Die Türkei braucht die Europäische Union
[1] Im Vorfeld des EU-Gipfels vom 17./18.3.2016 wurde medial vor allem thematisiert, ob die EU mit der Türkei in ihrem jetzigen demokratie- und rechtspolitisch bedenklichen Zustand überhaupt ein Abkommen schließen könne, ohne ihre Werte zu verraten.
[2] Etwas zynisch könnte man fragen: Welche Werte? Hat die EU als Gemeinschaft denn überhaupt noch glaubwürdig praktizierte Werte? Oder führen die nicht eine rein rhetorische Existenz, die keinesfalls auf die Probe der Praxis gestellt werden darf, weil man sonst nur auf weiße Flecken starrt?
[3] Nach wie vor haben etliche Mitglieder der EU nicht verstanden, dass die Zeit, wo Probleme scheinbar fern der EU auch fern- oder gar nicht gelöst wurden, vorbei ist. Ferne Probleme gibt es nicht mehr, die EU, ihre Mitgliedstaaten sind gefordert. Die Globalisierung nimmt keine Rücksicht darauf, ob das hier zulande gewollt wird oder nicht. Letzteres ist irrelevant geworden.
[4] Statt defensiv und weinerlich die üblen Zeiten zu beklagen und Stacheldrahtzäune hochzuziehen, muss es zu einer offensiven Politik kommen, die Probleme löst. Dabei muss sich die EU, müssen sich die 28 Mitgliedsländer, als eine Union begreifen, die ‚der Welt‘ etwas Positives geben kann.
[5] Was kann diese Union denn Positives geben? Sie kann z.B. der Türkei helfen, wieder ein Rechtsstaat zu werden, der dann, wenn die anderen Bereiche auch den Anforderungen der EU entsprechen, Mitglied werden kann, ohne dass es die EU zerreißt. Hierfür braucht die Türkei die EU – und nur die EU kann der Türkei dabei helfen. Einen anderen Partner hat die Türkei nicht.
[6] Die EU-Mitgliedsländer müssen ihre Reflexe überprüfen: Die Türkei ist aus EU-Sicht ein schwieriges Land, in dem die Demokratie bedroht ist und zentrale Freiheitsrechte sowie Menschenrechte eingeschränkt werden. Trotzdem ist der Reflex, deshalb mit der Türkei möglichst wenig zu tun haben wollen und keine Abkommen zu schließen, falsch. Falscher geht es nicht. Denn für die Türkei gibt es keinen anderen PARTNER, als die EU, um aus dem Gestrüpp, in das sie geraten ist, wieder herauszukommen.
[7] Dies sollte der EU die Anstrengung wert sein. Geopolitisch ist das geradezu ein Imperativ, aber die sechs- oder siebenhundertjährige gemeinsame Geschichte spricht ebenfalls dafür, diese Anstrengung nicht zu scheuen.
[8] Im Bewusstsein vieler Europäer wird geschichtlich das Osmanische Reich überwiegend mit „Türkengefahr“ verbunden. Aber man darf wohl von den Europäer/inne/n im Jahr 2016 fordern, dass sie diesbezüglich endlich erwachsen werden und allzu naive Geschichtsinterpretationen, die in der frühneuzeitlichen antitürkischen Propaganda vorbereitet wurden, hinter sich lassen.
[9] Vielmehr sollte man sich bewusst machen, wie sehr dieses große Reich ‚im Südosten‘ Europas über Jahrhunderte durch seine schiere Existenz und – ja, natürlich, militärische Bedrohung – die europäischen Reiche und Republiken zu Innovation und Organisation angetrieben hat. Das Osmanische Reich war eine Herausforderung, der sich Europa stellen musste.
[10] Nach der Niederlage der Osmanen vor Wien 1683 und nach weiteren Niederlagen tat die Habsburgermonarchie das einzig richtige: Sie machte aus dem ehemaligen Feind einen Handelspartner, belebte so Handel und Wirtschaft und ermöglichte kulturelle Transfers. Alles in allem profitierte Europa davon sogar mehr als das Osmanische Reich.
[11] Im 19. Jahrhundert, als jenes Reich schwächelte und schließlich zum „kranken Mann am Bosporus“ wurde, machten sich die imperialen europäischen Mächte in immer mehr ehemals osmanisch beherrschten Regionen im Nahen Osten und Nordafrika breit. Nicht zum Nutzen der Regionen, denn viele der heutigen Konflikte sind zwar nicht nur, aber eben auch auf diese Kolonial- bzw., im 20. Jahrhundert, Mandatszeit zurückzuführen.
[12] Nach dem Zweiten Weltkrieg häuften europäische Staaten gegenüber der Türkei Fehler über Fehler. Die im 19. Jahrhundert begonnen Politik ‚ethnischer Säuberungen‘ in Europa aus Gründen des Nationalismus hatte 1945 dazu geführt, dass die historische Multiethnizität und Multikulturalität, die Europa jahrhundertelang charakterisiert hatte, auf einen Restbestand reduziert worden war, sodass die Selbstabgrenzung vom vermeintlich Fremden überhandnahm. Abgesehen von der Aufnahme in die NATO wurde die Türkei vielfach zum Fremden schlechthin.
[13] Als Reflex scheint das in tagesaktuellen politischen Statements immer noch mitzuschwingen. Diese geben sich moralisch, sind in Wirklichkeit aber nur Reflexe eines tief verwurzelten „Othering“.
[14] Also: Ärmel hochkrempeln und mit der Türkei daran arbeiten, dass sie tatsächlich in den Stand kommt, die Verhandlungskapitel (für einen eventuellen EU-Beitritt) umzusetzen. Es wäre sehr gut, wenn sich die EU in Gestalt ihrer 28 Mitglieder hier mal selber durch harte Arbeit ins Schwitzen brächte, statt es sich bequem zu machen und zu sagen, die haben sich nicht gut entwickelt, mit denen wollen wir so wenig wie möglich zu tun haben.
[15] Noch einmal: Die Türkei hat nur noch einen Partner, die EU. Das ist so, selbst wenn der türkische Präsident und seine Regierung das kaum so formulieren würden.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Türkei braucht die Europäische Union. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/tuerkei, Eintrag 19.03.2016 [Absatz Nr.].
Lieber Herr Schmale,
danke für den – brisanten Beitrag, den ich so sehr ähnlich sehe. Es geht schlicht um die EU für sehr viel, sprechen als „Union“, was angesichts der Zerfallserscheinungen nicht weniger als ein großer kultureller Wurf ist. Und, es geht nur über Diskurs und Dialog, die Türkei gehört zum europäischen Gespräch dazu und einwirken auf sie geht auch nicht anders. Gerade im Dialog ist es ja auch möglich, all die großen Fehlentwicklungen im Kontrast zur EU Identität bez. Menschenrecht etc. zu thematisieren. Wenn man nicht spricht, kann man auch nicht sprechen. Wir brauchen ganz dringend eine Kulturgeschichte der EU, die Wachsen und Verfall, Beschleunigung und Verzögerung all dieser Geschichten für sich thematisiert. Jedenfalls danke für den Beitrag, den ich sehr gerne gelesen habe! Und bez. Othering, Michael Wintle hat dazu eben einen sehr schönen Beitrag geschrieben:
Wintle, M. (2016), Islam as Europe’s ‘Other’ in the Long Term: Some Discontinuities. History, 101: 42–61. doi: 10.1111/1468-229X.12143
MFG,
Peter Pichler