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Theorie des Digitalen Zeitalters

Datum: 28 Okt. 2020
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Cyber, Digitales Zeitalter, Theorie
Kommentare: 1

[1] Die Bezeichnung „Digitales Zeitalter“ löste quantitativ betrachtet schon in den 1990er Jahren die Bezeichnung „Computerzeitalter“ ab. Dabei wurde die Eigenschaft „digital“ von der Maschine, dem Computer, auf die Lebenswelt selber übertragen.

[2] Vergleicht man „digitale/s Zeitalter“ mit anderen gängigen Epochenbezeichnungen (Altertum bzw. Antike, Mittelalter, Neuzeit, Moderne, Postmoderne), zeigt sich, dass die „Popularität“ von „digitales Zeitalter“ deutlich hinter der anderer Bezeichnungen, die zum Teil schon lange eingeführt sind, zurücksteht. Das gilt selbst in Bezug auf „Postmoderne“, die eher in intellektuellen Debatten eine Rolle spielt. Das gilt in Bezug auf alle Alternativbezeichnungen für die Jetztzeit (z. B. Moderne, Postmoderne, Zeitgeschichte). (Das bezieht sich nur auf den deutschen Sprachgebrauch.)

[3] So betrachtet, stellt „digitales Zeitalter“ einen Spezial- oder gar nur Nischenbegriff dar. Andererseits taucht er im Zusammenhang zentraler lebensweltlicher Problemstellungen auf: Demokratie/Demokratisierung, Privatheit/Schutz der Privatheit, Digitalisierung usf.

[4] Anders ausgedrückt: Das „digitale Zeitalter“ steht an seinem Anfang. Es ist bereits so präsent, dass es als „Zeitalter“ auf den Begriff gebracht wird, aber die Epochenbezeichnung ist nicht beherrschend. Sie regiert noch nicht das selbstverortende Bewusstsein historischer Zeit. Das kann noch kommen – oder auch nicht; nichts ist fix.

[5] Gleichwohl greift Digitalisierung mittlerweile in sämtliche Lebensbelange ein, aber die Verdrängung von – vereinfacht ausgedrückt – analogen Techniken und Vorgehensweisen ist noch nicht sehr weit gediehen. Diese schreitet jedoch voran und erscheint unaufhaltbar.

[6] Zentrale Prozesse sind dabei Cybergovernance (E-Governance u.ä.), Cybermedizin, Cyber Crime, Cyber Sicherheit, Cyber City, Cyber Krieg, Cyber Games usw. – es ist unerheblich, ob „cyber“ oder „e“ als Eigenschaftsbezeichnung verwendet wird.

[7] Weitere zentrale Prozesse sind Robotisierung, Datenvernetzung, Autonomisierung von Prozessen (selbstfahrende Autos etc., selbstständig arbeitende Algorithmen als Grundlage von Entscheidungen usw.) sowie die massenhafte Erstellung digitaler Identitäten, zu der nicht nur Daten und Profile aus der Nutzung des Internets herangezogen werden, sondern wozu auch Gesichtserkennung, die Daten aus Überwachungsvideos etc. zählen.

[8] Hier scheint eine Welt zu entstehen – auf der Grundlage von Daten, die mächtiger als das Reale zu werden scheint.

[9] Parallel wird aber der einzelne Mensch ‚ermächtigt‘, mittels Sozialer und anderer digitaler Medien schafft er sich ohne den Umweg über historisch gewachsene Filter Zugang zum Publikum, dessen Umfang und Charakter er selber mitbestimmen kann. Die Optionen reichen von unbegrenzt bis Filterblase oder Echoraum. Die Herauslösung aus sozialen Bindungen und Begrenzungen verschiedenster Art kann mächtig machen oder in den Selbstmord treiben.

[10] Bots können zu einflussreichen Akteuren wie richtige Menschen werden.

[11] Selbst wenn im Alltag eher die positiven Aspekte im Vordergrund stehen, ist das Schattenreich der Cyberbedrohungen jederzeit gegenwärtig. Im digitalen Zeitalter wird der Einzelne in vieler Hinsicht ‚ermächtigt‘, zugleich aber auch ungefiltert und unmittelbar verschiedenen Bedrohungen ausgesetzt und jeglicher Macht beraubt.

[12] Das sind typische Merkmale einer Transformationsepoche. Die Abwendung und Bekämpfung von Cyberbedrohungen hat Fahrt aufgenommen, Maßnahmen gegen Hate Speech, Bots, gegen Fake News usw. werden effektiver, aber die Cyberbedrohungen werden ebenfalls effektiver.

[13] Dadurch wird das historische Rechtssystem einer Gesellschaft enorm unter Stress gesetzt, seine Anpassung an die Digitalisierung jeglicher Lebenswelt gelingt bisher nicht sehr gut.

[14] Transformationsprozesse zeitigen irgendwann ein Resultat. Ob dies als gut oder schlecht empfunden wird, hängt vom Maßsstab ab, der angelegt wird. Transformation ist sozusagen der Feind der Tradition. Manchmal wird das als gut empfunden, aber Tradition im Sinne von Geschichtlichkeit einer Gesellschaft hat zunächst einmal viele Vorteile, deren sich nicht alle immer bewusst sind.

[15] Liegt der Kern des „Digitalen Zeitalters“ womöglich in der Negierung der Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit des geschichtlichen Charakters von Gesellschaften? Das meiste, was uns ausmacht, wie Werte, Habitus, Gewohnheiten, die Vertrautheit und so etwas wie Heimatlichkeit schaffen, soziale Bindungen, Überzeugungen, Glaube etc. sind im Kern jeweils geschichtlich, selbst die Mechanismen oder Techniken, hiermit oder damit zu brechen, sind geschichtlich eingeübt. Der skandalerzeugende Tabubruch unterliegt als Technik des Bruchs der Geschichtlichkeit.

[16] Digitalität hat hingegen das Potenzial, das alles wegzufetzen. Muss es nicht, kann es aber, und tut es. Digitalität hat zwar bereits selber eine Geschichte, Digitalisierung im Sinne des globalen Prozesses, den sie darstellt, hat dagegen kaum Geschichte. Rein formal wird sie diese haben, wenn sie zwei, drei, vier und mehr Jahrzehnte angedauert hat.

[17] Aber ihre Kerneigenschaft ist gegen Geschichtlichkeit von Gesellschaft gerichtet. Indem die „soziale Konstruktion der Wirklichkeit“ durch die „digitale Konstruktion der Wirklichkeit“ ersetzt wird. Letztere ist unserem tatsächlichen Wissen und der tatsächlichen Erfahrung immer voraus. Digitalität, wenn sie gut ist, macht uns von Akteur*innen zu Handlanger*innen, sie entmachtet uns.

[18] In welchem Verhältnis also stehen die oben angesprochene Ermächtigung und die Entmachtung? Was bleibt unterm Strich?

[19] Pessimistisch formuliert ist das „ditgitale Zeitalter“ jenes, welches die gewohnte Selbstverortung in der Geschichtlichkeit beiseite räumt. Die im kollektiven Sprachgebrauch entstandene Bezeichnung bezeugt im Grunde eine Fehlwahrnehmung. Es geht gar nicht um das nächste „neue“ Zeitalter, sondern um das Ende von Geschichtlichkeit.

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Theorie des Digitalen Zeitalters. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/theorie-des-digitalen-zeitalters, Eintrag 28.10.2020 [Absatz Nr.].


Über den Autor
Wolfgang Schmale ist Historiker und wissenschaftlicher Publizist. Ein Schwerpunkt ist die Europaforschung.
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One Comment
  1. Gerhard Kaucic 4. November 2020 at 14:01

    04.11.2020
    Geschätzter Wolfgang Schmale,
    gerne lese ich Ihren Blog!
    Was das obige Thema anlangt, bin ich um einige Spuren weniger pessimistisch als Sie.

    Vielleicht interessiert Sie folgendes Posting von mir/uns dazu: https://disseminationsdjayphilpraxkaucic.blogspot.com/2018/02/maschine-mensch-roboter-dekonstruktion.html

    Herzliche Grüße
    Gerhard Kaučić & Anna Lydia Huber
    Philosophische Praxis Wien

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