Einleitung
[1] Die Corona-Pandemie stellt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur vor die Herausforderung, der Pandemie Herr zu werden, sondern sie stellt uns alle vor die Aufgabe, auch die Demokratie möglichst unbeschädigt durch diese Zeit hindurch zu bringen.
[2] Der Pandemie Herr werden müssen alle Staaten, egal, wie ihr politisches und Herrschaftssystem aussieht. Für die demokratischen Staaten erweist es sich aber – womöglich unerwartet – als eine zusätzliche Herausforderung, ihr demokratisches System nicht zu beschädigen.
[3] Zuvor stellt sich eine Frage, die im Augenblick noch nicht abschließend beantwortet werden kann. Wäre China eine Demokratie, wären dann die offenbar schon im Dezember 2019 vorliegenden Warnungen von Ärzten, dass ein neues gefährliches Virus unterwegs sei, öffentlich gemacht und erste Schutzmaßnahmen eingeleitet worden? Statt die Informationen zu unterdrücken und Ärzte zum Schweigen zu bringen? Hätte man Transparenz geübt, hätte dann viel von dem, was seitdem gekommen ist, vermieden werden können?
[4] Es geht nicht darum, China Schuld zuzuweisen, umso weniger, wenn man die Nonchalance der meisten westlichen Demokratien Revue passieren lässt, mit der auf die Zuspitzung der Lage in Wuhan NICHT reagiert wurde, sondern darum herauszufinden, ob die strikte Anwendung demokratischer Werte wie Transparenz und Offenheit zu effektiverem Handeln führen könnte.
[5] Im Folgenden soll es konkret um demokratische oder nicht demokratische Handlungsweisen in Demokratien während der Corona-Pandemie gehen. Funktionieren die gesetzgebenden Institutionen weiterhin wie sie sollen? Wird die Situation instrumentalisiert, um mehr Autokratie durchzusetzen? Behalten die Bürger*innen ihren Status als Bürger*innen?
Funktionieren die gesetzgebenden Institutionen weiterhin wie sie sollen?
[6] Die Frage betrifft in erster Linie die Parlamente, also die gesetzgebenden Organe. Die Parlamentarier*innen haben denselben Anspruch auf Schutz vor Ansteckung wie alle Bürger*innen. Daher ist gegen die in den meisten Fällen gefundene Lösung, dass nur ein bestimmter Prozentsatz der Abgeordneten persönlich an Plenardebatten teilnimmt und abstimmt, nichts einzuwenden, solange diese Maßnahme zeitlich begrenzt bleibt und niemand in den Abgeordnetenrechten beschnitten wird. Auch elektronische Abstimmung durch die Nichtanwesenden ist in der Ausnahmesituation wohl unbedenklich.
[7] Dass die gesetzlichen Grundlagen für Ausgangsbeschränkungen, die ja einen Eingriff in Grundrechte darstellen, und die finanziellen Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft etc. im Eiltempo verabschiedet werden, weil alles schnell greifen können muss, ist nachvollziehbar, muss aber eindeutig und nicht nur „vielleicht“ verfassungskonform sein. Die Grundrechte genießen einen hohen Rechtsschutz, und das mit Grund. Man darf sich daher bei dieser Schnellgesetzgebung nicht um die grundsätzlichen Fragen herumdrücken. Unklare zeitliche Begrenzungen, so sehr sie mit der Ungewissheit der Entwicklung der Pandemie begründet werden können, sind heikel.
[8] Schnellgesetzgebung hat es in verschiedenen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren mehrfach gegeben. Die Beratungszeiten waren zu kurz, Begutachtungsprozesse wurden unterlaufen, die Rechte der politische Opposition im Parlament beschnitten. Die Corona-Pandemie darf nicht das Einfallstor für die Normalisierung von Schnellgesetzgebung werden, diese muss eine Ausnahme bleiben. Dass diese Schnellgesetze in aller Regel – so auch jetzt – eher schlecht gemacht sind und teilweise mehrfacher Nachbesserung bedürfen – wie auch jetzt – kommt hinzu; das tut einer Demokratie nicht gut.
Wird die Situation instrumentalisiert, um mehr Autokratie durchzusetzen?
[9] Dies führt bereits zum nächsten Aspekt, ob die Situation instrumentalisiert wird, um mehr Autokratie durchzusetzen? Hier drängt sich der Fall Ungarn auf, wo der Jünger der „illiberalen Demokratie“ Viktor Orbán am 30.3.2020 eine Art Ermächtigungsgesetz (offiziell: Notstandsgesetze) für sich durchgesetzt hat, das das Parlament als gesetzgebendes Organ stark marginalisiert bzw. ausschaltet. Verabschiedet wurde es mit der Zweidrittelmehrheit der Orbán-Partei Fidesz. Wieder einmal in der europäischen Zeitgeschichte schaltet die Mehrheit in einem Parlament sich selber von der Kontrolle der Exekutive aus und begibt sich seiner Hauptfunktion, der Gesetzgebung.
[10] In Polen stehen Präsidentschaftswahlen an. Unter den gegewärtigen Ausgangsbeschränkungen ist allerdings ein fairer chancengerechter Wahlkampf für die Kandidat*innen mit Ausnahme des amtierenden Präsidenten Duda wegen seines direkten Zugangs als Präsident zu den Medien nicht gewährleistet.
[11] Es ist, mit Blick auf die Ausgangsbeschränkungen, essentiell, dass die Wähler*innen entweder frei und gleich zum Wahllokal gehen können oder die Möglichkeit der Briefwahl haben. Wahlurnen zur Wohnung zu bringen oder die Vertretungsmöglichkeiten stark auszuweiten, ist mit demokratischen Wahlen nicht vereinbar, das Wahlrecht muss, abgesehen von den wohldefinierten Ausnahmen, persönlich ausgeübt werden, und zwar in einem Wahllokal in einer Kabine, frei von jeglicher potenzieller Einflussnahme vor Ort. Die Wahlen müssen beobachtet werden können, über die Wahlen muss frei für die Öffentlichkeit berichtet werden können.
[12] Die Verschiebung von Wahlen darf freilich nicht leichtfertig geschehen, aber sie kann die bessere und demokratischere Lösung sein: In Frankreich wurde Mitte März der erste Wahlgang der Kommunalwahlen durchgeführt. Die Wahlbeteiligung war wegen der Ansteckungsgefahr niedrig, viele Wahlhelfer*innen haben sich tatsächlich mit dem Virus angesteckt und sind nun krank, einige sogar schwer krank. Die Warnungen vor der Abhaltung der Wahlen sind nicht berücksichtigt worden. Der zweite Wahlgang wurde verschoben – es ist unklar, ob die Wahlen überhaupt in dieser Form gültig sein werden.
[13] In den USA wurden hingegen Vorwahlen bei den Demokraten verschoben. In Bayern wurde der zweite Wahlgang (Stichwahlen 29.3.2020) bei den Kommunalwahlen ausschließlich per Briefwahl durchgeführt.
[14] Manche Länder sehen keine Briefwahl vor oder haben sie wieder abgeschafft – die Corona-Krise muss so bald wie möglich daraufhin ausgewertet werden, welche Konsequenzen für das Wählen-gehen-können zu ziehen sind. Das wäre eine schöne Gelegenheit für mehr europäische Einheitlichkeit und mehr europäische Demokratie.
[15] Neben der Einschränkung der Bewegungs- und Arbeitsfreiheit, die für die meisten Menschen wegen der hohen Ansteckungsgefahr und der offensichtlichen Aggressivität des Virus nachvollziehbar ist, wird aber auch versucht, auf persönliche Daten (Handy-Daten-Tracking) zuzugreifen, um kollektive, aber auch individuelle Bewegungsprofile zu erhalten.
[16] Der Aufwand, transparent und überzeugend darzulegen, warum dieser erneute Versuch, Privatheit und deren Schutz anzutasten, nötig sein soll, ist sehr begrenzt. Das Thema des Datenschutzes und Privatheitschutzes wird nicht sehr ernst genommen, aber das unbestreitbare Fehlverhalten einiger Menschen rechtfertigt kaum so weitgehende Grundrechtseingriffe.
[17] Hier darf es nicht zu Schnellgesetzgebungen kommen. Die Kehrseite der Schutzmaßnahmen ist nicht nur in Bezug auf die Beeinträchtigung der Wirtschaft zu prüfen, sondern auch in Bezug auf die Grundrechte, den Datenschutz und den Schutz der Privatheit.
[18] Auffällig ist das Befehl-Gehorsam-Schema, das sich in manchen Ländern abzeichnet. Dass sich Millionen von Bürger*innen nicht sofort völlig umstellen und manche uneinsichtig sind, kann ja nicht überraschend sein. Manchen scheint der Schritt, Verhalten sofort zu kriminalisieren, naheliegend zu sein.
[19] Der französische Präsident Macron kritisierte die Bevölkerung öffentlich, weil sie für seine Begriffe zu unbotmäßig gewesen ist. Man sollte sich dagegen die Frage stellen, ob nicht die massenhafte Verteilung von Schutzmasken jene pädagogischen Effekte gezeitigt hätte, die die Befehls-Gehorsamskette kaum erreichen kann? Zumindest bis jetzt gibt es nicht genug Masken, weil nicht vorgesorgt wurde. Steckt vielleicht da das tiefere Problem in der mangelnden Vorsorge? Das kann nicht durch die Kriminalisierung Einzelner gelöst werden.
[20] In Italien wurden harte Haftstrafen angedroht, in Ungarn mit den neuen Notstandsgesetzen noch härtere, zugleich haben die Häftlingsrevolten die unhaltbaren Zustände in vielen italienischen Gefängnissen wieder einmal ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Die Gründe für die hohe Todesrate unter den am Virus Erkrankten in Italien liegen tiefer als im allfälligen Fehlverhalten Einzelner oder auch von Gruppen.
[21] Je härter die angedrohten Strafen sind, desto mehr lohnt sich ein genauer Blick in diese Länder, wie etwa in das besonders marode Gesundheitswesen z.B. in Ungarn. Wenn Demokratien aufhören, Probleme einzuräumen und diese zu lösen und statt dessen die Kriminalisierungsschwelle immer weiter absenken, wird es bedenklich.
[22] Das ist der Moment, den etwas triumphierenden Satz, nun sei es die Stunde des Staates, auf den Prüfstand zu stellen.
„Die Stunde des Staates“?
[23] In den vergangenen Jahrzehnten ist das Verständnis vom Staat als vorsorgendem Staat im Zuge des Neoliberalismus stark in Mitleidenschaft gezogen worden, trotz vieler warnender Stimmen. Wie sich derzeit beobachten lässt, ist die Vorsorge für Situationen wie Epidemien bzw. Pandemien vernachlässigt worden, und zwar in einem Ausmaß, das doch überrascht, gerade in Bezug auf die Unterversorgung der Krankenhäuser und Arztpraxen sowie aller Kranken- und Pflegedienste. Wie sich gezeigt hat, wurde nicht darauf geachtet, Mindestproduktionskapazitäten in Europa aufrecht zu erhalten.
[24] Das ändert aber nichts daran, dass die Bewältigung von Pandemie-Situationen zu den ureigenen Aufgaben eines Staates gehört. Dass er sich dem stellt, in Gestalt der Regierung, der zuständigen Behörden und, in föderalen Staaten, der Länder, sollte als selbstverständlich gelten. In dem Sinne ist es immer die Stunde des Staates – aber das Staatsverständnis ist hier defizitär geworden.
[25] Was in Wirklichkeit gemeint ist mit einem solchen Satz, ist eher die Zuspitzung auf einzelne Politiker*innen. Das kann eine Demokratie nur bedingt vertragen, Führerstaat und Demokratie vertragen sich nicht. Das unfreundliche Wort vom Führerstaat trifft im Moment vor allem Ungarn unter Viktor Orbán, aber letztendlich kommt es auf die Kombination verschiedener Elemente an:
[26] – die starke Betonung der Befehl-Gehorsamskette für die ganze Bevölkerung, ohne dass die Effektivität dieses Prinzips bewiesen wäre; der Bevölkerung wird signalisiert, dass sie nicht als Mitakteurin in der Krise begriffen wird, sondern als Befehlsempfängerin, die gelobt wird, wenn sie brav ist. Wo sind die Bürger*innen der Demokratie geblieben?
[27] – die Ausmanövrierung bestehender Gremien wie in Frankreich: An die Stelle des bestehenden „Haut Conseil de la santé publique“ hat Präsident Macron ad hoc einen elfköpfigen wissenschaftlichen Rat gesetzt, von dem er sich beraten lässt. In Le Monde vom 27. März 2020, S. 23, beklagt der Forscher am CNRS Nicolas Henckes „la faillite de notre démocratie sanitaire“.
[28] – Die EU-Staaten haben relativ schnell und ohne gegenseitige Konsultationen Grenzschließungen vorgenommen. Jede verpasste Gelegenheit, sich im Binnenmarkt miteinander abzustimmen und in Krisenzeiten verstärkt gegenseitig zu konsultieren, schwächt die europäische Demokratie und spielt der neuerlichen Fixierung auf „Führer“ in die Hände.
[29] Grenzschließungen stehen auf der Skala der symbolischen politischen Kommunikation oben bei den starken Signalen, sind aber eher Ausdruck von Hilflosigkeit und offenbaren den Mangel an vorausschauender Politik und Vorsorge. Seit zu vielen Jahren lebt Politik in Europa von der Hand in den Mund, das Ergebnis ist der stetig zunehmende Nationalismus.
Weiterführende Links: https://digitalcourage.de/blog/2020/im-blick-grundrechte-und-corona-massnahmen
Lysander Fremuth (LBI Menschenrechte, Wien): Coronavirus und Menschenrechte. Die Bekämpfung des Coronavirus – Menschenrechtliche Grundlagen und Grenzen
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Corona-Pandemie und Demokratie . In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/corona-pandemie-und-demokratie, Eintrag 31.03.2020 [Absatz Nr.].
[1] Zu 18-21 und 26: In Österreich, Frankreich, Spanien, Deutschland und Großbritannien haben die höchsten Verantwortlichen nachdrücklich und z.T. eindrucksvoll an die Verantwortung der Bürger*innen appelliert und nicht in erster Linie, oft auch erst nach und nach auf Strafmaßnahmen gesetzt. Man kann es allerdings mehr oder weniger geschickt machen.
[2] Wenn man wie der französische Staatspräsident alle drei Tage eine Rede hält, die gähnend lang, viel zu blumig und unklar ist, sodass am nächsten Tag der Premierminister ausrücken muss, um das Nötige in drei Sätzen klarzustellen, dann braucht man sich nicht wundern, wenn man die Bevölkerung, die ohnehin von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Amtsträger*innen geprägt ist, nicht rasch überzeugt. Erst recht wenn man die Leute in derselben Rede auffordert, zuhause zu bleiben, am Sonntag aber zu den Lokalwahlen zu gehen, und durchsickert, dass der Staatspräsident noch am Nachmittag vor seiner Rede alle Stunden seine Meinung gewechselt hat. Oder wenn der französische Amtsschimmel dann so laut wiehert, dass die Polizei bei Menschen, die aus dem Haus gehen, nicht einfach das Verhalten prüft, sondern ob sie das richtige Formular dabei und es auch richtig ausgefüllt haben! Das und weiteres lässt alles tief blicken, ist jedoch nicht unbedingt und in erster Linie mit einem Hang zu Befehl und Gehorsam erklären.
[3] Die fahrlässige Gefährdung anderer braucht auch niemand erst zu kriminalisieren; sie ist ihrer Natur nach kriminell. Erst recht im Notstand. Wie weit man mit Aufklärung kommen kann, was welche Strafen bewirken, überhaupt und im konkreten Fall, ist stets eine berechtigte Frage. Das Recht der Staatsgewalt, Notmaßnahmen im Notstand in der gebotenen Geschwindigkeit Nachachtung zu verschaffen, berührt sie aber nicht.
[4] Wir müssen, glaube ich, schon sehr aufpassen, Verantwortlichen in einer absoluten Ausnahmesituation, in die sie erst hineinwachsen müssen, Neigungen oder Hintergedanken zu unterstellen, ohne dafür feste Anhaltspunkte zu haben. Meiner Einschätzung nach drohen in keinem der genannten Ländern nach bisherigem Stand der Dinge ungarische oder auch polnische Verhältnisse. Im Gegenteil zeigen die Verantwortlichen ein durchaus beträchtliches Bewusstsein für die Gefahren, die Grundrechten und Demokratie bei Notmaßnahmen drohen. Die deutsche Bundeskanzlerin hat sie in ihrer Fernsehrede sogar geradezu vorbildlich angesprochen.
[5] Freilich ist es ein großes Verdienst des Blogbeitrags, die Frage demokratischen Krisenmanagements und der Krisenfestigkeit unserer Demokratien aufzuwerfen. Krisenmanagement wie Krisenfestigkeit fallen unterschiedlich gut aus, das Krisenmanagement übrigens nicht nur im Vergleich der genannten Ländern, sondern auch auf regionaler Ebene. In diesem Zusammenhang könnten evtl. auch Präzedenzfälle wie Überflutungen u.ä.m. zu Vergleichen anregen, nicht erst die jüngsten, sondern auch die berühmte Flutkatastrophe in Hamburg, die die weitere politische Karriere des Hamburger Oberbürgermeisters namens Helmut Schmidt grundlegte.
[6] Ein weiteres Verdienst des Blogbeitrags ist es, „naturgemäß“, um mit Thomas Bernhard zu sprechen, auch die europäische Ebene zu thematisieren. Was aber ist „die europäische Demokratie“ [Blog-Abs. 28]? Oder wäre damit ein Demokratie-Typ gemeint? (Wenn ja, welcher, womöglich der kontinental-westeuropäische mit Resten sozialdemokratischer Erbes?) In Europa gibt es innerhalb wie außerhalb der EU Staaten, die höchstens auf dem Papier demokratisch sind. Die EU ist weder Europa noch eine Demokratie, freilich auch nicht nur eine Union von Demokratien (und solchen, die es waren und nach EU-Recht auch sein sollten), sondern dank des EP auch selber immerhin so demokratisch, wie es die Mitgliedstaaten bislang dulden, und das ist seit Lissabon doch schon ganz ansehnlich. Mit der Gesundheitspolitik ist sie halt wieder einmal in einem Bereich blamiert, für den sie gar nicht oder nicht direkt zuständig ist. Und in Krisenzeiten schlägt die „Stunde des Staats“ [Blog-Abs. 22] auch insofern, als Regierungen, Verwaltungen und Bürger*innen der EU-Mitgliedsstaaten auf ihre vier Buchstaben zurückfallen und sich zeigt, wie weit die Solidaritätsreflexe reichen.
[7] In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Verantwortlichen der EU-Mitgliedsstaaten zwar an die Solidarität ihrer Bürger*innen untereinander appellieren, doch viel weniger an ihre Solidarität als EU-Bürger*innen. In der Rede, die der französische Staatspräsident aus dem Feldspital in Mulhouse hielt, musste man lange warten, bis er sich auch bei Deutschland und Luxemburg für die Übernahme von Schwerkranken bedankte und hinzufügte: „Auch das ist Europa.“ Zumindest anfänglich wurde nur oder fast ausschließlich die nationale Solidarität beschworen. In diesem Punkt sind die Reden der Verantwortlichen von EU-Mitgliedsstaaten von denen des britischen Premiers schwer zu unterscheiden.
[8] Man darf gespannt sein, ob etwa in Österreich die Frage der ausländischen Pflegekräfte und Erntehelfer*innen hier etwas in Bewegung bringt. Wieviel Solidarität die Mitglieder der Tiroler Landesregierung, -behörden und Tourismusbetriebe mit ihren deutschen Skigästen gefühlt und geübt haben, ist eine Frage, die ja hoffentlich nicht nur ein gerichtliches, sondern auch ein politisches Nachspiel haben.
[9] Andererseits sollten wir auch in diesem, weiteren Zusammenhang [s. Blog-Abs. 23] die Kirche im Dorf lassen. Auf eine Gesundheitskrise dieses Ausmaßes ausreichend vorbereitet zu sein, ist schon viel verlangt, und es ist jenseits aller Geldfragen selbst und gerade im Gesundheitsbereich zu berücksichtigen, dass das Sicherheitsdenken beträchtlichen Kollateralschäden anrichten und das ganze System ad absurdum führen kann, ja in zahlreichen Fällen längst geführt hat, übrigens gerade bei Hygienefragen. Man muss sogar hoffen, dass die gegenwärtige Krise dann nicht zu einer neuen Sicherheitsindustrie führt, in die viel Geld fließt, und die auf die nächste Krise, die garantiert wieder von unvorhergesehener Seite kommt, mitnichten vorbereitet. Wie gut sind wir auf Kernkatastrophen wenige dutzend Kilometer von Wien vorbereitet? Wie gut auf die Klimakrise?
[10] Die demokratische Hauptwirkung der Coronakrise ist zunächst einmal die Verdrängung anderer politischer Themen, die nicht minder wichtig und z.T. nicht einmal minder dringlich sind: Klimakrise, Massenflucht, militärische, soziale, politische Langzeitkonflikte, usw. Wie gehen wir, wie gehen die Medien damit um, damit auch und gerade Demokratien ihre politische Verantwortung im doppelten Wortsinn wahrnehmen?
Angeregt vom Blogbeitrag, würde ich gerne folgende Punkte in die Diskussion werfen, als Zusatz oder weitere Anregung zum ursprünglichen Beitrag und dem Kommentar, aber auch zu vielerlei Kommentaren, die dazu in Zeitungen erschienen sind:
[1] Erstens halte ich es für wichtig zu betonen, dass es sich bei der Debatte nicht rein um Notstandsmaßnahmen gegen Menschenrechte und Abwiegung zwischen diesen beiden scheinbaren Gegensätzen handelt. Es handelt sich vielmehr auch um die Gewichtung zwischen verschiedenen Menschenrechten – denn es steht natürlich außer Frage, dass die Rechte auf Versammlung, Protest, Arbeit, Bewegung etc. im Moment eingeschränkt werden; allerdings kann auch mit anderen Rechten für diese Einschränkungen argumentiert werden, nämlich zum Beispiel mit dem Recht auf Gesundheit oder Leben, oder auch auf Zugang zu einem Gesundheitssystem (das im schlimmsten Falle unter einer Epidemie komplett zusammenbrechen könnte).
[2] Geht man etwas weiter, könnte man auch argumentieren, dass Minderheitenrechte geltend gemacht werden könnten – zwar sind ältere und gesundheitlich geschwächte Menschen (die am meisten durch CoVid-19 gefährdeten Gruppen) keine anerkannten Minderheiten, jedoch könnte man argumentieren, dass sie durchaus als (Minderheiten-)Gruppen gefährdet würden, würden keine Maßnahmen gegen eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus gesetzt werden.
[3] Zudem kennt die Europäische Grundrechtecharte „das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“. Eine Vorgangsweise wie z.B. in Schweden, wo zwar alle, aber insbesondere ältere und gesundheitlich geschwächte Menschen dazu aufgefordert werden, zuhause zu bleiben, verletzt dieses Recht zumindest indirekt, als dass diese sich nun eventuell nicht mehr aus dem Haus trauen, vielleicht sogar auf einen noch längeren Zeitraum als in anderen Ländern, wo augenscheinlich restriktivere Maßnahmen getroffen wurden.
[4] Ich würde also argumentieren, dass es wie so oft um die Gewichtung verschiedener Menschenrechte geht. Maßnahmen während Ausnahmezuständen wie Krieg, oder Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung dienen ja auch dem Schutz des Rechts auf Leben. Es gilt wie immer, die richtige Balance zu finden, wie auch zum Beispiel von der EMRK vorgeschrieben (Art. 15), das heißt, die Maßnahmen dürfen nur so weit gehen, „soweit es die Lage unbedingt erfordert.“
[5] Und damit zum zweiten Punkt: Unbestritten stellen die derzeitigen Maßnahmen schwere Eingriffe in gewisse Grundrechte dar – nicht zuletzt in das Recht auf Arbeit und Freizügigkeit und in die Versammlungsfreiheit. Der Einschränkung des Rechts auf Arbeit wird durch Unterstützungspakete zumindest teilweise entgegengewirkt, was nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Bezug auf dieses Menschenrecht sicher essenziell ist.
[6] Ohne Zweifel stellt die Versammlungsfreiheit eines der wichtigsten bürgerlichen Grundrechte dar. Jedoch würde ich argumentieren, dass, historisch betrachtet, eine reine Einschränkung der Versammlungsfreiheit heutzutage nicht mehr die selbe Bedeutung hat wie vor hundert, fünfzig, aber auch vor zwanzig oder gar 10 Jahren. Denn zu den wichtigsten Bestandteilen dieses Rechts gehört die Möglichkeit, Informationen auszutauschen, sich abzusprechen – auch für politischen Aktivismus – und zu protestieren.
[7] Doch dank des Internets, und auch insbesondere der sozialen Medien (bei aller Problematik), ist gerade diesen Aspekten des Rechts auf Versammlungsfreiheit eine wichtige Alternative geboten. Menschen können sich weiterhin frei austauschen, Informationen und Meinungen verbreiten und digitale Protestmöglichkeiten (Unterschriftenlisten, Massenanfragen per E-Mail etc.) nutzen, um dieses Recht auch weiterhin zu nutzen. Damit soll natürlich nicht argumentiert werden, dass das freie Internet eine vollwertige Alternative zur Versammlungsfreiheit darstellt und dieses daher obsolet wäre – ein Unterschied in der Gravidität der Einschränkung der Versammlungsfreiheit ist es allerdings jedenfalls.
[8] Damit kommt aber dem Recht auf freie Meinungsäußerung, dem Recht auf freie Information und einem freien Internet noch mehr Bedeutung zu als sonst (was auch im Rückblick auf den Ausbruch in China relevant ist). Außer Ungarn ist mir aber noch kein Land bekannt, in dem eine Einschränkung dieser Rechte auch nur ansatzweise debattiert würde (abgesehen von der Erlaubnis des beschränkten Eingriffs in die Netzneutralität um Datennetze nicht zu überlasten, was aber auch wieder dem Erhalt des Internetzugangs dient). Diese Rechte gilt es also noch mehr als sonst zu verteidigen.
[9] Drittens, zu demokratischen Vorgangsweisen die Maßnahmen betreffend: Dabei ist im Blog und erstem Kommentar schon viel und ausreichend geschrieben worden. Es muss selbstverständlich gerade auch in Krisenzeiten der Parlamentarismus weiterleben; hinzufügen würde ich in diesem Punkt, dass eine starke Einbindung der Opposition unbedingt notwendig ist, um einerseits gemeinsam die bestmöglichen Lösungsansätze zu finden, Kontrolle zu gewährleisten und den Informationsfluss zu garantieren, aber auch um Vertrauen in der Bevölkerung für die Maßnahmen zu schaffen.
[10] Zur kleinen Debatte um wie gut oder schlecht vor allem europäische Staaten auf eine derartige Krise vorbereitet waren oder auch sei können [Abs. 23 im Blog, Abs. 9 im Kommentar], würde ich hier doch von einem gewissen Versagen, oder zumindest einer fahrlässigen Unbekümmertheit sprechen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Regierungen und staatliche Behörden, sondern auch für die Bevölkerung. Sieht man nach Hong Kong oder Taiwan, wurde es dort trotz direkter Nähe und immenser Migration von und nach China geschafft, eine weite Verbreitung des Virus zu verhindern. Den Menschen dort war SARS 2003 einfach noch zu gut in Erinnerung, während man sich eine derartige Situation in Österreich und Europa, trotz aller Pestsäulen, wohl nicht (mehr) wirklich vorstellen konnte.
[11] Natürlich sind gewisse Maßnahmen, gerade in der Bewachung über die Nutzung von Big Data, in diesen Ländern problematisch. Andererseits gibt es dort weit weniger massive (bis gar keine) allgemeine Einschränkungen der Freizügigkeit, womit auch der Schaden für die Wirtschaft (und damit verbundenen Problemen für das Recht auf Arbeit etc.) weit geringer ausfällt. Neben dem Verwenden von Gesichtsmasken, was dort von der Bevölkerung von sich aus nach ersten Berichten aus Wuhan verstanden wurde und dessen Sinnhaftigkeit bei uns noch immer von ignoranten ÄrztInnen geleugnet wird, jedoch nun endlich kommt, hätten ähnliche, frühe Maßnahmen auch in Europa eventuell eine Ausbreitung, und damit die nun massiveren Eingriffe in unsere Grundrechte, verhindern können.
[12] Und damit komme ich auch zur Europa-Diskussion. Denn es ist genau hier, wo es eine starke europäische Koordination und einen europäischen Plan braucht. Denn wenn die Grenzen innerhalb Europas so offen wie möglich gehalten werden sollen, muss in einem Pandemie-Szenario die Außengrenze (inklusive und vor allem Flughäfen!) genau bewacht werden, wie das in Taiwan geschehen ist und weiterhin geschieht. Als ich Anfang März aus der Union von Myanmar via Thailand in Wien gelandet bin, hat am Flughafen noch niemand irgendwelche Anstalten von Temperaturmessungen, geschweige denn Quarantäneverordnungen für alle Einreisenden, gemacht. Und die meisten Passagiere haben munter ihre sie abholenden Verwandten abgebusselt. Schnelle, harte Maßnahmen gegenüber Einreisenden hätten uns eventuell die alle betreffenden Maßnahmen ersparen können.
[13] Hier würde ich also durchaus ein Versagen der Mitgliedsstaaten, als auch der EU sehen (wobei ich nicht weiß, ob die EU je einen gemeinsamen Pandemieplan vorgeschlagen hat). Ansonsten halte ich die Vorwürfe, die EU hätte versagt, für wenig begründet, ist Gesundheit doch Mitgliedsstaatenkompetenz, und diese sogar oft noch regionalisiert. Hier ist vielleicht auch hervorzuheben, dass es ja nicht nur die heiklen innereuropäischen Grenzschließungen gibt, sondern auch „Grenzschließungen“ innerhalb von Mitgliedsstaaten, wenn gewisse Gebiete unter komplette Quarantäne gestellt werden.
[14] Ein weiteres Argument für die Notwendigkeit eines europäischen Planes und Koordination ist das „Danach“ – denn wenn nun in den Ländern verschieden vorgegangen würde, könnte dies in der post-Pandemie Zeit problematisch für europäische Grundsätze, vor allem die Personenfreizügigkeit, werden. Glücklicherweise setzen, bis auf Schweden, alle Mitgliedsstaaten mittlerweile auf eine ähnliche Vorgangsweise. Hätten jedoch einige Staaten auf den (ohnehin sehr fragwürdigen) Ansatz der „Herdenimmunität“ per schneller Durchseuchung gesetzt, hätte eine schnelle Wiedereröffnung der innereuropäischen Grenzen diejenigen Länder gefährdet, die einen anderen Weg gewählt haben – um diesen Weg dann erfolgreich zu Ende zu führen, hätten sich diese Länder dann länger von den „Durchseuchungsländern“ abschotten müssen. Dies könnte Schweden drohen, sollte sich das Virus dort rasant weiterverbreiten und jedwede stärkere Einschränkung zu spät kommen (mir ist trotz guter Schwedischkenntnisse weiterhin schleierhaft, was die dort tatsächlich vorhaben).