er-Jahre zurück und wurde beispielsweise im kolonialen Kontext eingesetzt. Der Bedeutungsursprung des (englischen) Wortes ist folglich kolonial bzw. imperialistisch. Im weiteren Verlauf tritt es häufig in Zusammenhängen auf, bei denen es um „Europäischsein“ außerhalb Europas geht, z.B. um die „Europeanness of Hong Kong“ (1886) oder um die Europeanness of American Culture (1966, gemeint ist Mexiko).
[3] Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs findet „Europeanness“ Anwendung auf Europa und dient offensichtlich der europäischen Selbstvergewisserung in einem Moment, in dem der Nationalstaat zunächst vor allem im östlichen Europa eine Renaissance erlebt. Philip Schlesinger schrieb in diesem Sinne 2000 über „Europeanness – A New Cultural Battlefield?“ Andere häufige Bedeutungsfelder sind Türkei, Islam, Eurozentrismus.
[4] Es ergeben sich folgende Bedeutungsverschiebungen: Zunächst, im 19. Jahrhundert, bezeichnet „Europeanness“ erfolgreiche Europäisierungen in den Kolonien, in den 1940er-Jahren wird nach der „Europeanness of Europe“ bzw. der Großbritanniens gefragt, nach dem Zweiten Weltkrieg erweist sich „Europeanness“ als Alternative zum Nationalen, nach 1989 wird „Europeanness“ auffallend oft im Nationalen aufgesucht.
[5] Im Französischen reicht „européanité“ in die 1880er-Jahre zurück, wird aber erst seit den späten 1940er-Jahren regelmäßig gebraucht. „Européanité“ (oft in einfachen oder doppelten Anführungszeichen, regelmäßig auch mit großem „E“) besitzt ein sehr breites Bedeutungsspektrum, etwa als Vergleichsbegriff zu z.B. „asianité“ oder „néo-africanité“, als historisch-anthropologische Bezeichnung für persönliche Eigenschaften (Begriff kultureller Identität), als Begriff, der europäische Kultur charakterisiert. Es wird nach der „européanité“ Moskaus/Russlands oder Maltas oder der Kapverden oder Äthiopiens gefragt. Etwas stärker als im Deutschen bezieht sich „européanité“ auf die gesamte europäische Peripherie, nicht nur auf das östliche Europa oder die Türkei.
[6] Früher als „européanité“ fanden „européanisme“ oder auch „européisme“ (alle Wörter auch mit großem „E“ möglich) Verwendung, aber dem „Europäizität“ entspricht am ehesten „européanité“ bzw. im Englischen „Europeanness“.
[7] Der im deutschen präsente Zusammenhang zwischen Europäizität und Ostmittel- bzw. Osteuropa erweist sich 2015 als aktuell. Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn geben sich nicht nur rhetorisch, sondern auch durch politische Taten, sehr nationsbewusst. Sie tun das so sehr, dass die Frage nach ihrer Europäizität neu aufgeworfen wird und aufgeworfen werden muss. Es geht um Aspekte, die in der Regel zur Substanz von Europäizität gezählt werden: Rechtssaat und Demokratie, europäische Solidarität, Gegenseitig bei Rechten und Pflichten in der EU, kein Nationalismus, und anderes mehr.
[8] Noch schärfer fällt das Urteil in Bezug auf Russland und die Türkei aus, wo es faktisch keine garantierten Grund- und Menschenrechte mehr gibt und wo rechtsstaatliche Verfahren höchstens noch der Form nach existieren.
[9] Damit sind entscheidende Inhalte des gegenwärtigen Europäizitätsbegriffs genannt. Historisch ist dieser aber weiter gefasst. Unklar sind dabei die Maßstäbe: Die Zugehörigkeit zu dem Raum, der traditionell als Europa bezeichnet wird, allein führt offenbar nicht zu Europäizität. Anders ausgedrückt: Europäizität bezeichnet im Wortgebrauch einen im weiteren Wortsinn kulturellen Zusammenhang, der als Maßstab gesetzt wird. Der Begriff schließt folglich eine hierarchische Perspektive mit ein.
[10] Wer aber ‚bestimmt‘, welcher kulturelle Zusammenhang den Maßstab für Europäizität abgibt? Wissenschaftlich lässt sich das Problem objektivieren, indem kulturgeografisch nach signifikanten Häufungen von Kulturemen oder kulturellen Strukturelementen gesucht wird. Die großen Stilrichtungen, die genau genommen sozio-kulturelle Zusammenhänge bezeichnen, wie Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Klassizismus usw. lassen sich kartografieren. Die Praxis des (sozio-kulturellen) Stils kann ein Kriterium der Europäizität sind. Dies entkoppelt freilich den Begriff Europäizität wie schon im englischen „Europeanness“ im 19. Jahrhundert vom Raum Europa und globalisiert ihn. Barock gab und gibt es auch in Mittel- und Südamerika, umso mehr gilt dies für den Klassizismus oder den historistischen Stil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
[11] Die im französischen Wortgebrauch mögliche Bindung des Begriffs an Individuen koppelt diesen noch stärker vom Raumbezug ab.
[12] Bei genauerer Betrachtung besagt Europäizität inhaltlich wenig anderes als das, was aufgrund einer breiten Meinungsbildung als repräsentativ für Europa erachtet wird. Die längste Zeit in der Geschichte handelte es sich dabei um die Meinungsbildung unter den Bildungseliten, unter den umfassend Alphabetisierten, während in der Gegenwart Meinungsbildung anderen Mechanismen folgt und Europäizität sozial ausgehandelt wird.
[13] Daran lässt sich ermessen, dass die Rede von Europa bzw. EU als Elitenprojekt an der Wirklichkeit vorbeigeht. Europa war und ist mehr als die europäischen Institutionen, so wichtig diese sind. Die Erforschung von Europäizität stellt eine Möglichkeit dar, Europa wieder genauer zu denken, das heißt, es nicht im Kern mit der EU gleichzusetzen. Das ist keine EU-Kritik, sondern ein methodisch-wissenschaftliches Argument, das zur Frage zurückführt, wie der Inhalt von Europäizität bestimmt werden kann bzw. in sozialer Aushandlung bestimmt wird.
[14] Der Begriff gehört in die Gruppe von Begriffen, die eine Identität ausdrücken – hier: Europäischsein. Ein kulturgeografischer Ansatz, der die Kultureme kartografiert, würde die ganze Schwierigkeit aufzeigen, unbestreitbar „Europäischsein“ nachzuweisen. Es gäbe zu viele kulturelle Eigensinnigkeiten neben Übereinstimmungen, deren Gewichtung methodische Probleme aufwirft.
[15] Europäizität vollzieht sich kommunikativ, letztlich diskursiv. Der Diskurs besteht nicht nur aus gesagten oder geschriebenen Wörtern und Sätzen, sondern auch aus Bildern, Visualisierungen, aus ritualhaften und symbolischen Handlungen. Die soziale Aushandlung von Europäizität geschieht kommunikativ, diskursiv.
[16] Wie das abläuft, kann live miterlebt werden. Zu achten ist auf das kommunikative Handeln der Rechtsradikalen und Rechtsextremen in Europa, die unter Nutzung der Verfahrensweisen der Demokratie auf der Grundlage eines ideologisch antidemokratischen Kerns Europäizität neu zu bestimmen versuchen.
Dokumentation:
Für die Suche nach Belegstellen für „Europeaness“ bzw. „Europeanness“ sowie „Europäizität“ ab 1800 bis heute wurde der Ngram Viewer von Google benutzt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäizität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeizitaet, Eintrag 15.12.2015 [Absatz Nr.].
Lieber Herr Schmale,
vielen Dank für diesen Blogpost; ich sehe da vieles im Prinzip sehr ähnlich – Europa ist ein „Label“, eine diskursive Konstruktion, die in Debatten gebildet, geformt, geschrieben und umgeschrieben wird. Kurz, „Europäizität“ ist im besten Sinne historisch; heute wohl am Meisten mit der EU verbunden – aber das war eben nicht immer so. Ich sehe die weitere Diskussion aber eben vor allem auch darin, die Kategorie für eine Zeitgeschichte Europas heute spezifisch analytisch zu konkretisieren, nach den Schlussformen zu fragen, die in ihr enthalten sind oder mit ihr zumindest assoziiert werden. Ich habe mir selbst auf meinem Blog vor einiger Zeit Gedanken zur „Europäizität“, im Zusammenhang von Populärmusik gemacht: http://www.peter-pichler-stahl.at/fachwissenschaftliche-artikel/zur-europaeizitaet-in-der-kulturgeschichte-harter-musik-fragen-als-antworten/.
Beste Grüße,
Peter Pichler
Lieber Herr Pichler,
Ihr Blog zu Europäizität eröffnet eine Betrachtungs- und Forschungsperspektive, an die ich bisher nicht gedacht habe. Sie führen Sie für den Nicht-Experten (wie mich) von Heavy Metal Musik sehr gut nachvollziehbar aus und zeigt, dass Europaforschung hier ganz ungewohnte Wege mit Gewinn gehen kann.
Wolfgang Schmale