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Die Probleme eines EU-Austritts à la Brexit wurden bereits 1952 vorausgesehen

Datum: 23 Okt. 2019
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Brexit, Europäische Bewegung, Mouvement Européen, Verfassung
Kommentare: Comments are off

[1] Wie sagte doch die ehemalige britische Premierministerin am Nachmittag des 19. Oktober 2019 im britischen Unterhaus so richtig, sie habe ein ‚deutliches Déjà-Vu‘, als wieder einmal ein Brexit-Abkommen zur Abstimmung anstand – und durchfiel? (Video)

[2] Historiker*innen kennen das mit dem Déjà-Vu zur Genüge.

[3] Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass beinahe alles, was heutzutage so an Ideen und Problemen in der EU ‚herumschwebt‘, schon vor Jahrzehnten erkannt, gesagt, debattiert worden ist.

[4] Vielleicht findet sich einmal ein Sponsor, der dafür Geld gibt, dass ein Inventar aller bereits früher behandelten Problemstellungen bezüglich der europäischen Integration inklusive der verschiedenen gegebenen Antworten erstellt wird, wo sich dann alle schlau machen können, bevor sie sich ins politische Abenteuer stürzen – z.B. das eines Austritts aus der Gemeinschaft…

[5] So, jetzt bin ich was losgeworden und kann zur Sache kommen.

[6] Heute las ich in den Akten des „Comité d’Études pour la Constitution européenne“, ein vom Mouvement Européen (Europäische Bewegung) eingerichteter Ausschuss, der vom 28. April bis 30. September 1952 über eine europäische Verfassung beriet. Vorsitzender war Paul-Henri Spaak, ein führender Europäist der damaligen Jahre. Neben etlichen Anderen gehörten auch zwei führende Persönlichkeiten des europäischen Widerstands gegen die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure und gegen die italienischen Faschisten dem Gremium an: der Franzose Henri Frenay und der Italiener Altiero Spinelli.

[7] Erstmals wurde in der Sitzung vom 25. Mai (in Straßburg) die Frage aufgeworfen, ob die Verfassung der angestrebten europäischen Gemeinschaft (man entschied sich in dem Ausschuss für diese unscharfe Bezeichnung statt dem eigentlich gewollten Bundesstaat, wie man sich auch für das neutralere „Statut“ anstellen von „Verfassung“ entschied) eine Bestimmung zum Austritt aus der Gemeinschaft enthalten sollte. Dass für einen Eintritt Kriterien zu nennen seien, war unstrittig, die Frage eines Passus zum Austritt war hingegen strittig.

[8] Der Vertrag von Lissabon (2007 geschlossen, 2009 in Kraft, konsolidierte Fassung 2016) enthält – durch den Brexit: bekanntlich! – den § 50, wo es lapidar heißt: „(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.“ Die Absätze 2-4 regeln das anzuwendende Verfahren, Absatz 5 sagt dann wiederum ganz lapidar: „Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“

[9] Es gibt keine Mindestverweildauer in der Union, man kann raus, und rein, und…

[10] Die tatsächlichen Schwierigkeiten lässt der Paragraph nicht erahnen.

[11] Also zurück ins Jahr 1952, wo man bereits versuchte sich klar zu machen, was denn ein Austritt überhaupt bedeuten würde. In dem Ausschuss gab es Stimmen, die eine Austrittsmöglichkeit kategorisch ausschließen wollten, denn die Mitgliedschaft bedeute nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht; andere wollten einen Austritt zulassen, dies aber an Bedingungen knüpfen. Henri Frenay gab zu bedenken, dass die Errichtung der Gemeinschaft den Mitgliedern Opfer abverlange, da könne man kein Austrittsrecht einräumen, da keine Verlässlichkeit entstünde. Die Runde konnte aber einem anderen Argument etwas abgewinnen, nämlich dass eine Verfassungsrevision (Vertragsrevision) durchaus ein sinnvoller Grund für einen Austritt sein könne, wenn ein Mitglied diese nicht mehr mittragen könne.

[12] Weiter ging es mit diesem Problem am 5. Juli in Paris. Hier wurde erneut gegen eine Austrittsklausel argumentiert, dieses Mal eher staatsrechtlich, denn weder ein zentralistischer Staat (wie Frankreich) noch ein Bundesstaat (wie Deutschland) könne einen Austritt einzelner Provinzen bzw. Bundesländer zulassen. Einmal Teil des Staates – immer Teil des Staates. Die EU gilt nicht als „Staat“, aber das ist kritisch zu hinterfragen, denn auch der historische Staatsbegriff unterliegt dem Wandel der Zeiten.

[13] Befürworter einer Austrittsklausel schlugen Bedingungen vor: Frühestens nach 20 Jahren Mitgliedschaft und frühestens nach 3 Jahren ab Ankündigung des Austritts. Das mit den 3 Jahren war gut gezielt, wenn man sich den bisherigen Verlauf des Brexit anschaut… Hätte man von vorneherein machen können, dann müsste man nicht alle fünf Minuten eine Brexit-Verlängerung beschließen.

[14] Der Rapporteur (Rechtsanwalt Max Becker, Mitglied des Deutschen Bundestags) sagte dann hierzu weiter, dass ein Austritt einen wirtschaftlichen und politisch-finanziellen Bruch bedeute, einen Bruch im in der Zwischenzeit entwickelten Zoll- und Transportwesen. Absolut zutreffend – siehe Brexit-Probleme. Und noch treffender: Die Probleme könnten in Wirklichkeit so groß sein, dass die praktische Verwirklichung eines Austritts im Grunde unmöglich sein könnte, insbesondere, wenn man eine gemeinsame Währung und z.B. eine gemeinsame Armee habe. Von der gemeinsamen Währung hat sich das Vereinigte Königreich wohlweislich von Beginn an ausgenommen.

[15] Cornelis van Rij, Rechtsanwalt aus Amsterdam, setzte sich dafür ein, die Gemeinschaft als unauflösbar zu bezeichnen und warnte vor womöglich äußerst schmerzlichen Ereignissen nach Art des amerikanischen Sezessionskrieges (1861-1865) als Folge von Austrittsbegehren.

[16] Heute, und 2016, als über den Brexit abgestimmt wurde, erscheint eine solche Befürchtung weit hergeholt, aber van Rij erkannte sehr richtig, dass ein Austritt womöglich zu Gewalt führen kann. In Großbritannien gab es ab 2016 mehrere fremdenfeindliche Morde/Totschläge im direkten Zusammenhang des Brexit. Und ein wesentliches Problem in den Verhandlungen zwischen UK und EU war die Frage der irischen Insel, wo man mit sehr guten Gründen befürchten musste, dass die Wiedereinführung einer echten Grenze zwischen Irland und Nordirland den Terrorismus wieder aufleben lassen könnte.

[17] Eine große Rolle spielte in der Diskussionsrunde die Frage von Vertrauen, das im Interesse der Gemeinschaft erhalten werden müsse. Wie Vertrauensverlust funktioniert, können wir alle gemeinsam live beobachten.

Dokumentation:

Mouvement Européen. Comité d’Études pour la Constitution européenne. Projet de Statut de la Communauté politique européenne. Travaux préparatoires. Bruxelles Novembre 1952.

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Die Probleme eines EU-Austritts à la Brexit wurden bereits 1952 vorausgesehen. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/die-probleme-eines-eu-austritt-a-la-brexit-wurden-schon-1952-vorausgesehen, Eintrag 23.10.2019 [Absatz Nr.].

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