[1] Vom Alexanderplatz in Richtung Brandenburger Tor macht die Karl-Liebknecht-Straße zwischen Dom und Schloss einen leichten Knick, Unter den Linden führt gerade auf das Brandenburger Tor zu. Kirchen, wichtige Museen, historische Gebäude, Botschaften, Einrichtungen der Kultur und der Wissenschaften, Denkmäler und Gedenkorte reihen sich aneinander.
[2] Nach dem Brandenburger Tor führt die Straße des 17. Juni auf die Siegessäule und danach auf den Ernst-Reuter-Platz. Die Bismarck-Straße übernimmt die Fortsetzung, um das Weitere dem Kaiserdamm zu überlassen. Mit ein wenig Fantasie kann man anfangs ein Stück Wiener Ringstraße assoziieren, an die sich dann eine Champs-Elysées Berliner Spielart anschließt, links und rechts historische und aktuelle Zentren der Macht.
[3] Die auf diesen Kilometern vereinigten Zeitschichten sind vielfältiger als auf der Ringstraße und den Champs-Elysées, sie spiegeln auch gebrochenere Zeitläufte und historische Zeitenwenden wider, die Europa betrafen und betreffen: Das Brandenburg-Preußen Friedrichs II., das das europäische Mächtesystem veränderte, das Deutsche Kaiserreich von 1871, der Nationalsozialismus, die Blockgrenze zwischen Ost und West, die Revolution von 1989, die derzeitige Rolle Berlins/Deutschlands in der EU (und mehr!).
[4] Das an dieser Stadtachse gelegene Deutsche Historische Museum (DHM) ist in diesen Tagen Ort einer Konferenz, die der Vorbereitung der Anfang Juni 2018 zu eröffnenden Ausstellung „Europa und das Meer“ dient. Die Ausstellungsvorbereitung entspringt einer Kooperation des DHM und des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Europäische Geschichte an der Universität Köln und wird von einem größeren Kreis an WissenschaftlerInnen mit deren Expertise unterstützt.
[5] 1993 schrieb Michel Du Mollat Jourdin ein Buch unter dem Titel „Europa und das Meer“, ohne dabei wirklich zu erklären, was diese Beziehung für Europa in den vielen Hinsichten, die in Betracht kommen, bedeutete. Noch ein paar Jahre früher hatte Alain Corbin über „Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840“ geschrieben, und geht man weiter zurück, landet man unweigerlich bei Fernand Braudel und seinem monumentalen Werk über das Mittelmeer als Kultur- und Wirtschaftsraum in der Epoche des spanischen Königs und ‚Weltherrschers‘ Philipps II.
[6] Davor und danach türmen sich Studien zur Ökonomie des Meeres, zu den sogenannten Entdeckungsfahrten, zum Sklavenhandel, zu den Seekriegen, zum Schiffsbau, zur Ressourcennutzung, zur Migration über See, zur Meeresforschung etc. bis hin zum Tourismus. In durchschnittlichen Überblicken zur europäischen Geschichte spielt der Zusammenhang zwischen Europa und dem Meer jedoch nicht zwingend eine prominente Rolle.
[7] Die Ausstellung wird also vielleicht den Blick anders lenken können auf die europäische Geschichte. Ihre geplante Eröffnung im Juni 2018 fällt zugleich in das Europäische Kulturerbejahr 2018, für das ebenfalls schon die Vorbereitungen laufen. Dieses wird von der EU und dem Europäischen Parlament in Verbindung mit dem Europarat sowie vielen ‚nationalen‘ Akteuren getragen werden.
[8] Auch wenn mit den Europäischen Kulturhauptstädten und dem Haus der Europäischen Geschichte des EU-Parlaments wichtige kulturelle und kulturhistorische Aktivitäten durchgeführt werden, zu denen sich andere Initiativen im kulturellen Bereich gesellen, ist das Engagement von EU und EU-Parlament im Feld der Kultur eher schwach ausgebildet, während der Europarat hier auftragsgemäß seit eh und je tätig ist, aber mangels erklecklicher Finanzressourcen mit angezogener Handbremse zurechtkommen muss. Ein umfassenderer kultureller Auftrag lässt sich aus den EU-Verträgen höchstens ableiten, er steht bei den ausdrücklichen Zielformulierungen im Hintergrund. Gleichwohl ist eine Stärkung kultureller Projekte durchaus entscheidend für das Europabewusstsein und das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl.
[9] Projekte für das Kulturerbejahr werden ab jetzt entwickelt, in Berlin koordiniert das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz im Auftrag der Staatsministerin für Kultur und Medien europäisch angelegte Projekte, die im Moment angedacht und skizziert werden. Der Ort einer Besprechung (am 2.6.) ist gut gewählt: Die Kleine Orangerie von Schloss Charlottenburg. Besonders jüngere Menschen sollen 2018 angesprochen und einbezogen werden – da ihnen einmal das europäische Kulturerbe zufallen wird.
[10] Es ist wohltuend, bei so viel ‚europäische Krise‘, die die Medien und vordergründig die Politik beherrscht, einmal ein paar Tage über europäische Kultur und Geschichte in konkreter Ausrichtung auf praktische Projekte, die 2018 Menschen nicht nur aus Europa zusammenführen werden, zu sprechen und die Projekte präzise durchzuplanen. Was Europa über die Zeitläufte hinweg trägt, ist das ‚gelebte Europa‘.
[11] Doch ist auch dies als ‚gelebtes Europa‘ zu bezeichnen? Während in der Kleinen Orangerie über das Europäische Kulturerbejahr gesprochen wurde, trat wenige Kilometer Luftlinie östlich davon der Deutsche Bundestag zusammen und debattierte über eine Entschließung zum Genozid an den Armeniern 1915. Die Bezeichnung des Genozids als Genozid wurde übereinstimmend festgehalten, zugleich wurde die Rolle des Deutschen Kaiserreichs kritisch beurteilt.
[12] Es wird ein Streitpunkt bleiben, ob Parlamente richtig tun, wenn sie solche Entschließungen verabschieden. Wofür tun sie das? Ist es im Grunde nicht ‚nur‘ ein Akt der Selbstvergewisserung, dass sie die richtige Haltung zur Geschichte und zum Umgang mit ihr haben? Natürlich ist es wichtig, dass die Türkei, sollte sie doch noch ernsthaft Teil der EU werden wollen, sich nicht um ihre Geschichte herummogelt, aber den ehrlichen Diskurs darüber muss sie, soll er nachhaltig sein, selber aufbauen.
[13] Für die Armenier ist die Anerkennung ihres Schicksals von hoher Bedeutung – und es ist grundsätzlich von hoher Bedeutung, dass ihr Schicksal anerkannt wird. In dieser Hinsicht macht die Entschließung Sinn. Trotzdem hat der Bundestag etwas begonnen, aber ist ihm klar, dass er etwas begonnen und nichts ‚erledigt‘ hat? Ähnliche Entschließungen, deren formaler Charakter unterschiedlich ist, hat es in Europa schon mehrere gegeben, auf Initiative von Parlamenten, aber wo ist die konstruktive Politik, die auf eine Öffnung der Grenzen zwischen der Türkei und Armenien abzielt? Was ist eine Entschließung wert, die mit dem Ende der Abstimmung schon wieder endet?
[14] Im Blog vom 19.3.2016 schrieb ich, die Türkei brauche EU-Europa. Vielleicht ist meine Brille nicht mehr so gut, jedenfalls habe ich Mühe, das EU-Europa, das die Türkei bräuchte, auch zu erkennen. Wieder scheint es, dass sich europäische Akteure nicht ernsthaft die Mühe machen wollen, herausfordernde Situationen und Aufgaben anzunehmen.
Dokumentation:
Du Mollat Jourdin, Michel (1993): Europa und das Meer. München: Beck. Corbin, Alain (1990): Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste. 1750-1840. Berlin: Wagenbach. Braudel, Fernand (1949): La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. (Erweiterungen 1966; viele französische Ausgaben; Übersetzungen)
„Europa und das Meer“: Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Jürgen Elvert, Universität Köln/Dorlis Blume, M.A., Deutsches Historisches Museum, 2.6.-4.6.2016.
Europäisches Kulturerbejahr: www.sharingheritage.eu
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäisches Kulturerbejahr 2018: Europäeln in Berlin. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/berlin, Eintrag 05.06.2016 [Absatz Nr.].