Ich versäume es in Berlin nie, zum Holocaust-Memorial zu gehen. Eindrücke: Viele Menschen, alle Generationen sind da. Kinder und Jugendliche, eine französische Schulklasse auf Klassenfahrt, springen über Stelen oder spielen Verstecken. Für sie ist das Memorial kein Ort der Stille, sondern quietschvergnügter Lebendigkeit. Jemanden meiner Generation irritiert das, aber die damaligen Debatten um die Art und Weise des Memorials hatten es vorweggenommen, dass es so sein würde. Ist es so in Ordnung? – Ruth Klüger schreibt in „weiter leben. Eine Jugend“ über Theresienstadt, wo sie mit ihrer Mutter beinahe zwei Jahre interniert gewesen war, bevor sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, über ihren Besuch ebendort einige Jahre nach dem Krieg:
„Denn nach Theresienstadt zog es mich zurück, lange nach Kriegsende, das wollte ich wiedersehen. Theresienstadt heute ist Terezín, eine kleine tschechische Stadt. Mir schien es fast menschenleer, weil damals so viele Leute da wohnten, was man wohnen nennen kann. Ich ging in die Offizierskaserne hinein, L 414, und klopfte an die Tür. Die Frau, die mir öffnete, verstand ohne weiteres mein Begehren, das Zimmer wieder zu sehen, wo ich mit den anderen 30 Mädchen gehaust hatte. Unser altes Zimmer war ihr Wohnzimmer […]. Auch auf den Dachboden ging ich, wo ich die jungen Zionisten und Leo Baeck gehört hatte, und dachte mir, es muß Rosch Haschana gewesen sein, denn er hat ja von der Erschaffung der Welt gesprochen. Dann schlenderte ich durch die Straßen, wo Kinder spielten, ich sah meine Gespenster unter ihnen, sehr deutlich und klar umrissen, aber durchsichtig, wie Geister sind und sein sollen, und die lebenden Kinder waren fest, laut und stämmig. Da ging ich beruhigt fort.“
Solche Stellen in Ruth Klügers Autobiografie korrigieren die Irritation. Am Memorial ist keine Schranke zu überschreiten, sondern ein x-beliebiger Weg, den man eingeschlagen hat, kann direkt zum und in das Memorial führen und wieder hinausführen. Der Holocaust ist in unserem Leben gegenwärtig, jederzeit kannst Du mit ihm konfrontiert werden, und ich glaube, dass es keine eingängigere Möglichkeit gab, dies erfahrbar und fühlbar zu machen als dieses Memorial. Es ist da, und du gerätst hinein. Zwischen den Stelen bist du trotz der Geräusche, des Lachens und Schreiens rundherum, allein.
Dokumentation: Text aus: Wolfgang Schmale, Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers, Wien: Böhlau 2013, S. 143-144. Zitat: Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 130f.
Zitierweise: Wolfgang Schmale: Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/, Eintrag 18.01.2017.