[1] Im Plenarsaal des niederländischen Parlaments in Den Haag blicken die Abgeordneten, wenn sie nach vorne schauen, auf eine mehrfach durchbrochene bemalte Wand. Von keinem der Plätze aus können die Bilder jeweils vollständig gesehen werden. Man muss vielmehr den Sitzplatz von ganz links nach ganz rechts oder umgekehrt wechseln bzw. auf der Zuschauertribüne hin und her gehen, um alle Bilder einmal ganz zu sehen.
[2] Der Hintersinn dieser Anordnung lautet, dass Du die Wahrheit nur erkennen kannst, wenn Du bereit bist, einmal verschiedenste Standpunkte einzunehmen und die Welt von da aus zu betrachten.
[3] Diese hintersinnige Gestaltung eines politisch-öffentlichen Raums, der zentral für das Funktionieren von Demokratie ist, nämlich das Parlament, setzt sich in der Gestaltung öffentlicher Räume in der niederländischen Hauptstadt fort.
[4] In den Straßen rund um das moderne Rathaus finden sich jede Menge Skulpturen, die die Vielfalt individueller Identitäten und von Kulturen thematisieren. Man könnte einwenden, dass das noch nicht viel besagt, aber welche Stadt in Österreich oder Deutschland macht das ebenso? Es ist mehr als nur eine Geste.
[5] In Den Haag mischen sich zeitgenössische und historische Architektur. Das sichtbare Mittelalter beschränkt sich auf wenige Gebäude, darunter der Rittersaal im „Binnenhof“, in dem 1948 der große Kongress der Europäisten stattfand, auf dem unter anderen Churchill redete und von dem der Startschuss zur Gründung des Europarats (1949) ausging.
[6] Mehr ins Auge fällt das Goldene Zeitalter der Niederlande (17. Jahrhundert), dessen bis heute faszinierende Malkunst im Mauritshuis direkt neben Parlament und Binnenhof wirkungsvoll präsentiert wird. Es ist zwar etwas banal, auf die Bedeutung profaner Themen neben religiösen in der niederländischen Malerei dieser Zeit hinzuweisen, aber vergleicht man diese mit den Themen der Malerei zur selben Zeit in Venedig, so scheinen zwei unterschiedliche Vorstellungswelten parallel und nur ungefähr tausend Kilometer auseinander existiert zu haben.
Und erst recht, wenn man danach durch die Straßen von Den Haag geht und sich ein wenig mit den Reliefs an Gebäuden aus der Zeit, als die Niederlande Kolonialmacht waren, beschäftigt, oder die ‚überall herumstehenden‘ Skulpturen betrachtet.
[7] Die Menschen in den Straßen sind nicht weniger Vielfalt. Die Sichtbarkeit von Vielfalt, sprich, das Sich-nicht-verstecken-müssen, ist, was ins Auge sticht. Und dies wird durch viele andere Momente der Vielfalt, die fest mit dem öffentlichen Raum verbunden sind wie die Architektur und die künstlerische Gestaltung des urbanen Raums, bestätigt.
Wolfgang Schmale: Vielfalt im öffentlichen Raum – Den Haag. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/vielfalt-den-haag, Eintrag 24.10.2018.