[1] Langfristige Entwicklungen haben sich im Jahr 2015 verflochten und sind dabei, miteinander zu verschmelzen. Dies verändert Europa grundlegend.
[2] Die Öffnung der Grenzen brachte 1989/1990 nicht nur – das vergisst man schnell – ein insgesamt freieres und bald auch demokratischeres Europa, sondern auch eine Renaissance des Nationsbewusstseins. Das gilt für die ostmitteleuropäischen Staaten, allerdings auch für die meisten westeuropäischen Staaten, die die Wiedervereinigung Deutschlands im Licht der Geschichte, das heißt des deutschen Nationalismus beurteilten. Diese keineswegs problemfreie Konstellation wurde durch „mehr Europa“ produktiv eingebettet. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die Union (EU) geschaffen, die gemeinsame Währung nahm Gestalt an, für die ostmitteleuropäischen Staaten wurde die EU-Beitrittsperspektive eröffnet und schrittweise umgesetzt.
[3] 2015 ist ein Jahr gewesen, das wie 1989 und folgende alles bot, was für ein neuerliches „mehr Europa“ erforderlich ist. Aber es wurde „weniger Europa“.
[4] Am auffälligsten ist die Mischung aus Nationalismus – im Sinne einer negativen Weiterentwicklung des Nationsbewusstseins von 1989 und folgende – und antidemokratischer Politik in immer mehr Staaten. Mit Blick auf eine umfassende Gesetzgebungstätigkeit sind hier vor allen anderen Ungarn und nun Polen zu nennen, wo die Regierungsparteien mit ihrer großen Mehrheit nicht verantwortungsvoll umgehen, sondern diese missbrauchen.
[5] Der verantwortungsvolle Umgang mit großen Mehrheiten ist zwingend Teil der demokratischen Praxis, keine Partei kann sich darauf berufen, sie sei ja mit eben dieser Mehrheit demokratisch gewählt worden. Demokratie ist nicht Werte-neutral, sie ist mehr als eine „Form“, deren Inhalt nicht interessieren würde oder beliebig wäre.
[6] Es zeigt sich ein Defizit in Europa: Ein gemeinsames Verständnis davon, was Demokratie sei, wurde bisher als gegeben vorausgesetzt. Das war ein Irrtum. Die Demokratisierung Europas, die nach 1989 ihrer Vollendung mit einigen Ausnahmen entgegenzusehen schien, ist nicht vollendet. Hier liegt viel Arbeit für 2016 und weitere Jahre.
[7] Es ist nicht so schwierig, die antiliberalen und teilweise prononciert antidemokratischen Entwicklungen in mehreren Ländern Ostmitteleuropas zu erklären und infolgedessen zu „verstehen“ – was ja nicht bedeuten kann, diese zu akzeptieren. Es muss an der Demokratisierung härter gearbeitet werden. Das ist auch ein intellektueller Prozess, der sehr viel mit der Auseinandersetzung mit Geschichte zu tun hat. Solange die staatliche Geschichtspolitik bevorzugt Opferperspektiven verfolgt, wir daraus freilich nichts. Opfer des Faschismus und Nationalsozialismus, Opfer des Stalinismus und des nach-stalinistischen Sowjetsozialismus, Opfer der gewiss rüden sozio-ökonomischen Transformation nach 1989, heute irgendwie Opfer der EU oder der bundesdeutschen Dominanz in der EU … Da lässt sich immer wieder etwas Neues finden. Ist das seriös?
[8] In westlichen und mitteleuropäischen Ländern drohen Regierungsmehrheiten für antidemokratische Parteien, vor allem der Front national in Frankreich bereitet ernsthafte Sorgen. In anderen Ländern besorgen zunehmend die ‚klassischen konservativen Parteien‘ das antiliberale und antidemokratische Geschäft, das ist nicht weniger besorgniserregend. So wird mit Blick auf die Kriegsflüchtlinge und andere Zuwanderer die Menschheit wieder in Kategorien aufgeteilt, und niemand kann garantieren, dass die Grenze zum Rassismus ‚nur‘ von den rechtsradikalen oder rechtsextremen Parteien und Bewegungen überschritten wird.
[9] Es ist eine Binsenwahrheit, dass das Entscheidende die Stabilität der Mitte ist: Das gilt sozio-ökonomisch, das gilt politisch, das gilt für die Akzeptanz von Werten, das gilt kulturell, das gilt religiös. Wenn die Mitte durch tätige Mithilfe von Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, die Mitte zu repräsentieren, erodiert, weil PolitikerInnen dieser Parteien ihre Begriffswahl, ihre Sprache nicht zügeln, wenn politische Täter nicht von den Rändern, sondern aus der ‚Mitte der Gesellschaft‘ kommen, bedarf es einer offenen Diskussion um Europas Mitte. Das europäischste an Europa ist möglicherweise die Mitte, deren Bedeutung übersehen wird, solange sie da ist und das Ganze trägt.
[10] Die Mitte ist keinesfalls farblos. Sie ist tolerant, das heißt, sie integriert verschiedenste private Lebensstile, sie ist zivilgesellschaftlich, sie ist demokratisch-verantwortungsvoll, sie ist human eingestellt. Das ist bedroht.
[11] Einen europäischen Wertekonsens gibt es nicht. Früher war festzustellen, dass der Beitritt eines Landes zur EG eine Angleichung des gesellschaftlichen Wertekanons an den der anderen Mitgliedsländer in Gang setzte. Der Soziologe Henri Mendras hat das einmal eindrucksvoll nachgewiesen. Aber heute? Ist es nicht mehr so. Die Zustimmung oder Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen ist ein Kriterium, an dem man die fundamentale Unterschiedlichkeit der Werte messen kann. Andere Kriterien sind das Verhältnis zu „Fremden“, zu Religionen, die Bereitschaft, Meinungspluralismus zuzulassen und zu verteidigen, etc.
[12] Das Jahr 2015 hat mehr noch als die Vorjahre erwiesen, dass es eine Europäische Außenpolitik braucht. Es bedarf einer umfassenden Strategie für den Nahen Osten und die gesamte nördliche Hälfte Afrikas, von anderen Weltregionen nicht zu reden. Aber diese Großregion ist aufgrund der uralten historischen Verflechtungen besonders entscheidend. Sie ist auf eine bestimmte Weise auch Teil der europäischen Kultur. Es wäre ein Fehler, das nicht sehen zu wollen. Lassen sich die Grundlagen der historischen Verflechtungen kulturell nicht erhalten, wird dieses Europa, das sich nicht vom ambivalent funktionierenden Nationalstaatsprinzip trennen mag, mittelfristig zur Dörrfrucht.
[13] Die Problemkonstellation ist eminent kulturell. Am deutlichsten ist das an der Türkei und Israel zu sehen. Leider bewegen sich beide Staaten in eine autoritäre Richtung, die Türkei sehr deutlich, Israel zunehmend. Das aktuelle Gesetz gegen NGOs erscheint wie Copy&Paste des russischen Gesetzes, das NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten, zu „Agenten“ macht. Das ist ein schwerer Angriff auf die Strukturen der Zivilgesellschaft, deren Geschichte (seit den Abolitionsbewegungen des späteren 18. Jahrhunderts) Teil der Geschichte der Demokratisierung von Gesellschaften und Staaten ist.
[14] Wenn Kultur das Ergebnis der Sinngebung und Schaffung von Bedeutung durch Gesellschaften ist, lautet das Fazit zu 2015, dass „europäische Kultur“ im Sinne jenes Singulars, den die République des Lettres der Aufklärung für Europa ausarbeitete, gefährdet ist. Die zunehmenden Zeichen der Abschottung und Distanzierung sind in dieser Perspektive zu interpretieren. Im Vordergrund der Wahrnehmung stehen die Zäune, aber auch das Entfernen von Europasymbolen ist symptomatisch: Jahrzehntelang haben sich letztere stark ausgebreitet, oft in originellen Varianten im Rahmen von Firmenlogos oder individuellen Interpretationen. Wenn eine solche Entwicklung, die einer ungesteuerten Entwicklung, sozusagen einer gesellschaftlichen ‚Zu-Neigung‘ folgte, politisch gestoppt wird, ist das relevant. Wenn die Abschottung und Distanzierung bei den ‚kleinen Dingen‘ des Alltags angekommen ist, ist die Situation gefährlich.
[15] Im 21. Jahrhundert geht es um einen offenen Kulturbegriff. Für Europa bedeutet dies immer noch, obwohl die Diskussion darüber mehr als zwei Jahrhunderte alt ist, dass „nationale Kultur“ eine Konstruktion ist, die nicht praxistauglich ist. Aber es heißt auch Offenheit nach ‚außen‘: Das Problem, das zu lösen ist, besteht darin, dass die Freizügigkeit mindestens im EUropa einen Preis hat, nämlich die vielzitierte „Sicherung der EU-Außengrenzen“, aber das ist etwas anderes als Abschottung. Die Sicherungsstrategie muss den historischen Großraum (s. Abs. 12) einbeziehen und stärker diese historische Kulturverflechtung berücksichtigen.
Dokumentation:
Mendras, Henri (1997): L‘Europe des Européens. Sociologie de l‘Europe occidentale. Paris.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa am 31. Dezember 2015 – eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/bilanz-2015, Eintrag 31.12.2015 [Absatz Nr.].
Danke für diesen Beitrag. Ich sehe dem nicht viel hinzuzufügen.
MFG, Peter Pichler