[1] Der EU-Gipfel vom 18./19. Februar 2016 schreibt die 2005 begonnene Stärkung der Nationalstaaten fort und läuft Gefahr, den Exitus der EU – sie wird am morbus egomaniae nationum sterben – zu beschleunigen.
[2] Es ist ungewiss, ob das Verhandlungsergebnis die britischen Wählerinnen und Wähler überzeugt und sie für den Verbleib des UK in der EU stimmen werden. Die EU hat einen hohen Preis bezahlt, sie bekommt dafür nichts – denn selbst wenn das UK in der EU verbleibt, ist die Sonderposition des Landes dermaßen gestärkt worden, dass der Verbleib genau besehen überflüssig ist.
[3] Zu den bisherigen Ausnahmen von EU-Regeln sind weitere hinzugekommen. Mittlerweile ist Großbritannien von allen gemeinsamen Zielen, die sich als gemeinsame europäische Werte betrachten lassen, ausgenommen. Das hätte man mit einer gemeinsamen Freihandelszone zwischen hier EU und da UK genauso haben können. Das Vereinigte Königreich ist seit mehr als 300 Jahren auf allen europäischen Friedenskongressen (ausgenommen 1945) noch nie mit einem anderen Ziel, als Freihandelsvorteile zu sichern, aufgetreten. Es steht ideologisch immer noch da, wo es schon 1815 beim Wiener Kongress stand. Bei allen aktuellen brennenden politischen Fragen ist das UK als konstruktiver politischer Akteur abwesend.
[4] Das Modell EU + Freihandelszonenländer existiert schon jetzt in Gestalt des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), der EU und Rest-EFTA (Norwegen, Island, Liechtenstein) seit 1992 verbindet (freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital). Etwas anders, aber nicht unähnlich, hatte sich bis vor einiger Zeit das Verhältnis EU-Schweiz entwickelt. Dies stagniert, weil die rechte SVP es so will.
[5] Es ist verständlich, dass im Moment niemand in der EU offen ausgesprochen hat, was offensichtlich ist, nämlich dass die Gemeinsamkeitsbedürfnisse des UK mit der Zugehörigkeit zu einer Freihandelszone vollauf befriedigt würden.
[6] Wir werden sehen, was geschieht, wenn das Referendum aus EU-Sicht schief geht: dann wäre es ein Gebot der Klugheit, sich so wenig wie denkbar aufzuregen und stattdessen die EWR-Lösung umzusetzen. Ohnehin wäre es nicht schlecht, sich mit einem solchen Handlungsmodell zu befassen, denn sollten in den nächsten Jahren neue Kleinstaaten entstehen (vgl. Katalonien, etc.), wäre die Aufnahme in den EWR eine rationale und kluge Antwort, statt sich auf eine Spirale der Empörung einzulassen, die irgendwann in Hass endet.
[7] Die Gefahr sich steigernden Hasses ist schon jetzt real und gibt Grund zu wirklicher Sorge.
[8] Die Stärkung der Mitspracherechte der nationalen Parlamente, die auf dem Gipfel vereinbart wurde, wird die EU nicht stärken. Das EU-Parlament sollte gestärkt werden, denn die nationalen Interessen sind ohnehin durch die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat massiv präsent. Dass eine europäische Sozialunion zielführender wäre, als das neuerliche, aus weiteren Ausnahmen bestehende Stückwerk, liegt auf der Hand, wurde aber nicht diskutiert.
[9] Als 2005 in Frankreich und den Niederlanden gegen die Europäische Verfassung gestimmt wurde, war das Verfassungsprojekt tot. Im Vertrag von Lissabon wurden die nationalen Interessen gestärkt, man vergleiche mit dem Vertrag von Maastricht (1992) oder auch Nizza (2000). Mit den Vereinbarungen vom 19.2.2016 wurden die Weichen erst recht in Richtung EU-Exitus gestellt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Brexit verschoben, Exitus der EU beschleunigt. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/brexit, Eintrag 21.02.2016 [Absatz Nr.].
Nach dem Grexit der Brexit. Hier darf man sehr gespannt sein, welche Entwicklung das ganze in Zukunft noch nehmen wird.