Unter „Europa“ werden im Folgenden die EU und die beitrittswilligen Länder verstanden. Nur demokratisch verfasste Gemeinwesen können der EU angehören. Jede einzelstaatliche Demokratie besitzt aus historischen Gründen ihre Besonder- und Eigenheiten, die EU schreibt kein konkretes Modell vor, vielmehr müssen Grundbedingungen wie Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Gewaltenteilung, freies und gleiches Wahlrecht usw. erfüllt sein. Das gemeinsame europäische Recht ist umzusetzen, das in Art. 2 des EU-Vertrags niedergelegte Ziel einer von Diskriminierungen freien Gesellschaft ist aktiv umzusetzen.
Die Liste dessen, was in jeder europäischen Demokratie verfassungsmäßig gewährleistet sein muss, ist inzwischen sehr lang und macht den Grundstock einer europäischen Demokratieunion aus. Das Problem besteht folglich nicht darin, dass bei Null oder Wenig begonnen werden müsste, sondern dass das Vorhandene kaum zusammengedacht wird – genau das soll der Begriff „Demokratieunion“ leisten.
Es ist viel Gemeinsames in Sachen Demokratie vorhanden, es wird aber längst einiges rückgebaut. Die diskriminierungsfreie Gesellschaft wird in einigen Ländern nicht angestrebt. In Ungarn bspw. werden Diskriminierungen ausgebaut. In Polen war das jahrelang unter der PiS-Regierung der Fall, eingeführte Diskriminierungen verschwinden nicht von einem Tag auf den anderen, nur weil es eine neue Regierung gibt. In Polen sind die Präsidentschaftswahlen im Mai 2025 abzuwarten, bevor ggf. mit einem liberalen Präsidenten entsprechende Gesetze durchgesetzt werden können.
Präsident und Regierung in Serbien betreiben eine aktive Diskriminierungspolitik und höhlen mittels ausgreifender Korruption aus, was von Demokratie noch vorhanden ist. Dasselbe gilt für den slowakischen Präsidenten und seine Regierung.
Nationalpopulistische Parteien driften in eine identitäre Ideologie ab. Auch das höhlt Demokratie aus. Diese Liste demokratischer Regression könnte ebenfalls länger fortgesetzt werden. Trotzdem sind nach wie vor alle Chancen für eine europäische Demokratieunion gegeben, da Wahlen immer wieder zu Machtwechseln führen. Im Moment ist nichts in die eine oder in die andere Richtung entschieden.
Umso wichtiger ist es, den Moment für einen Demokratieausbau nicht zu verpassen. Dabei sind Aspekte auszumachen, die am besten gemeinsam europaweit diskutiert werden, selbst wenn es am Schluss Sache der einzelstaatlichen Gesetzgebung ist.
Ein solcher Aspekt ist das Wahlrecht. Ein vollumfängliches Wahlrecht besitzen EU-Bürger*innen nur im Land ihrer Staatsbürgerschaft, nicht aber im Wohnsitzland, wenn dieses nicht das Land der Staatsbürgerschaft ist. Die Regelungen sind vielfältig und sollen hier nicht im Detail referiert werden. Konsens im Sinne der Demokratieunion sollte aber werden, dass EU-Bürger*innen ihr Wahlrecht auf allen Ebenen, von der kommunalen bis zur nationalen, bewahren. Ob sie dieses vollumfängliche Wahlrecht allein im Wohnsitzland oder teils dort, teils im Land der Staatsbürgerschaft ausüben, ist zu regeln.
Wichtig und am besten gemeinsam europäisch zu regeln – das heißt nicht EU-Recht, sondern eine Verabredung, es überall so zu machen – ist das Wahlrecht für Drittstaatsangehörige. Manche Länder gewähren diesbezüglich mehr, andere so wenig wie möglich. Das führt dazu, dass in allen europäischen Ländern ein immer größerer Anteil der Bevölkerung kein Wahlrecht besitzt, obwohl die Entscheidungen des Gemeinwesens auf allen Ebenen für sie genauso relevant sind wie für alle anderen.
Politische Bürger*innenrechte von Nicht-Staatsbürger*innen können von einer Mindestaufenthaltsdauer abhängig gemacht werden, aber sie können nicht dauerhaft vorenthalten werden. Das ist ein Relikt aus dem obrigkeitsstaatlichen Zeitalter, das im Zuge der wachsenden Schmähung von Migration ideologisch neu aufgeladen wird.
Demokratische Rechte sind nicht Teil des staatlichen Gnadenrechts, sondern Fundamentalrechte. Das ist nicht Konsens in Europa und muss daher öffentlich diskutiert werden.
Eine Demokratieunion wird aus mehr bestehen müssen. Dies zielt auf die EU-Verfassung. Noch immer können extremistisch denkende Regierungen die gesamte EU blockieren, wenn es um die Fragen geht, wo die EU-Verträge einstimmige Beschlüsse verlangen. Die europäischen Länder sind zu sehr aufeinander angewiesen, als dass diese Blockademöglichkeit weiter zugelassen werden kann.
Die Dynamik der Europäischen Integration hat seit den 1950er Jahren ein Europa gezeitigt, das sich von den historischen Europa-Vorgängerinnen deutlich unterscheidet. Es ist notwendig, das zu sehen und öffentlich einzuräumen. Das EU-Europa unterscheidet sich von den USA, von der Russländischen Föderation, von China, von Indien, es ist sehr viel mehr mit sich kulturell eins als zugegeben wird.
Das stellt eine gute Voraussetzung dafür dar, nur noch mit dem Mehrheitsprinzip zu arbeiten, wobei das Prinzip der qualifizierten Mehrheit, das dem der „Verfassungsmehrheit“ auf der einzelstaatlichen Ebene entspricht, beibehalten werden soll.
In diesem Sinn ist an einer Demokratieunion zu arbeiten, so wie eben auch an einer Energieunion etc. zu arbeiten ist.