Es ist lange her, dass ein Politiker oder eine Politikerin eine große Europarede gehalten hat. Der französische Präsident hat es getan [zum Redetext]. Zuletzt gab es vorwiegend heiße Brexit-Luft und Theresa May’s völlig substanzlose Beteuerungen, wie wunderbar nach dem Brexit die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sein werden.
Der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hält gewissermaßen ex officio einmal im Jahr eine Europarede zur Lage der Union, die immer kenntnisreich, durchaus deutlich in der Kritik, keineswegs unambitioniert, letztlich aber doch notgedrungen stark dem täglichen operativen Geschäft verpflichtet ist.
Andere äußerten sich zu diesem oder jenen Detail, ließen aber keine Gesamtsicht auf Europa erkennen. Der Abstand zwischen der beherzten Rede von Macron einerseits und dem hässlichen Poltern von Orbán, Kaczyński und etlichen weiteren andererseits ist gewaltig. Es bedurfte einer Rede wie der des Präsidenten vom 26. September 2017 an der Sorbonne, um die Hässlichkeit jener im Grunde antieuropäischen Poltereien deutlich zu machen, obwohl Macron diese Politiker mit keinem Wort direkt erwähnt hat.
Die Rede ist alles in allem als Rede sehr gut, ihre Machart ist sehr französisch – was sich wohltuend vom hölzernen Europagestottere anderer PolitikerInnen abhebt. Der Ort, das Grand Amphithéâtre der Sorbonne, war symbolisch. Der Hörsaal wurde im Jahr des Centenaire der Französischen Revolution 1889 fertig gestellt. Er wurde von sehr bekannten Künstlern der Epoche ausgestaltet, ihre Themen beziehen sich auf die (damals) fünf Fakultäten bzw. auf die Geistes- und Naturwissenschaften sowie die Künste; Statuen repräsentieren Denker wie Descartes.
Dem genius loci entsprechend bezieht sich Macron auf die Idee und den Wert von Gemeinschaft, er misst Wissenschaft, wissenschaftlichem Wissen, wissenschaftlicher Expertise und dem universitären Betrieb als Ort europäischen Austausches (und darüber hinaus) große Bedeutung bei und sieht hier klare Aufgaben für Europa.
Macron wird von der Überzeugung getragen, dass das Europäische trotz aller Unterschiede und Verschiedenheiten in allen EuropäerInnen steckt. Er übersieht keineswegs den Nationalismus, den die Rechtspopulisten und Rechtsextremen vertreten, aber er sieht Nationalismus nicht generell als das Proprium Europas. Die Unterschiede, die immer wieder zu politischem Streit in Europa führen, führt er zumindest teilweise darauf zurück, dass es zwischen den Ländern Unübersetzbarkeiten gibt. Es sei denn, sie sind auf absichtliche Verstöße gegen die gemeinsamen Regeln und das gemeinsame Recht wie im Fall des von ihm auch wörtlich so bezeichneten Sozialdumpings zurückzuführen, das er strikt bekämpfen möchte.
Macron besitzt eine umfassende Anschauung von Europa und er wendet sich den Zukunftsthemen und den Schwierigkeiten in der Union ausführlich, ja umfassend zu. Intellektuell überragt er bei weitem andere Staats- und Regierungschefs in der EU, zugleich hat er durch seine Wahl zum französischen Präsidenten geradezu bewiesen, dass Intellekt und Vollblutpolitiker hier zusammengefunden haben. Damit steht er als Ausnahmeerscheinung da. Mit der gleichen Verve, mit der er im Wahlkampf seine Reform Frankreichs entfaltete, spricht er über die Reform der EU.
Seine Reformen in Frankreich charakterisiert er als Vorleistung für die europäischen Reformen, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Er ist bereit, in die gemeinsame Kasse zu zahlen. Es ist lange her, dass Europa und nationale Politik so eng verbunden wurden. Als letzten historischen Fall dieser Art kann man die Vorbereitung der deutschen Wiedervereinigung durch eine strikt europäische Einbettung nennen. Die Reformpolitik im eigenen Land so eng mit der Reform der EU zu verknüpfen, das laut auszusprechen, oder überhaupt zu wollen, tut derzeit niemand sonst in der EU.
Macron kommt bei diesem politisch auf jeden Fall mutigen Schritt zugute, dass er im Wahlkampf deutlich und ehrlich war und nun in Frankreich die Politik umsetzt, die er angekündigt hat. Das erhöht seine Glaubwürdigkeit auf europäischer Ebene.
Was die thematische Substanz seiner Rede angeht, ist das meiste nicht neu, aber er hat einen weiten Horizont und spricht nicht nur über gemeinsame Verteidigungsanstrengungen und Sicherheitspolitik, sondern auch über mehr Schüler- und Studierendenaustausch, über Mehrsprachigkeit als Wert und Chance, über Kultur, über AutorInnenrechte und über die Wiedergewinnung verlorenen Terrains in Sachen Künstliche Intelligenz, Innovationen mit Durchschlagskraft etc.
Der Blick auf die Globalisierung und ihre negativen wie positiven Effekte ist da, aber eventuell etwas zu kurz. Wenn er in dieser Beziehung die EU der nahen Zukunft (er orientiert sich an 2019 – Wahlen zum EU-Parlament und Brexit; 2020 – neuer EU-Haushalt; 2024, Wahlen zum EU-Parlament und abgeschlossene Reform) skizziert, erscheint diese wie ein Bollwerk, das sich selber schützen kann, einerseits, und, andererseits, als innovative Gemeinschaft, die in bestimmten Bereichen die globale Führung errungen hat. Implizit scheint er doch an so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa zu denken, die die sich zurückziehenden USA ablösen. Aber: So deutlich wie ich es hier interpretiere, sagt er es natürlich nicht.
Jedenfalls ist seine Linie unmissverständlich: endlich eine echt europäische Wirtschaft auf der Basis des Euro. Das würde die nötige Kraft und Energie bringen. Dazu gehört eben auch ein europäisches Energiekonzept und eine gemeinsame Infrastruktur.
Bemerkenswert ist sein Sinn für die Bedeutung, die Menschenbildung für ein einigeres Europa hat. Er schlägt für viele Bereiche mehr Austausch von Personen vor, die in der Zusammenarbeit mit EuropäerInnen aus anderen europäischen Ländern mehr über diese lernen. Das ist ein sehr guter Ansatz, nicht neu, aber wenn er mit Nachdruck betrieben würde, würde sich das auszahlen.
Macron will die Wahlen zum EU-Parlament aufwerten und das Experiment mit zwei Spitzenkandidaten (er benutzt das deutsche Wort) von 2014 fortsetzen. Er schlägt vor, dass Abgeordnete transnational gewählt werden können, das wäre ein wirklicher Zugewinn. Er fordert eine breite öffentliche Debatte mit den BürgerInnen um die Ziele der EU, um darauf aufbauend dann einen neuen EU-Vertrag zur Abstimmung zu stellen. Er will das europäische Projekt zurück zu den BürgerInnen bringen.
Mit Vorschlägen für neue Institutionen hält er sich zurück, aber ganz ohne geht es nicht, ebensowenig wie in Junckers jüngster Rede zur Lage der Union. So vernünftig die Schaffung einer europäischen Asylbehörde oder einer Staatsanwaltschaft für bestimmte Zuständigkeiten klingt, so sehr ist hier Behutsamkeit geboten: Solche Institutionen werden nicht durch Wahlen legitimiert, sondern über andere Verfahren, das heißt, es würden noch mehr Einrichtungen geschaffen, über die die EU-BürgerInnen nicht mitbestimmen können, obwohl deren Wirken in den Alltag eines jeden Einzelnen hinreicht (s. EZB, EuGH).
Nun wird sich zeigen, ob Macrons Mut dauerhaft ansteckend wirkt. Auf dem EU-Gipfel in Tallinn hat es funktioniert. Von Macron kann man erwarten, dass er nicht locker lassen wird.