Aktualisierte Informationen vom 9.8.2016 s. am Ende des Blogeintrags.
[1] Der Musikwissenschaft geht es nicht anders als anderen Fächern aus den Geistes- und Kulturwissenschaften (=GKW): Eine Wissenschaft, die nicht zumindest einen digitalen Zweig aufweist, steht heutzutage unter Begründungsdruck. In den Digital Humanities zieht die Musikwissenschaft mit anderen Fächern gleich: Studiengänge mit dem Schwerpunkt Digital Musicology, PhD-Programme, Professuren, digitale Projekte, Tagungen – das ganze Register wird gezogen.
[2] Nachdem ich mir letztes Jahr im Zusammenhang einer Problemanalyse von „Big Data in den Kulturwissenschaften“ andere Fächer wie die Kunstgeschichte, neben der Geschichte und Literaturwissenschaften, genauer angeschaut habe, kann man vom Stand der Digital Musicology durchaus beeindruckt sein.
[3] Ein DARIAH-Bericht von 2014 stellt fest: „Die digitale Musikwissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Methoden und Verfahren sehr stark interdisziplinär geprägt sind, so dass sich viele Überschneidungen mit verwandten oder angrenzenden Wissenschaften wie der Philologie, Soziologie, Ästhetik, Psychologie oder Akustik ergeben.“ [Bericht 2012/2014, Zitat S. 21] Dass „Geschichte“ und „Kunstgeschichte“ nicht genannt werden, ist merkwürdig, soll uns aber hier nicht beschäftigen.
[4] Es gibt keinen Maßstab, mit dem geklärt werden kann, wann eine Wissenschaft den Zusatz „digitale“ Wissenschaft verdient. Vielleicht sind Musikwissenschaft und digitale Musikwissenschaft nicht bzw. noch nicht dasselbe. Interessanterweise hat die Gesellschaft für Musikforschung auf ihrer Jahrestagung am 30. 9. 2015 einen Round Table zu „Digital Musicology“ veranstaltet, und die Österreichische Gesellschaft für Musikwissenschaft tut ähnliches mit ihrem Studientag (11.12.2015). Diskussionsbedarf besteht – ein tour d’horizon von Problem- und Fragestellungen ist daher sicher nützlich.
[5] Ich beginne irgendwo mittendrin: Speziell in Österreich werden auch die Geistes- und Kulturwissenschaften gedrängt, Forschung open access zu publizieren. Finanzielle Anreize sollen dies befördern helfen. Der FWF steuert dies inzwischen über seine Open Access Policy. Universitäten tun das auch (Universität Wien). Bezugspunkt ist die „Berlin Declaration on Open Access to Knowledge in the Sciences and Humanities“ vom 22. Oktober 2003 (Original in Englisch), die allerdings – mit Verlaub! – von naiven Vorannahmen ausgeht. Darauf ist gleich zurückzukommen.
[6] Natürlich bedeutet Digitalität in welcher Wissenschaft auch immer sehr viel mehr als open access zu publizieren. Digitalität erfasst die Digitalisierung von Primärmaterialien, mit und an denen geforscht wird, sie erfasst von vorneherein digital entstandene Materialien und Daten, sie erfasst digitale Arbeitsinstrumente [S. 21-22], z. B. für das Editieren von Quellen aller Art, sie erfasst sehr verschiedene Formen der wissenschaftlichen Kommunikation, die vom Tweet über den Blog bis hin zur gewohnten Kommunikation mittels Veröffentlichung und Rezeption von, sowie kritischer Auseinandersetzung mit, Forschungsergebnissen reicht. Neben diese diachronen Kommunikationsformen sind synchrone wie Chat oder Videokonferenz getreten, die allerdings in den Geistes- und Kulturwissenschaften eher marginal denn zentral sind. Software für kollaborative Arbeitstechniken im Web oder um „virtuelle Forschungsumgebungen“ herzustellen, steht zur Verfügung. TextGrid III beispielsweise, das an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen entwickelt wurde, will ausdrücklich auch Musikwissenschaft ebenso wie andere historisch-kulturwissenschaftlichen Fächer ansprechen. Neben der Entwicklung spezieller Arbeitssoftware wie music21, die sich eher exklusiv an die Musikwissenschaft richtet, liegt in den Digital Humanities ein Entwicklungsschwerpunkt auf digitalen Arbeitsinstrumenten, die in mehreren Fächern eingesetzt werden können und die ggf. eine Brückenfunktion ausüben.
[7] Eine vollständige Liste digitaler Formate strebe ich hier nicht an, aber Normdatenbanken und spezielle, auf Forschungsthemen bezogene Datenbanken, die im geschützten oder open access-Modus auftreten, sollen nicht ungenannt bleiben. Schließlich Repositorien aller Art.
[8] All dies versteht sich multimedial. Auditives, Visuelles und Textuelles lässt sich prinzipiell problemlos miteinander verknüpfen und ggf. gleichzeitig abrufen. Körperliche Handicaps, die Nutzer haben, können technisch ausgeglichen werden – barrierefreie Zugänge zu digitalen Inhalten sind herstellbar, werden allerdings oft nicht hergestellt, entweder, weil nicht daran gedacht wird, oder weil Geld fehlt.
[9] Transdisziplinäres Arbeiten gestaltet sich leichter, ungehinderter Zugriff auf benötigte Primärmaterialien beschleunigt das Forschen und Arbeiten. Größere Breite bzw. Vollständigkeit beim Material, bei der Anwendung von Methoden und Theorien aus anderen Disziplinen ist umsetzbar. Erkenntnis kann sich schneller einstellen – und sie kann schneller veröffentlicht werden.
[10] Das ist alles richtig, scheitert aber in der Praxis häufig an allzu vielen Lücken, da bisher keine Wissenschaft mit ihrem gesamten historischen Wissens- und Quellenbestand vollständig digital „übersetzt“ worden ist. Ich bevorzuge den Begriff des Übersetzens gegenüber dem des Transfers oder Transferierens, weil es sich tatsächlich um einen Übersetzungsprozess handelt.
[11] Sich in einer Geistes- und Kulturwissenschaft auszutun, heißt derzeit und noch lange, über eine Doppelkompetenz verfügen zu müssen. Man muss die jeweilige Wissenschaft, wie sie historisch gewachsen ist, verstehen und sich in ihr bewegen können – simpel ausgedrückt, man muss z. B. „analoge“ Recherchemethoden kennen und praktizieren können – und man muss dieselbe Wissenschaft als digitale Wissenschaft kennen und handhaben. Ob es sich bei der digitalen tatsächlich um „dieselbe Wissenschaft“ handelt, ist eine offene Frage. Die Antwort besteht nicht in einem schlichten ja.
[12] An die bisher genannten Aspekte von Digitalität schließen sich viele Optionen der Dissemination in die Breite und in die Öffentlichkeit an. So wie von „Public Humanities“ und „Public History“ gesprochen wird, kann man sinngemäß auch „Public Musicology“ bzw. „Digital Public Musicology“ sagen. Letzterer Begriff scheint allerdings noch unüblich zu sein, es existieren PM oder DM. Mir schiene es aber konsequenter, den Begriff DPM einzusetzen.
[13] Der „reinen Lehre“ folgend, wie sie sich in der erwähnten Berliner Erklärung von 2003 findet, ist die „Übersetzung“ der Zeitschrift Musicologica Austriaca in eine digitale Zeitschrift im open access-Modus Ausdruck von Digital Public Musicology. Die Zeitschrift bezieht sich konkret auf die um ein Jahr ältere Budapest Open Access Initiative (14. Februar 2002), die sich besonders auf Zeitschriften bezieht und auf die die Berliner Erklärung als eine ihrer Wurzeln zurückverweist.
[14] Die Budapester und die Berliner Erklärung stammen von 2002/2003, sie sind folglich, gemessen an den Maßstäben des digitalen Zeitalters, uralt. Trotzdem referieren Institutionen wie der FWF, die Uni Wien und andere ganz aktuell hierauf (Berliner Erklärung). Der Text spricht in der Vorbemerkung von „Repräsentation menschlichen Wissens“ und von „Wissensverbreitung“. „Kulturelles Erbe“ und „Wissenschaft“ werden auf eine Stufe gestellt wie auch „wissenschaftliches Wissen“ und „menschliches Wissen“.
[15] Die Auffassung vom Publizieren im Internet ist veraltet, da gerade digitale Medien eine Grenzziehung zwischen Forschen als ggf. öffentlichem Tun und Publizieren wissenschaftlicher Erkenntnisse, also dem Verbreiten, nicht erfordern, sondern, im Gegenteil, aufheben möchten.
[16] Der zweite Satz der Erklärung ist noch ganz von der schwärmerischen Stimmung jener Jahre geprägt: „Mit dem Internet ist zum ersten Mal die Möglichkeit einer umfassenden und interaktiven Repräsentation des menschlichen Wissens, einschließlich des kulturellen Erbes, bei gleichzeitiger Gewährleistung eines weltweiten Zugangs gegeben.“ Gut: Es geht um eine „Möglichkeit“, das kann als angemessen vorsichtig formuliert gelten.
[17] Der Aspekt des „Zugangs“ ist schlechterdings nur technisch zu verstehen, aber nicht intellektuell: Wissenschaftliches Wissen ist nur zugänglich, wenn der Zugangsuchende eine ganze Reihe von Voraussetzungen erfüllt und erforderliche Kompetenzen mit sich bringt. Der weltweite Zugang zu solchem Wissen wird manchmal sicher besser gewährleistet durch ein im besten Wortsinn populärwissenschaftliches Buch, das in viele Sprachen übersetzt wird (z. B. Stephen Hawking).
[18] Doch sogar einen weltweiten Zugang nur im technischen Verständnis gibt es nicht und wird es auf sehr lange Zeit nicht geben. Das in der Budapester Erklärung angesprochene Ziel von „share the learning of the rich with the poor and the poor with the rich“ bleibt auch beinahe sechzehn Jahre später illusorisch.
[19] Eine ausführliche Exegese des Textes der Berliner Erklärung ist hier nicht nötig. Ihn zu zerpflücken wäre ein Leichtes und käme auch nur einer akademischen Pflichtübung gleich. Begeben wir uns lieber zurück in die Niederungen der Praxis und lassen verständliche, aber naive Illusionen hinter uns.
[20] Der Umstand, dass Musicologica Austriaca, die im Mittelpunkt des Studientages vom 11.12.2015 steht, nun auf Englisch erscheint, mag sich innerhalb der Musikwissenschaft im Lauf der Zeit bewähren und möglicherweise die internationale Rezeption erhöhen. Zweifelsfrei kann das Erfordernis des weltweiten Zugangs bei knappen Finanzen am besten erfüllt werden, wenn auf Englisch publiziert wird. Gleichwohl liegt darin nicht automatisch ein Zugewinn. Das deutschsprachige Lesepublikum bzw. jedes Lesepublikum, das in einer anderen Sprache als Englisch zu Hause ist, das kein B2- oder C1-Level des Englischen besitzt, wird am ausschließlich englischen Format keine Freude haben. Das trifft wahrscheinlich weniger die Wissenschaft selber als all die, die aus Interesse eine wissenschaftliche Zeitschrift verfolgen.
[21] Deutsch als Wissenschaftssprache hat in den Geistes- und Kulturwissenschaften oftmals noch eine wichtige, wenn nicht sogar starke internationale Stellung. Es kann immer noch eine lingua franca sein. Wenn klar ist, dass eine wissenschaftliche Zeitschrift, die nur noch auf Englisch erscheint, innerhalb der eigenen Wissenschaft keineswegs zwingend Publikum dazugewinnt, weil die Forscherinnen und Forscher Deutsch mindestens passiv beherrschen, da ohne diese Sprache diese Wissenschaft schon wegen der zentralen deutschen/österreichischen Quellen gar nicht betrieben werden kann, dann steht der unterstellte Mehrwert in Frage. Dazu kommt, dass eventuell Lesepublikum verloren wird.
[22] Außerdem sind Illusionen unangebracht: Da nun „jeder“ englischsprachige wissenschaftliche Zeitschriften publiziert, entwertet sich die Strategie wegen der Masse selbst.
[23] Die Sprache hat mittelfristig Einfluss auf die Inhalte: Wo immer Vielfalt reduziert wird, reduzieren sich die Inhalte und nähern sich der Ausführung von Mainstream-Themen und -Fragen an. Die Situation und Aufgabenstellung der GKW ist eine grundlegend andere als die der Naturwissenschaften, wo Englisch als wissenschaftliche lingua franca problemlos ist, da auf die in den GKW zu berücksichtigende lokale Radizierung von Kultur nicht rekurriert wird.
[24] Originalität lohnt sich nicht mehr, die feinen Zwischentöne und Subtexte einer jeden Sprache, die gerade in den Geistes- und Kulturwissenschaften wichtig sind, weil sie es oft mit dem Endemischen (kulturell, nicht im Sinne der Natur), dem Lokalen, dem Individuellen zu tun haben, gehen verloren.
[25] Dagegen gibt es nur ein Mittel, das der mehrsprachigen Publikation. Die wissenschaftlichen Aufsätze sollten daher in mehreren Sprachen verfügbar sein, während die ganzen Stehtexte tatsächlich nur des Englischen bedürfen.
[26] Paradoxerweise führt die open access-policy eher wieder zu einer stärkeren Trennung von Wissenschaft/Forschung und Öffentlichkeit auf der Akteursebene. Online-Journals müssen, wenn sie ernst genommen und ggf. (finanziell) gefördert werden wollen, peer-reviewed sein. Sie können kein Ort sein, wo, um es mit einem positiv besetzten Begriff des 18. Jahrhunderts zu sagen, der „dilettant“ sich noch publizistisch äußern könnte. Die publizistischen Übergangsräume, die speziell in den GKW zwischen verschiedenen Akteurs-Milieus traditionell existierten, werden in getrennte Welten abwandern, die sozialen Kontexte der GKW verändern sich zunehmend.
[27] Peer review-Verfahren sind ein eigenes Problem, das hier nicht zu erörtern ist, aber das kantig-Originelle, vielleicht sogar Eigensinnige, was zum wissenschaftlichen Publizieren in den GKW dazu gehört, wird dabei weggeschliffen. Texte werden in Selbstzensur einer Mainstream-Rhetorik folgend rundgeschliffen, sie bedienen bestimmte Tags, die andere auch schon bedienen. Aufregen können sie nicht mehr.
[28] Zurück zur digitalen Musikwissenschaft. Als digitale ist die Musikwissenschaft Teil der Digital Humanities. Diese sind heute prinzipiell Public Humanities oder Digital Public Humanities. Das gegenwärtig Interessante an den DH ist das „public“. Entwicklungen wie das „processing“ und das „networking“ sind noch nicht abgeschlossen, bestehen aber schon seit längerem. Die aktuelle Herausforderung besteht im Potenzial, öffentlich zu sein, welches die Nutzung digitaler Medien schafft.
[29] Das öffentlich sein beginnt in der unmittelbaren Umgebung der Wissenschaften, den Universitäten. Nach wie vor werden Studierende viel zu spät in den eigentlichen Forschungsprozess einbezogen. Das liegt zum Teil am Bologna-System, in dem das Bachelor-Studium wenig Forschungspraxis für Studierende ermöglicht. Das muss allerdings nicht so sein, wenn die jeweilige Wissenschaft digital ausgebaut ist. Als digitale Wissenschaft kann eine Wissenschaft erst dann gelten, wenn sie den Lehr- und Lernprozess digital hinreichend einbezieht. Das gibt es auch in der Musikwissenschaft, in Gestalt von frei zugänglichen Online-Kursen, die bestimmte Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten vermitteln.
[30] Spannend wird es jedoch erst dann, wenn es um den (Wieder)einbau von Forschung in z. B. die BA-Studien geht. Hier bedarf es der entsprechenden digitalen Werkzeuge und der sogenannten nicht-trivialen Software. Schaut man sich das Projekt CHARM (Center for the History and Analysis of Recorded Music) (Royal Holloway, University of London; King’s College; University of Sheffield) an, fragt es sich, ob die Verbindung mit einem PhD zwingend oder ob nicht genauso gut ein Forschungseinstieg auf BA-Ebene sinnvoll ist.
[31] Wird eine Wissenschaft digital, hat das einen enormen praktischen Vorteil: Es spielt keine Rolle, ob es zehn, hundert oder tausend Erstsemestrige sind, für die ein Besuch vor Ort und das Arbeiten vor Ort organisiert werden müsste, das entfällt. Das Argument der Masse, die dies und das nicht zulasse, ist ungültig. Das stimmt auch dann, wenn nicht alle Digitalisate open access sind, sondern die Universitätsbibliothek aus urheberrechtlichen Gründen den Zugang erwerben muss. Oder eine andere Einrichtung oder ein Verein, wenn wir uns außerhalb der Universität oder einer Forschungsstätte bewegen.
[32] Das Adjektiv „public“, das sich auch in meiner eigenen Wissenschaft in „public history“ findet, wird im Deutschen mit einer doppelten Bedeutung ausgestattet: Es meint einerseits den Umgang der Öffentlichkeit mit Geschichte oder Musik im Vergleich zur jeweiligen Wissenschaft, es meint andererseits so etwas wie in der Öffentlichkeit angewandte Wissenschaft inklusive der dazugehörigen Ausbildung.
[33] Das Westminster Choir College (USA) erklärt sein Masterstudienangebot in American and Public Musicology wie folgt: „ (…) Westminster’s program looks beyond traditional music history and research to consider musicology as a practice in civic engagement.“
[34] Aktivitäten, die außerdem das „digital public“ in anderen Fächern wie der Public History ausfüllen, lassen sich unter dem Schlüsselwort des Crowdsourcing finden, womit „creating or mobilising online communities of volunteers to assist them in their research“ gemeint ist. Dies ist eine Methode, die bei manchen Projekten tatsächlich dazu führt, dass eine breite Öffentlichkeit zur wissenschaftlichen Arbeit beiträgt. Zooniverse, ein naturwissenschaftliches Projekt, hat über 800.000 registrierte Nutzer und Nutzerinnen. GKW-Projekte erreichen solche Zahlen nicht, aber sie können auf mehrere 10.000 freiwillige und kostenlose Mitarbeiter/innen kommen.
[35] Nicht alle Crowdsourcing-Projekte beteiligen das Publikum. Mega-Portale wie Europeana arbeiten sozusagen mit einer aus Institutionen wie Bibliotheken, Museen, Archiven, Sammlungen usw. bestehenden Crowd – so z. B. Europeana Sound.
[36] Die Interpretation der Digital Humanities als eine Chance „for the renewal of humanistic scholarship“ und „new modes of knowledge formation enabled by networked, digital environments“ [s. unten Dokumentation] unterstützt die Vermutung, dass „public“ und „digital“ in der Musikwissenschaft zusammengehören.
[37] Digitalität ermöglicht, ein Publikum – ein Fachpublikum ebenso wie ein breit(er)es – auf sehr unterschiedliche Weise anzusprechen. „Mündlichkeit“ erlebt dabei eine Renaissance: „ (…) digital networks and media have brought orality back into the mainstream of argumentation after a half-millennium in which it was mostly cast in a supporting role vis-à-vis print. YouTube lectures, podcasts, audio books, and the ubiquity of what is sometimes referred to as “demo culture” in the Digital Humanities all contribute to the resurgence of voice, of gesture, of extemporaneous speaking, of embodied performances of argument. But unlike in the past, such performances can be recorded, disseminated, and remixed, thereby becoming units of polymorphous exchange and productive mutation.“ [s. unten Dokumentation]
[38] Stöbert man in den vielen Seiten, die eine Suchmaschine zum Suchwort Digital Musicology anzeigt, stellt sich schnell ein „Déjà-vu“ ein: Die Themen oder Zauberworte sind keine anderen als in anderen Fächern der Digital Humanities auch: Computational/Informatics Methods, Information Retrieval, Big Data, Visualisierung von Daten und von Audiofeatures, Entwicklung und Anwendung von Algorithmen, Semantic Web/Linked Data, Mustererkennung, digitale Quelleneditionen, optische Erkennungstechniken.
[39] Historische Rückblicke in informationstechnologische Anfänge führen in der Musikwissenschaft ebenso wie in anderen Fächern der Humanities in die 1950er/1960er-Jahre zurück. Während man aber beispielsweise in der Geschichtswissenschaft meines Wissens bisher nicht versucht hat, den von Hayden White in „Metahistory“ vorgelegten Ansatz, den Prozess des Geschichteschreibens bei bestimmten Historikern wie etwa Leopold von Ranke durch Muster zu erklären, durch Ansätze aus der Forschung über Künstliche Intelligenz zu ersetzen, hat die Musikwissenschaft offenbar schon in den 1960er/1970er-Jahren damit zu experimentieren begonnen , Kompositionsmuster mittels Computerprogrammen zu finden und zu vergleichen sowie, rezenter, den historischen Komponisten (z. B. J.S. Bach) durch ein Computerprogramm, sprich Künstliche Intelligenz am Werk, zu ersetzen (Hochschule für Musik Karlsruhe). Heute lassen sich die Früchte schon ernten. Man muss lediglich bereit sein, solche Forschungen als sinnvoll anzusehen.
[40] Dieser letzte kleine Seitenhieb leitet in eine Reihe kritischer Fragen über, die zu stellen und zu beantworten sind.
[41] Über die Vorzüge der Digitalisierung von Primärmaterial, von digitalen Publikationen sowie der Schaffung geeigneter digitaler Arbeitsinstrumente herrscht meistens Einigkeit. Multimedialität und Trans- bzw. Interdisziplinarität sind willkommene Zusatzeffekte. Nur: Wo führt das alles auch hin?
[42] Der Begriff der Digital Humanities, zu denen die Digital Musicology zählt, zielt auf eine engere Verzahnung der Geistes- und Kulturwissenschaften unter Einschluss weiterer Humanwissenschaften wie Soziologie, Psychologie etc. sowie, wesentlich, der Informatik. Implizit nährt die Bezeichnung den Anspruch, ein Fach für sich, ein Metafach zu sein. Die europäische Initiative DARIAH-EU (Digital Research Infrastructure For The Arts And Humanities) nennt als Fernziel „to facilitate long-term access to, and use of, all European Arts and Humanities (A+H) digital research data“. Weitere Schlüsselbegriffe sind „network of people“, „work across“, „exchange knowledge, expertise, methodologies, and practices across domains and disciplines“, „ensure that they [=researchers] work to accepted standards and follow best practice“, „experiment and innovate in collaboration with other scholars“. [alle Zitate]
[43] Kann daran etwas schlecht sein? Ja und Nein. Alle Fächer der DH-Gruppe besitzen ihre eigene Wissenschaftsgeschichte, haben für sie spezifische und charakteristische Fragestellungen entwickelt, benutzen bestimmte Theorien und Methoden. In all diesen Bezügen gibt es ohne Zweifel Schnittmengen zwischen den Fächern, die nicht erst im Zuge von Digitalität entstehen.
[44] Standardisierungen bzw. Normierungen – und ohne diese gibt es keine DH – machen vor der Persönlichkeit eines Faches keinen Halt. Was bedeutet eigentlich, sich zu verpflichten, der „best practice“ zu folgen? Gerät das nicht leicht in Widerspruch zu den ebenfalls formulierten Zielen von experimentieren und innovativ sein?
[45] Eine Konkretisierung fehlt allerdings und auffälligerweise meistens. Besonders häufig wird die Möglichkeit der Mustererkennung auf der Basis der Analyse großer Datenmengen genannt. Dass Individuen und Kollektive Muster ausbilden, ist nicht neu, dass Muster nicht alles sind, ist bekannt, und dass zumindest bisher eher banale Erkenntnisse dabei herausgekommen sind, sei lediglich festgestellt.
[46] Worin besteht die „Innovation“? Diese Frage scheint mir die kritischste zu sein, da kaum ein anderes Wort wie Innovation oder „neu“ so oft gebraucht wird wie im Zusammenhang der DH. Welche sind die „neuen“ Forschungsergebnisse, die sich nicht nur auf Details beziehen, sondern neue Interpretamente begründen? Diese oder jene Ergebnisse schneller erzielen als früher mit analogen Methoden (ich denke z. B. an die Mühen der Praxis in den Anfängen des linguistic turn) macht noch nicht wirklich eine „Innovation“ oder etwas „Neues“ aus.
[47] Das sind aus meiner Sicht keine Argumente gegen die DH oder gegen eine einzelne Wissenschaft wie DM, worauf aber zu drängen ist, ist, dass solche Fragen grundsätzlich immer mitgestellt werden und dass man sich die Mühe macht, Antworten zu geben. Sonst bleibt es bei einer digitalen Dynamik, deren Hauptvorteil die Rationalisierung von Forschungsprozessen ist und die manche Potenziale wie etwa eine bessere Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in Aussicht stellt. Aber nicht mehr.
Dokumentation:
Zitate in Abs. [36-37]: Anne Burdick/Johanna Drucker/Peter Lunenfeld/Todd Presner/Jeffrey Schnapp, Digital_humanities, Cambridge, MA, 2012, 7 und 11.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Digital Musicology im Kontext der Digital Humanities. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/digital-musicology, Eintrag 11.12.2015 [Absatz Nr.].
Ergänzung 9. August 2016
Der Blogbeitrag ist in einer überarbeiteten Fassung erschienen:
Wolfgang Schmale: Digital Musicology im Kontext der Digital Humanities, in: Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth, Anna Langenbruch (Hg.): Wissenskulturen der Musikwissenschaft. Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen. Bielefeld: transcript 2016, S. 299-310. ISBN: 978-3-8376-3257-6