Macrons Coup am Wahlabend des 9. Juni 2024 – Erinnerung an 2005
Der französische Präsident hat mal wieder allen die Show gestohlen, als er noch am Abend des 9. Juni Neuwahlen zur Assemblée nationale verkündete. Der nach wie vor Europa-integrationsfeindliche Rassemblement National (RN) aus dem Lager der rechtsextremen Parteien hat den vorausgesagten Wahlsieg eingefahren – 31,5% und damit mehr als doppelt soviel wie die um den französischen Präsidenten gescharten Parteien mit 14,6%.
Macrons Coup bestätigt freilich nur, dass es bei den alle fünf Jahre stattfindenden „Europawahlen“ weniger um Europa, sondern in erster Linie um nationale Herausforderungen geht. Der RN hat seit der letzten Präsidentenwahl 2022 und den darauf folgenden Parlamentswahlen immer wieder Neuwahlen zum Parlament gefordert, weil Macron seitdem auf keine eigene absolute Mehrheit zurückgreifen kann. Nun wurde der RN mit der Ankündigung der Neuwahlen selber überrascht und muss sich, wie alle anderen Parteien auch, schnell organisieren. Viel Zeit bleibt nicht, da der erste Wahlgang am 30. Juni und der zweite am 7. Juli 2024 stattfinden wird.
Die Situation erinnert an 2005, als der damalige französische Präsident Jacques Chirac, siegesgewiss, ein Referendum über den geplanten EU-Verfassungsvertrag ansetzte und das mit einem mehrheitlichen „Nein“ der französischen Wähler*innen endete. Das Referendum wäre verfassungsrechtlich nicht erforderlich gewesen. Auch die niederländischen Wähler*innen stimmten damals mit „Nein“, während in zahlreichen anderen Mitgliedsländern der EU der Ratifizierungsprozess bereits positiv abgeschlossen worden war.
Aus dem Verfassungsvertrag wurde folglich nichts, da es der Einstimmigkeit bedurfte. Statt dessen wurde der immer noch geltende Vertrag von Lissabon ausgehandelt, der 2009 in Kraft treten konnte und relativ nahe am Entwurf des Verfassungsvertrags blieb.
Frankreichs Schlüsselrolle
Macron hat Europa (nicht nur als EU-Europa) schon am Abend seiner ersten Wahl zum Präsidenten 2017 zu einem Hauptthema gemacht. Er hat sich als Vordenker Europas positioniert – Konkurrenz hatte er dabei nicht. Ein einsamer Rufer in der Wüste. Im Europa-Wahlkampf 2024 hat er sich erneut stark engagiert, ohne dass sich die Wahl-Prognosen verbessert hätten. Auch wenn 31,5% für den RN sehr wohl so gelesen werden können, dass knapp 70% der Wähler*innen nicht für den RN gestimmt haben, bestätigt das Ergebnis, dass der französische Präsident so europaengagiert sein mag wie er will, das französische Wahlvolk hat er dabei nicht hinter sich.
Rechtsruck im Europäischen Parlament?
Der RN hat unter den Europa-integrationsfeindlichen Rechtsparteien in der EU nach der ungarischen Fidesz (44,3%) und der polnischen PiS (35,7%) das dritthöchste Ergebnis erzielt, gefolgt von den Fratelli d’Italia mit 28,6%. Danach kommt schon die österreichische FPÖ mit 25,7%. Polen, Frankreich und Italien sind vergleichsweise bevölkerungsreiche Länder, sodass sich die Wahlergebnisse spürbar auf die Zusammensetzung des EU-Parlaments auswirken. Die Europa-integrationsfeindlichen Rechtsparteien werden rund ein Viertel der 720 Abgeordneten Sitze besetzen. Europäische Volkspartei, Europäische Sozialdemokraten und Europäische Liberale kommen zusammen auf etwas über 400 Sitze, was, wenn sie zusammenarbeiten, eine stabile Mehrheit ergibt. Die Europäischen Grünen haben insgesamt rund ein Drittel verloren. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 51% und damit wenig über der von 2019.
Der RN wird angesichts der Parlamentsneuwahlen in Frankreich vermutlich kein Interesse haben, die AfD wieder in die Fraktion, der beide Parteien angehörten, aufnehmen zu lassen – der Optimismus von Aust, dritter auf der AfD-Liste für die Europawahlen, am Wahlabend dürfte verfrüht gewesen sein. Der RN kann es sich mit Blick auf die Wahlen am 30.6. und 7.7. nicht leisten, mit einer Partei in Verbindung gebracht zu werden, in der Nazi- und SA-Redeweisen eingesetzt und die SS verharmlost werden.
Es gibt zwischen den europafeindlichen Rechtsparteien starke inhaltliche Gegensätze, unter anderem in Bezug auf den Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, sodass ein koordiniertes Agieren im EU-Parlament nicht weniger schwierig als schon bisher sein wird. Die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni fährt keinen europafeindlichen Kurs, weil sie den Nutzen der EU und ihrer Gelder für Italien besser verstanden hat als die weiterhin Europa-integrationsfeindliche Lega.
Trotzdem zeigen die Wahlergebnisse, dass Parteien mit Europa-integrationsfeindlichen Programmen, die oft als „europaskeptisch“ verniedlicht werden, erheblichen Anklang finden und nicht nur aus Gründen des Protests gegen die aktuelle nationale Regierung gewählt werden. Die Infragestellung der Europäischen Integration seit 1945 ist für Millionen von Wähler*innen offensichtlich ein politisches Anliegen.
Junge Wähler*innen
In meinem Buch von 2018 „Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft“ (open access und download) schlug ich mit Blick auf mehr Demokratie in der EU unter anderem vor, das Wahlalter einheitlich auf 16 Jahre zu setzen. Bei der diesjährigen EU-Wahl haben das nun ein paar weitere Ländern getan, z. B. Deutschland. In Deutschland haben diese jungen Wähler*innen ganz gerne auch eine der kleinen Parteien gewählt, das Wahlverhalten war differenziert, zugleich gab es in zahlreichen Ländern deutlichen Zuspruch für die integrationsfeindlichen Parteien. Den Zuspruch gab es auch für die EVP, weniger für die Europäischen Sozialdemokraten und Grünen.
Aus den Befragungen junger Wähler*innen in den letzten Wochen war zu entnehmen, dass die EU in den Schulen oft ein vernachlässigtes Thema darstellt. Die traditionellen Parteien (am deutschen Beispiel: CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne) tun sich mit der treffsicheren Nutzung Sozialer Medien immer noch schwer, insbesondere tun sie sich damit schwer, Trends, die offensichtlich sind wie im Fall von TikTok, zeitnah zu nutzen. Das heißt ja nicht, TikTok etc. unkritisch zu begegnen, aber anderen das Feld zu überlassen ist wohl keine gute Strategie.
Wie geht es weiter?
2014 hatten die größeren der im EU-Parlament vertretenen Parteien aus eigenem Antrieb Spitzenkandidat*innen aufgestellt. Gemeint war die Funktion der EU-Kommissionspräsident*in. Die EU-Verträge sehen das freilich nicht vor, es gibt allerdings auch kein rechtliches Hindernis, da die Aufstellung von Spitzenkandidat*innen das Recht der Staats- und Regierungschefs, den oder die künftige Kommissionspräsident*in vorzuschlagen, nicht infragesteht. So folgten diese 2014 dem Wahlergebnis – Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) wurde nach Zustimmung des Parlaments Kommissionspräsident, sein Mitbewerber von den Europäischen Sozialdemokraten, Martin Schulz, wurde zum EU-Parlamentspräsidenten für die erste Hälfte der Funktionsperiode gewählt. 2019 hielten sich die Staats- und Regierungschefs nicht an die „Vorlage“, sondern schlugen statt Manfred Weber von der EVP Ursula von der Leyen (CDU) vor, die nur unter Mühen eine Mehrheit für sich im EU-Parlament gewinnen konnte.
Dieses Mal wurde im Vorfeld für mehr Koordination und Kohärenz gesorgt: Ursula von der Leyen deklarierte sich als Kandidatin und wurde von der EVP, aus deren Reihen über die nationalen Volks- oder christdemokratischen Parteien ca. die Hälfte der Staats- und Regierungschefs stammte, als solche aufgestellt. Die anderen Staats- und Regierungschefs opponierten kaum offen dagegen. Als amtierende Kommissionspräsidentin konnte Ursula von der Leyen möglichen Allianzen den Weg ebnen – so unterstütze sie Giorgia Meloni mehrfach bei deren Migrationsagenda.
Niemand weiß, wie sich Emmanuel Macron, der 2019 Ursula von der Leyen ins Spiel gebracht hatte, verhalten wird. Es wird wohl davon abhängen, was er im Wahlkampf zur Assemblée nationale für nützlich hält. Kommissionspräsident*in und Kommissar*innen brauchen jedenfalls die Bestätigung durch das EU-Parlament, das bisher allzu weit rechts stehende Kandidat*innen nicht bestätigt hat. Es sind weitere hohe Funktionen zu besetzen: Außenbeauftragte*r, Ratspräsident*in, Parlamentspräsident*in und Vize-Präsident*innen. Wahrscheinlich spielt auch die Neubesetzung des NATO-Generalsekretärs in die Personalüberlegungen hinein. 2027 endet im November die Amtszeit von EZB-Präsidentin Lagarde, eine zweite Amtszeit ist nicht möglich – es ist nicht auszuschließen, dass das ebenfalls im Hintergrund erwogen wird. Dass gefeilscht werden wird, versteht sich; spannend ist, wieviel davon an die Öffentlichkeit dringen wird.
Politisch ist damit zu rechnen, dass der „Green Deal“ aufgeweicht werden wird, weil sich die nationalen Regierungen in den vergangenen Jahren als unfähig erwiesen haben, die Transformation zur CO2-Neutralität 2050 sinnvoll zu planen und sozio-ökonomisch verträglich auszugestalten. Wirtschaft und Gesellschaft sowie jede*r Einzelne brauchen jedoch Planungsgewissheit und stabile Planungen, die nicht bei jeder Wahl infrage gestellt und nach der Wahl umgeschmissen werden. Technologisch benötigt Europa eine Art Quantensprung, andernfalls wird die Abhängigkeit von den USA und China noch größer und bleibt die Abhängigkeit von fossilen Energien bestehen.
Das Geld, um konkrete Folgen des Klimawandels in Europa wie Unwetter mit Überschwemmungen, Toten und Milliarden-Sachschäden sowie Hitze und Dürre, mit Hitzetoten, Ernteausfällen, Waldsterben usw. zu lindern, fehlt schon jetzt. Wenn die EU-Ebene als Zugpferd ausfällt, wird das Leben in Europa schwierig werden.
Es bestehen Zweifel, dass in den EU-Mitgliedsländern die Bedrohung der Sicherheit und des Wohlergehens aller durch die Russische Föderation ausreichend verstanden wurde. Sollte der RN die Wahlen in Frankreich im Juli gewinnen und sich keine (Mitte-Links-)Mehrheit ohne den RN bilden lassen, wird Macron den RN nicht von der Regierung fernhalten können. Putin wird es wohl freuen. Noch mehr wird es ihn freuen, wenn in den USA Donald Trump die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde. 2016 schrieb ich im Blog, „Donald Trump hilft der EU beim Aufwachen“. Das war ein Irrtum!