Der Brexit auf Grand Tour in Florenz
[1] Am 22. September 2017 hielt Theresa May eine weitere Brexit-Rede in Florenz. Florenz war immer eine der wichtigsten Stationen auf der Grand Tour, jener Erfahrungs- und Bildungsreise in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, die ganz besonders auch von englischen Adligen und im Laufe der Zeit auch von Bürgersöhnen praktiziert wurde.
[2] Theresa May knüpfte indirekt an diese Vergangenheit an und lobte die florentinische Renaissance als europäisches Labor der Kreativität und Synonym für Europäizität.
[3] Insgesamt wurde ihre Rede in der Öffentlichkeit mit viel Skepsis kommentiert. In Bezug auf die laufenden Brexit-Verhandlungen blieb sie vage und beseitigte keinerlei der Unsicherheiten. Taktisch ist das nachvollziehbar, aber die anhaltende Unsicherheit wirkt sich bereits auf die britische Wirtschaft und die Psyche nicht nur der im Vereinigten Königreich lebenden EU-BürgerInnen aus. Hier wird Tag für Tag Terrain verloren, sollte es wiedergewinnbar sein, dann wird es viele Jahre dauern.
[4] Soweit es den Verbleib von EU-BürgerInnen angeht, verspielt Theresa May ganz persönlich ihren Kredit mit jeder Brexit-Rede mehr. In Florenz versuchte sie zu beruhigen: Die jetzt im Vereinigten Königreich lebenden EU-BürgerInnen seien auch in Zukunft wollkommen, man schätze, ja, man brauche sie. Rechtssicherheit werde ja auch durch die britischen Gerichte erforderlichenfalls gewährt. Das ist gut gemeint, aber die Botschaft lautet faktisch: „Ihr müsst in Zukunft damit rechnen, eure Aufenthaltsrechte als EU-BürgerInnen vor britischen Gerichten verteidigen zu müssen.“ Das bildet kein Vertrauen aus und gewinnt verlorenes Terrain in Bezug auf Verlässlichkeit der Aussagen zur Zukunft der EU-BürgerInnen im VK keinesfalls zurück.
[5] Die Premierministerin skizzierte die großen Ziele der britischen Politik, zu der hohe Standards bei Konsumgütern und Umweltschutz, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Wohlstand und Fortschritt, gemeinsame Terrorbekämpfung und Sicherheitskooperation und vieles mehr gehören. All dies ist gut und richtig, unterscheidet sich aber nicht von den Zielen der EU und begründet mitnichten den Brexit.
[6] Der Kern der Begründung für den Brexit ist weltanschaulich, es geht ausschließlich um nationale Souveränität: „And we will do all this [= die mit den EU-Zielen identischen britischen Ziele] as a sovereign nation in which the British people are in control.“
[7] Würden wir noch im 19. Jahrhundert leben, wäre diese Position auf jeden Fall auf der Höhe der Zeit, aber wir leben im 2. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
[8] May stellt durchwegs EU und UK gegenüber als handele es sich um zwei vergleichbare Größen. Das ist Größenwahnsinn, der an die Hochzeiten des British Empire anknüpft, die bekanntlich lange passé sind, und es ist unendlich naiv. Aber weltanschauliche Positionen sind weltanschaulich und entziehen sich meistens einer pragmatisch-rationalen Argumentation.
[9] Um diese weltanschauliche Verhärtung durchzusetzen, verlangt May von der EU, dass sie alles, was es bereits über die EU gibt, allein für das Vereinigte Königreich nochmals in ein eigenständiges Regelwerk und Institutionen einbringt. Ein eigenes Freihandelsabkommen, eigene Mechanismen und ggf. Institutionen, um daraus resultierende Konflikte zu regeln usw. usf. Statt Synergien zu erzeugen, wie es der Zusammenschluss der Länder in der EU bedeutet, benötigen die Brexit-PolitikerInnen eine mehrjährige Phase enormer und irrationeller Ressourcenverschwendung, um zum Ziel zu kommen.
[10] In sich ist der weltanschauliche Ansatz der absoluten nationalen Souveränität von Theresa May, ihrer Regierung und den Brexit-AnhängerInnen konsequent, völlig konsequent, weil nicht ein Gedanke (in der Rede) darauf verwendet wird, was das für Konsequenzen in Bezug auf das Verhältnis anderer Staaten, die derzeit in der EU sind, zur EU haben kann.
[11] May geht davon aus, dass es sich um eine ‚bilaterale‘ Angelegenheit handelt: EU-VK. Für die absolute britische nationale Souveränität braucht sie die EU so, wie diese im Augenblick ist. Sie kann keine EU brauchen, die schrumpft, weil andere Länder auch wieder zurück wollen zur absoluten nationalen Souveränität. Diese Gefahr ist aber nicht gebannt.
[12] Sollte der Brexit entgegen dem bisherigen holprigen und unprofessionellen Verlauf doch noch reibungslos und in großem Einvernehmen umgesetzt werden, entsteht etwas, was andere Länder als Modell für sich entdecken könnten. Dann würde genau das passieren, was May ausdrücklich nicht will, nämlich dass der Brexit die EU schwächt. Eine geschwächte EU würde den Brexit nach dem formalen Vollzug am 29.3.2019 automatisch in ein worst case Szenario kippen lassen.
[13] Insoweit müsste es für die EU logischerweise das Ziel sein, den Brexit so zu gestalten, dass alle anderen, die in Versuchung geraten könnten, die EU zu verlassen, sich vom Misserfolg abschrecken lassen. In der Weltanschauung der absoluten nationalen Souveränität spielt dieser Blick nach rechts und links, nach vorne und nach hinten allerdings überhaupt keine Rolle.
[14] Insoweit ist Theresa May in wenigstens einem Punkt Recht zu geben: „For many, this is an exciting time (…)“ Sie fügt hinzu, dass es für die einen eine Zeit voller Verheißungen, für die anderen voller Sorge sei. Ich befürchte, dass man das mit den Verheißungen nur in den Skat drücken kann, während die Sorgen das einzig Reale sind.
[15] Teilnehmer der Grand Tour brachten früher von einer solchen Reise viel mit, davon zeugen die vielen Reisetagebücher, die überliefert sind. Nimmt Theresa May von ihrem Besuch in Florenz etwas mit, außer dem stechenden Kontrollblick ihres ‚großartigen‘ Außenministers und Brexit-Antreibers, der im Auditorium in der ersten Reihe gegenüber dem Rednerpult saß? Es ist zu befürchten, dass die Antwort nein lautet.