[1] In elf Tagen werden wir schlauer sein, ob eine Brexit-Prozedur angestoßen sein wird oder nicht. Aber besitzt das Votum selber eigentlich noch Bedeutung? Egal, ob der Brexit beschlossen wird oder nicht, im Grunde ist schon jetzt klar, welche Schwerpunktänderung für die EU anzudenken ist.
[2] Die Frage, ob das Votum der britischen Wahlbevölkerung am 23.6.2016 überhaupt noch Bedeutung besitzt, mag befremden, sie ist aber dennoch berechtigt, wenn man darüber nachdenkt, was die Tatsache selber bedeutet, dass diese Volksabstimmung angesetzt wurde.
[3] Das Vereinigte Königreich (im Folgenden abgekürzt als England) war nach dem Krieg eingeladen, an der Entwicklung gemeinsamer europäischer Institutionen mitzuarbeiten und Mitglied zu sein. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl hätte auch mit sieben statt sechs Mitgliedern starten können.
[4] England wurde kein Mitglied, entschloss sich zu dem Schritt, eine Mitgliedschaft anzustreben, aber in den 1960er-Jahren. Wie bekannt, wurde England erst mit dem 1.1.1973 Mitglied. Die Zustimmung hierzu war niemals einhellig gewesen, und es hat niemals nur an den Eigentümlichkeiten von Margaret Thatcher gelegen, dass der Streit um die Richtigkeit der Mitgliedschaft niemals beigelegt wurde.
[5] Die bevorstehende Volksabstimmung ist Ausdruck dieses niemals entschiedenen Zielstreits. Das unterscheidet England seit Jahrzehnten von anderen EU-Mitgliedern, die nach dem Beitritt solche Debatten nicht mehr weitergeführt haben. Das heißt nicht, dass Austrittsforderungen nicht auch in anderen EU-Ländern bestünden – Österreich wäre so ein Beispiel. Aber es gibt bisher keinen mit England vergleichbaren Fall.
[6] Insoweit ist es sinnvoll, die Besonderheit des englischen Falls als Besonderheit anzuerkennen und daraus kein größeres Drama zu machen als nötig. Entscheidet sich eine Mehrheit für den Brexit, so sollten alle Beteiligten anschließend Disziplin zeigen und das Beste daraus machen. Gleichwohl wird England nicht umhin können, sich von den jetzt genährten Illusionen zügig frei zu machen. England wird keinen Sonderstatus im Vergleich zu etwa Norwegen erhalten, das mit der EU eng verbunden, aber aufgrund einer Volksabstimmung niemals Mitglied geworden ist. Es wird sich schnell zeigen, dass die Abwägung der Vor- und Nachteile der EU-Mitgliedschaft zu oberflächlich und polemisch abgelaufen ist, aber das ist nach dem 23.6.2016 vorbei und nicht wiederholbar.
[7] Welche Auswirkungen ein Brexit für England selbst haben wird, ist rein spekulativ. Abgesehen davon, dass die BefürworterInnen des Brexit schnell auf den Boden der Tatsachen gelangen werden, das heißt merken werden, dass ihre Vorstellung von wiedergewonnener „Freiheit“ keiner Wirklichkeit entspricht, wird nach dem Verfliegen der ersten bestürzten Reaktionen nicht viel passieren, außer dass der notwendige Verhandlungsprozess gestartet werden muss. Schottland wird sich weder sofort noch später von England trennen. Wie auch im Fall einer Abspaltung Kataloniens von Spanien müsste ein souveränes Schottland erst Beitrittsverhandlungen führen. Das wird sich hinziehen und die Zustimmung der EU-Mitglieder ist nicht gesichert, da die allgemeine Stimmung in der EU entgegen dem gemeinsamen Vertragsziel einer immer engeren Zusammenarbeit in Richtung Rückbau der europäischen Integration geht.
[8] Das Wichtigste wird sein, die sich andeutenden Emotionen nicht zur politischen Richtlinie werden zu lassen. Weder dürfen die EngländerInnen für einen Brexit bestraft werden, noch darf ihnen ein Absturz an den Hals gewünscht werden in der Hoffnung, dass dies andere Länder aus der Versuchung, die EU zu verlassen, wieder herausführt. Nicht ein Votum für den Brexit selber, sondern die anschließenden Reaktionen der bisherigen EU-Partner entscheiden darüber, ob die Auskömmlichkeit, die der Prozess der europäischen Integration unter den europäischen Nationalstaaten in den letzten 60 Jahren hergestellt hat, in den Mülleimer entsorgt und durch das Gegeneinander des Nationalismus ersetzt wird.
[9] Beunruhigend an der gesamten Diskussion ist der Umstand, dass europäische Werte, die sich nicht in eine ökonomische Nutzrechnung einbetten lassen, sondern um ihrer selbst willen gewollt werden müssen, kaum eine Rolle spielen. Die Freizügigkeit, die den EU-BürgerInnen in der EU ermöglicht wurde, ist ein solcher Wert, der für sich steht. Es geht um das Prinzip der Freizügigkeit. Stattdessen wird es als Sozialmissbrauch schubladisiert, also ökonomisiert. Es greift derselbe Abschottungsmechanismus wie gegenüber den Flüchtlingen. Statt sich mit den Ursachen von Wanderungsbewegungen auseinanderzusetzen, wird abgeschottet. England hat hier bereits eine Bresche geschlagen – jene „Verhandlungserfolge“, die Herr Cameron meinte erreichen zu müssen, um sich für einen Verbleib Englands in der EU einsetzen zu können –, die etlichen EU-Mitgliedern zu pass kommt. Auch in diesem Punkt gilt, dass es nicht wichtig ist, ob der Brexit kommt oder nicht, das Unerfreuliche, das die Integration zurücknimmt, ist längst vereinbart.
[10] Ein Brexit würde deutlich machen, dass europäische Werte um ihrer selbst willen verteidigt und praktiziert werden müssen. Sie lassen sich nicht in Euro oder Pfund umrechnen. Trotzdem sind sie lebensnotwendig. Es kann auch nicht sein, dass diese Einsicht davon abhängt, wie lange der Zweite Weltkrieg zurückliegt. Sicherlich bewegen wir uns 2016 an der zeitlichen Grenze zwischen der Präsenz der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der gezogenen Schlussfolgerungen, u.a. in Bezug auf die Erforderlichkeit eines Integrationsprozesses, noch im kommunikativen Gedächtnis einerseits, und deren ‚Verlagerung‘ in das kulturelle Gedächtnis, andererseits. Aber dies kann kein Grund für Geschichtsvergessenheit sein.
[11] Allerdings liegt die Schlussfolgerung nahe, dass kulturelle Zielsetzungen in der EU ein größeres Gewicht erhalten sollten gegenüber den ökonomischen. Es wird sinnvoll sein, die ‚immer engere Zusammenarbeit‘ zunehmend kulturell zu verstehen. Laut Standard Eurobarometer meint rund ein Drittel der Befragten, dass (1) Kultur und (2) Geschichte für das europäische Gemeinschaftsgefühl besonders ausschlaggebend seien, gefolgt von zehn weiteren Begriffen, mit geringerer prozentualer Zustimmung. Darin kann ein sehr konkreter Ansatzpunkt für eventuelle Schwerpunktverschiebungen bezüglich der Zielsetzungen für die EU gesehen werden.
[12] Die Antwort auf die Abstimmung vom 23.6.2016 lautet, egal wie diese Abstimmung ausgeht, dass „europäische Kultur und Geschichte“ zum zentralen Thema in der EU werden sollten.
Bildquelle: http://www.keepcalm-o-matic.co.uk/
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Brexit – das Beste draus machen! In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/brexit-2, Eintrag 12.06.2016 [Absatz Nr.].
Lieber Herr Schmale,
vielen Dank für eine unaufgeregte Stimme in der zumindest bis letzte Woche immer panischer sich gerierenden Brexit-Diskussion! Den Aufruf zur Entdramatisierung kann ich voll mittragen. Ich wäre nochmal gespannt auf eine ausführlichere Erörterung der Absätze 11 und 12, denn da steckt meiner Meinung nach noch viel drin. Die Frage bleibt indes, wie Ihre dort geäußerten Forderungen der politischen Klasse begreifbar zu machen sind…