[1] Die Begriffskombination „Digital Public History“ [=DPH] bezieht sich in erster Linie auf eine Reihe praktischer Anwendungen und Projekte. Was sich unter DPH finden lässt, entbehrt in der Regel einer kritischen Reflexion. Diesem Umstand und Defizit versuche ich durch den Begriff der Digitalität entgegenzutreten, da Digitalität ein kritisch-reflexiver Begriff ist.
[2] Public History setzt beim Umgang der Öffentlichkeit mit Geschichte an. Öffentlich, Öffentlichkeit bezeichnet einerseits den Kommunikationsraum, um den es geht, und der bis zu einem gewissen Grad vom begrenzteren fachbezogenen Kommunikationsraum der Geschichtswissenschaft bzw. Geschichtsforschung selber abgegrenzt wird, auch wenn diese Abgrenzung letztlich eher vage und uneindeutig ist, weil die verschiedenen Kommunikationsräume über die Nutzung digitaler Medien stärker miteinander vernetzt werden. Zum anderen meint Öffentlichkeit in erster Linie den sozialen Gebrauch von Geschichte. In dieser Beziehung bestehen viele Überschneidungen mit Begriffen wie Geschichtskultur, Geschichtsbewusstsein, Geschichtspolitik, Geschichtsvermittlung (durch Schule, Universität, Museum, Archiv, Fernsehen, Internet, Living History usw.), Gedächtnis und Erinnerung, etc. Public History muss sich insoweit nicht speziell auf ‚historische Ereignisse‘, die sich zum soundsovielten Male jähren und daher öffentlich-medial als Referenzereignisse [Absatz 9] in Szene gesetzt werden, beziehen. (Aktuell: Erster Weltkrieg, Wiener Kongress etc.)
[3] Public History besitzt außerdem eine weitere Bedeutung, eine wiederum betont wissenschaftliche, als Kurzbezeichnung eines Studiums (Fachhochschule oder Universität). Hierbei geht es um das wissenschaftliche und anwendungsorientierte Erlernen der Techniken und Medien von PH, das „Machen von Public History“, bzw. um die wissenschaftliche Untersuchung von PH.
[4] Offen ist derzeit noch, ob Digital Public History und Public History nicht einfach dasselbe sind oder ob es Bedeutungsunterschiede gibt. Im angloamerikanischen Raum, insbesondere in den USA, tritt PH überwiegend als DPH auf, während in der deutschen Diskussion das „D“ durchaus noch weggelassen wird. Im Bedeutungsfeld von DPH findet sich außerdem der Begriff Public Humanities – zum Beispiel an der US-amerikanischen Brown-University.
[5] Der „öffentliche Gebrauch von Geschichte“ bezieht sich prinzipiell auf alle historischen Epochen und betrifft daher, wenn es um die wissenschaftliche Analyse geht, viele Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft sowie insgesamt der historisch-kulturwissenschaftlichen Fächergruppe, die auch für die sogenannten Digital Humanities die entscheidende Rolle spielt. Dessen ungeachtet überwiegen im Kontext von PH Thematiken des späten 19., des gesamten 20. und des laufenden Jahrhunderts. Unter den Gründen, warum das so ist, dürfte der Umstand sehr wichtig sein, dass in Bezug auf diesen Zeitraum von hundertdreißig oder hundertvierzig Jahren gesellschaftlich der Wechsel vom kommunikativen Gedächtnis zum kulturellen Gedächtnis durchlebt wird. Das aktuell agierende kommunikative Gedächtnis, das in etwa in den Zweiten Weltkrieg und mit größer werdenden Einschränkungen noch in einen Teil der Zwischenkriegszeit zurückreicht, wird durch den bewussten Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses erweitert, der sich speziell auf jene Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts konzentriert, die als unmittelbare historische Voraussetzung und Grundlegung des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Nicht zuletzt digitale Tools und Praktiken vereinfachen den Transfer ins kulturelle Gedächtnis bzw. den Aufbau eines kulturellen Gedächtnisses. Dieses entsteht nicht von selber sozusagen kulturwüchsig, sondern wird über die in der breiten Gedächtnis- und Erinnerungskultur der Gegenwart erprobten Management-Techniken des kulturellen Gedächtnisses bewusst aufgebaut.
[6] Wenden wir uns zunächst der Frage zu, inwieweit PH und Wissenschaft bzw. konkreter: Geschichtswissenschaft mittels digitaler Praktiken verschmelzen. Klar ist, dass hier von open access gesprochen wird. Forschungsergebnisse und geschichtswissenschaftliche Debatten sind in unterschiedlichsten digitalen Formaten und Publikationsgattungen frei zugänglich: Die Bandbreite reicht vom kompletten Buch über kürzere oder längere Abhandlungen, wissenschaftliche Blogs und Kommentare bis zum Tweet. Dazu gehören außerdem frei nutzbare wissenschaftliche Datenbanken. Digitalisierte bzw. digitale Quellen suchen es sich im open access-Modus nicht aus, ob sie wissenschaftlich oder nicht wissenschaftlich betrachtet und verwendet werden.
[7] Die freie Zugänglichkeit alleine macht noch nicht den wesentlichen Unterschied zu traditionellen Publikationsgewohnheiten. Wissenschaftliche Bücher stehen in öffentlichen Bibliotheken, viele Universitäts- und Fachbibliotheken sind mindestens für das Lesen vor Ort der Öffentlichkeit zugänglich, wer interessiert ist, konnte und kann wissenschaftliche Publikationen kaufen. Trotzdem liegt bei einer digitalen open access-Publikation die Zugangsschwelle niedriger, Verbreitungs- und Rezeptionsmechanismen sind unkompliziert und womöglich schnell. Man kann auch als Nicht-WissenschaftlerIn beim Surfen über eine solche open-access-Publikation stolpern und hängen bleiben, was in der „analogen Welt“ nur passiert, wenn ich gewohnt bin, Kataloge wissenschaftlicher Verlage durchzusehen oder wenn ich in der Buchhandlung zum Info-Schalter gehe und mich erkundige, was es zu einem Wissensgebiet gibt und was nicht im Regal oder gar auf dem Büchertisch liegt. Digital bedeutet, dass der Gebrauch allgemein wissenschaftlicher und im konkreten Fall geschichtswissenschaftlicher oder historisch-kulturwissenschaftlicher Ergebnisse und Erkenntnisse sowohl durch eine wissenschaftliche wie nicht wissenschaftliche Öffentlichkeit vereinfacht werden kann und ggf. parallel verläuft.
[8] Die Zahl der zumindest über einen gewissen Zeitraum beruflichen Wissenschaftler/innen ist seit den 1950er-Jahren immens gestiegen. Sie alle publizieren. Der Umfang der wissenschaftlichen Öffentlichkeit hat sich drastisch vergrößert, zusätzlich verbinden sich die ehemaligen Fachöffentlichkeiten immer mehr, weil das digitale Publizieren und die Multimedialität des Digitalen Trans- und Interdisziplinarität erleichtern und fördern. Die wissenschaftliche oder auch akademische Öffentlichkeit stellt keine begrenzte Öffentlichkeit mehr dar. Die Vernetzungen mit gesellschaftlichen Vermittlern (Schulen, Medien aller Art, Sachbuchverlagen, Museen, Archive, Tourismuseinrichtungen) von Wissenschaft bzw. Geschichte sind dicht und funktionieren reziprok sowie multidirektional.
[9] In diesem Zusammenhang markieren das wissenschaftliche Bloggen und das Twittern oder Microblogging einen Entwicklungsschub. Auf wissenschaftliche Blogs trifft man beim Surfen im Web allenthalben, insbesondere neuere Perspektiven wie PH oder Digital Public History fallen durch die Vielzahl der Blogs auf. Im deutschen Sprachraum ist hypotheses.org sicher die bekannteste Plattform, die – wie andere Blogplattformen auch – mehrsprachig ist. In der Mehrsprachigkeit mag bereits wieder eine Begrenzung des Kommunikationsraumes Öffentlichkeit liegen. Das dürfte selbst im Falle des Englischen gelten, weil das Kommunizieren (was das passive Lesen einschließt) über wissenschaftliche Inhalte und deren ggf. öffentlichen Gebrauch mindestens ein B2/C1-Level erfordert.
[10] Wissenschaftliche Blogs können sehr verschiedene Interessen bedienen und von sehr verschiedenen Lesern und Leserinnen frequentiert werden. Sie können in Bezug auf Anspruch und Niveau eine Brücke zwischen streng fachwissenschaftlichen Formaten einerseits und populärwissenschaftlichen andererseits darstellen. Sie müssen das jedoch nicht tun, das Publikationsgenre des wissenschaftlichen Blogs ist bis jetzt nicht hart definiert. Die Vielzahl wissenschaftlicher Blogs hebt hingegen einige Vorteile wie Niederschwelligkeit, Flexibilität, Geschwindigkeit der Publikation wieder auf, da niemand ausschließlich solche Blogs rezipieren kann. Und viele Leser/innen von Blogs sind selbst Blogger/innen. Das heißt, was zunächst nach einer Ausweitung der Öffentlichkeit aussieht, enthält schon wieder eine Begrenzung, weil es zu viel vom Guten gibt.
[11] Noch niederschwelliger erscheint das Twittern. Mit Tweets können mehr als kurze weiterführende Informationen (z.B. in Gestalt eines Links und Hashtags, Fotos, Videos) verbreitet werden. Eine gewisse Sprachfertigkeit vorausgesetzt, können Inhalte ‚diskutiert‘ werden. Dies geschieht kurz und knapp, dabei schnell. Aber schon das nicht unübliche Aufteilen eines Arguments, das mehr als 140 Zeichen benötigt, auf zwei oder drei aufeinanderfolgende Tweets, ist problematisch, weil Twitter ein Synonym für Dauerbeschuss (mit Tweets natürlich) ist. Entweder passt die Botschaft in 140 Zeichen oder man muss es bleiben lassen. Oder man verschwört sich zu einer kleinen Gemeinde von Followern, um die Sache übersichtlich zu halten, aber dann geht die Öffentlichkeit verloren und es würde, realistischerweise, bedeuten, dass jemand mehrere Twitterkontos eröffnet, um spezialisierte kleine Communities zu bedienen. Das ist machbar, aber unvorteilhaft.
[12] In gewisser Weise vergleichbar ist das Verbreiten von historisch relevanten Inhalten über YouTube, Flickr und andere Plattformen, die in den Bereich der sozialen Medien gehören. Diese stellen oft nichts anderes als mediale Knoten dar, über die man zu ausführlicheren Inhalten gelangt. Wer also beispielsweise sich an Historypin oder anderen historischen Crowdsourcing-Aktivitäten, die freilich nicht erst mit der Digitalität ‚erfunden‘ wurden, beteiligt, wird die erstellten historischen Inhalte über eine oder mehrere dieser Plattformen oder sozialen Netzwerke bekannt machen und dadurch zum Akteur der Public History werden.
[13] Die Möglichkeiten, das zu tun, sind keineswegs unbegrenzt, denn der Zugang zu Hardware, Software und schnellen Internetverbindungen ist ungleich verteilt. Das gilt in Bezug auf das Stadt-Land-Gefälle, das überall auf der Welt besteht, und in Bezug auf den globalen Maßstab zeigen sich erhebliche regionale Unterschiede.
[14] Nicht unähnlich der Idee von Historypin sind manche Apps zu historischen Themen. Grundsätzlich spielt es keine Rolle, ob es sich um native apps, hybride apps, web apps, mobile websites handelt. Vorteil der Ortsbezogenheit durch GPS-Verwendung. Informationen in Echtzeit. augmented reality (Smartphone- oder Tabletcamera auf das Objekt halten und historische Zusatzinformationen aus dem Internet abrufen). Apps bilden einerseits eine Brücke in die Öffentlichkeit, andererseits werden sie individuell angewendet und konstituieren nicht zwingend einen sozialen Kommunikationsraum.
[15] Die Idee von Crowdsourcing ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: möglichst viele Menschen einzuladen, zu einem Thema historische Dokumente aller Art, die die Geschichte der eigenen Familie, aber auch andere allgemeine historische Themen betreffen können, zur Verfügung zu stellen (hochzuladen) und mit Informationen zu versehen. Oder es wird dazu eingeladen, anonyme Dokumente, Fotos etc. identifizieren zu helfen. Oder es wird aufgerufen, online gestellte historische Dokumente zu transkribieren. Solche Initiativen funktionieren auf lokaler, regionaler, aber ebenso auf nationaler und z. B. europäischer Ebene. Ob sich wirkliche viele Menschen daran beteiligen oder im Kern eine kleine Gruppe Hochengagierter ist jeweils ungewiss. Eine Crowd ist nicht immer tatsächlich ein Schwarm.
[16] Die Bedeutung von Wikipedia für PH soll hier nur als Faktum angesprochen werden. Ebenso auch Computerspiele, die mit „historischen Inhalten“, die wahr oder erfunden sein können, arbeiten.
[17] Alle diese Anwendungen rekurrieren auch auf Spielmuster (z. B. Puzzlen) und Muster kreativen Handelns (z. B. Besuch eines Museums/Freilichtmuseums in Kombination mit augmented reality-Applikationen; einen Wikipedia-Artikel überarbeiten; mit Historypin ‚basteln‘). Sie nähern sich dem reenactment, der living history an. Sie tragen dazu bei, die eigene ‚reale‘ Lebenswelt mit einer vergangenen digital aktivierten durch verschiedene Möglichkeiten des Aktivsein miteinander zu verbinden. Pädagogisch und didaktisch dient dies der besseren Memorierung historischer Inhalte. In der Breite müsste dies, wenn die historischen Inhalte wissenschaftlich geprüft und begleitet werden, zu einer Minderung der Bedeutung von Stereotypen und Vorurteilen im Geschichtsbewusstsein führen. Müsste…
[18] Nimmt man alle diese Optionen und ihre Umsetzung gemeinsam in den Blick, wird deutlich, dass sich Digital Public History und historische Meistererzählung geradezu gegenseitig ausschließen, vielmehr entsteht ein Hypertext. Sich darin zu orientieren bedarf bestimmter Kompetenzen – oder Orientierung wird ersetzt durch selektives Verharren bei dem einen oder dem anderen Knoten, ohne andere Pfade auch auszuprobieren. Zu bemerken ist außerdem, dass Historypin- und Crowdsourcing-Aktivitäten gelenkte/geleitete Aktivitäten sind, wo es durchaus so etwas wie einen Mastermind gibt.
[19] Bei all diesen Aktivitätsoptionen bilden sich schnell eigene und viele communities aus, die oft und schnell selbstreferentiell werden. Die Nutzungsstatistik zu einem Blog erscheint manchmal genauso wichtig wie die Inhalte. Wer auf Twitter vertreten ist, sollte wohl mehr als einmal im halben Jahr einen Tweet absetzen, sollte einer herzeigbaren Anzahl von anderen „folgen“ und selber irgendwie auch eine herzeigbare Zahl von „followern“ haben, schließlich zeigt Twitter diese Statistik jederzeit an. Je höher die Zahlen, desto höher Gewicht und Ansehen in der Community?
[20] Die digitale Öffentlichkeit neigt zur Fragmentierung. Wissenschaftliche Blogs, die mehr für PH stehen können als andere Formate, werden, jedenfalls im deutschsprachigen geisteswissenschaftlichen Raum, im Gegensatz zu den USA, eher von jüngeren Wissenschaftler/inne/n betrieben als von etablierten Professor/inn/en, die es bevorzugen, einen Artikel mit historischen Inhalten in einer der bekannten überregionalen Tageszeitungen oder einer Wochenzeitung bzw. bekannten Magazinen zu publizieren.
[21] Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass digital ein öffentlicher Kommunikationsraum entstanden ist, in dem PH stattfindet. Diese Öffentlichkeit ist aber nicht ident mit der Öffentlichkeit, die über die traditionellen Massenmedien ihren Kommunikationsraum ausgebildet hat und weiterhin über diesen funktioniert. Es gibt Überschneidungen und Verbindungen, aber keine Ineinssetzung.
[22] Die kurzen und schnellen digitalen Medienformate sind zwar für PH im doppelten Wortsinn geeignet, aber sie werden von sehr viel Rauschen begleitet, weil sie inhaltsneutral sind und keine bestimmten sozial vereinbarten Werte voraussetzen. Zum Rauschen gehört auch der hohe Anteil an Befindlichkeitsmitteilungen. Bestimmte sozial vereinbarte Werte voraussetzen, das hingegen tun die meisten anderen Medien, die für PH im Sinne von Wissenschaft wie im Sinne von öffentlichem Gebrauch von Geschichte verwendet werden. Die Vermittlungsarbeit von Museen, Archiven, Sachbuchverlagen, Fernsehen etc. passt auf viele Inhalte, passt sich aber im Konkreten den jeweiligen Inhalten an. Sie (die Vermittlungsarbeit) hat außerdem ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert, gehört somit historisch zum Entstehen der Öffentlichkeit als vierter Gewalt und ist damit in einem bestimmten Wertekanon verortet, der mittels öffentlicher Kritik und Gegenkritik, Selbstkontrollorgan und Anbindung an die zumeist in der Landesverfassung und internationalen Chartas niedergelegten Werte respektiert und aufrecht erhalten wird. Das alles gilt für Twitter, Facebook, Chatrooms und Kommunikationsplattformen aller Art nicht zwingend, und es ist kein Zufall, dass die Debatte über das Sperren von Inhalten/Seiten genau hierauf bezogen geführt werden muss. Inwieweit ist jene digitale „Öffentlichkeit“, die nicht direkt an die „analoge Öffentlichkeit“ angebunden ist (wie z. B. die online-Redaktion und online-Publikation einer Tageszeitung neben der Printausgabe) im herkömmlichen Wortsinn eine „Öffentlichkeit“?
[23] Der öffentliche Gebrauch von Geschichte ist schwer festlegbar, aber es gelten allgemeine Regeln, die – offenbar – in digitalen Medien leichter verletzt werden als in den traditionellen Massenmedien, die in gewisser Hinsicht öffentlicher sind als das Web, und zwar in dem Sinne, dass sie aufgrund ihrer historischen Herleitung aus dem 18. Jahrhundert nicht nur Öffentlichkeit bilden geholfen haben, sondern zugleich und immer auch ein Teil der Selbstkontrolle derselben Öffentlichkeit gewesen sind und es noch sind. (D)PH kann sich folglich als Begriff nicht nur auf den in Demokratien über die Qualitätsmedien erfolgenden kontrollierten öffentlichen Gebrauch von Geschichte beziehen, sondern auch auf jenen zum Beispiel des IS, der Taliban, sowie neonazistischer, neofaschistischer und vergleichbarer krimineller politischer Organisationen, die intensiv mit den genannten digitalen Medien arbeiten. Per Gesetz das Leugnen des Genozids an den Armeniern und des Holocaust zu verbieten und unter Strafe zu stellen, ist das eine, um PH innerhalb eines bestimmten Wertekanons zu halten. Die faktische Irrelevanz solcher Maßnahmen für jene wertefeindliche, anti-hummanistische PH, die insbesondere über kurz- und schnellformatige digitale Medien existiert, ist das andere.
[24] Dieses „andere“ geschieht nicht nur über kurz- und schnellformatige digitale Medien, und das „eine“ spielt sich auch in digitalen Medien ab. Dennoch sind die Gewichte asymmetrisch verteilt. Damit soll vor allem herausgestrichen werden, dass es wenig Sinn macht, über PH bzw. DPH zu debattieren, wenn bestimmte weit verbreitete öffentliche anti-humanistische Gebrauchsarten von Geschichte nicht zentral thematisiert werden.
[25] Mit PH werden mindestens implizit positive demokratische und zivilgesellschaftliche, letztlich humanistische Werthaltungen verbunden. Das trifft aber eben nur auf einen Teil des öffentlichen Gebrauchs von Geschichte zu.
[26] Die teilweise Zerstörung Palmyras [Absatz 12] und vorher schon anderer historischer Stätten, die Plünderung von Museen und das Verschachern von Kunstwerken, um Gewalt und Terrorakte zu finanzieren, werden vom IS – früher und vergleichbar bereits durch die Taliban in Afghanistan – digital medialisiert. Es sind historische Ziele, die in dem Moment zerstört werden, in dem sich in Europa in einem Prozess von PH das Bewusstsein für die östlichen Wurzeln Europas verbreitert (hat). Der öffentliche Gebrauch von Geschichte durch IS zielt auf das Abtöten von historischen Wurzeln Europas und medialisiert digital PH in einem, unserem gängigen inhaltlichen Begriff von PH diametral entgegengesetzten, Sinn. Dies macht unmissverständlich klar, dass Taliban und IS-Kämpfer und andere Islamisten wie jene, die im Januar 2013 in Timbuktu (Mali) alte Handschriften verbrannten, ebenso Public Historians sind wie all jene anderen, die Stefanie Samedia in ihrem Artikel auf Docupedia aufzählt: „Public Historians, möchte man es kurz und knapp ausdrücken, sind alle, die Geschichte darstellen und vermitteln. Dazu gehören die auf freiwilliger Basis arbeitende Stadtführerin und der am Wochenende als Alamanne verkleidete Fernfahrer ebenso wie die klassischen Dienstleister, die als Journalisten, in Agenturen, für Unternehmen und Museen, für die Werbung oder auch in der Politik arbeiten. Auch Wissenschaftler/innen sind Public Historians, und zwar immer dann, wenn sie historisches Wissen darstellen und vermitteln.“ [s. unten Dokumentation] Die Realität von PH ist weniger schön als es in etlichen wissenschaftlichen Publikationen über PH bzw. DPH dargestellt wird. Vor allem beschränkt sie sich nicht auf die Darstellung und Vermittlung von historischem Wissen, sondern sie schließt jede andere Art von Umgang damit ein. Zerstörungen von Kulturstätten sind das Pendant der aufwendigen Restaurierung und feierlichen Wiedereröffnung für das Publikum von Kulturstätten, und beides stellt eine Variante von PH dar.
[27] An dieser Stelle ist es erforderlich, über den zweiten Begriff, Digitalität, nachzudenken.
[28] „Digitalität fasst die Rolle und Funktion digitaler Medien, digitaler Techniken und von Digitalisaten in einem Begriff zusammen; der Begriff meint daher auch digitale Verfahrensweisen der Kommunikation, das Umgehen mit Digitalisaten, die möglichen Veränderungen von PH durch das Digitale. Digitalität wird entscheidend durch Rationalisierung, Verflüssigung, Entgrenzung, Dekontextualisierung und Personalisierung sowie durch ein stets gegebenes Veränderungspotenzial charakterisiert. Rationalisierung, Verflüssigung, Entgrenzung, Dekontextualisierung, Personalisierung und gegebenes Veränderungspotenzial sind Kernelemente der „digitalen Vernunft“.“ [s. unten Dokumentation]
[29] Historypin und Crowdsourcing als PH-Techniken können dem Begriff der Rationalisierung wie auch der Personalisierung zugeordnet werden. Personalisierung bezieht sich zunächst auf jene Daten, die die Nutzer und Nutzerinnen im Internet produzieren, dort gespeichert werden und zusammengefasst gewissermaßen zum digitalen Klon der jeweiligen Person werden. Das beflügelt nicht nur die Fantasie der Unternehmen, die mit solchen Daten handeln und Gewinne erzielen, und der Aktionäre, sondern auch der ForscherInnen. Man denkt ganz spontan an dieses digitale Paradies fürs Data Mining. Eine Auswertung der personalisierbaren und lokalisierbaren Verbindungsdaten nach Tags oder Suchbegriffen, die Geschichtliches betreffen, würde z. B. Interessensmuster, Interessensschwerpunkte, Interessenschronologien usw. ermöglichen, die sich z. B. mit den Schwerpunktsetzungen des politischen Geschichtskalenders (Gedenktage, Referenzereignisse etc.) eines Landes, einer Stadt etc. pp. vergleichen lassen. Es ergeben sich zahllose mögliche Fragestellungen.
[30] Personalisierung zielt jedoch im Zusammenhang der DPH noch in eine andere Richtung, da die Beteiligung an Historypin- oder Crowdsourcing-Projekten anders als bei Wikipedia nicht an Anonymität gebunden ist bzw. sein muss. Die Vermittlerfigur des Historikers oder der Historikerin vor Ort, seit den 1970er-/1980er-Jahren die professionelle Variante des Heimathistorikers oder der Heimathistorikerin, verhundert- oder vertausendfacht sich in solchen Projekten und bleibt trotzdem eine konkrete Person mit einem ganz individuellen Zugang zu geschichtlichen Themen und Fragen.
[31] Rationalisierung im Zusammenhang von DPH bedeutet, die in der Gesellschaft vorhandenen Kompetenzen zu nutzen und diese sich gegenseitig ergänzen zu lassen. Niemand braucht mehr eine Super- oder Megakompetenz für ein historisches Thema oder muss Mr. Allwissend sein, das übernimmt die „Crowd“. Da landen wir wieder beim Thema der Schwarmintelligenz, dem Effektivsten, was digitale Rationalisierungsprozesse hervorbringen können, wenn man sich an Science Fiction hält.
[32] Verflüssigung/Entgrenzung in DPH liegt auf der Hand, da die Kompetenzlevels, die es für Rezeption bzw. Produktion von Inhalten braucht, ineinanderfließen und das Medium selber Lernprozesse ermöglicht, die das Erreichen eines höheren Levels, analog zum Level im Computerspiel, erleichtert. Verflüssigung bedeutet außerdem, dass eine an einen Wertekanon gebundene Geschichtsinterpretation neben einer anti-humanistischen stehen kann und die Konfrontation damit zunächst eine sehr individuelle, um nicht zu sagen: einsame, das heißt nicht-soziale, nicht-kollektive Angelegenheit ist. Es muss nicht bei dieser Situation des Isoliertseins bleiben, aber es liegt am Nutzer oder der Nutzerin, aus der Isolation herauszugehen. Verflüssigung führt im negativen Sinn zum gesellschaftlichen Kontrollverlust. Verflüssigung bedeutet schließlich im Rahmen von DPH möglicherweise eine gewisse Kurzlebigkeit geschichtlicher Inhalte und kann den Abstand zwischen dem wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch hier und dem schnellen verändernden Fortschreiben geschichtlicher Erkenntnis mit geringer Gültigkeitsdauer dort vergrößern. Neue Ideen und ihre digitale technische Umsetzung sind immer global umsetz- und anwendbar. So etwas wie „Annales-Schule“ oder „Cambridge School“ (of intellectual history) wird darin obsolet bzw. funktionslos.
[33] Dekontextualisierung stellt im Zusammenhang von DPH einen ambivalenten Begriff dar, denn einige Techniken und Aktivitäten scheinen gerade Kontextualisierung zum Ziel zu haben. Die dort praktizierte Kontextualisierung ist in der Regel faktologisch; ob ein aktuelles Foto mit einer historischen Fotografie zusammengebracht wird oder eine Geschichte-App Zusatzinformationen – und sei es noch so punktgenau z.B. zu einem Fassadendetail – zu einem historischen Objekt liefert, es handelt sich weder um Diskurse noch um Narrationen noch um eine festgelegte Abfolge ritualisierter Handlungen (Geschichtestudium, Festakt mit historischem Fokus, mediale Aktivitäten aus Anlass von Referenzereignissen usw.), in denen sich sozial Kontextualisierung von Geschichte vollzieht.
[34] Auch wenn PH anfangs und teilweise noch jetzt eher der wissenschaftlichen Geschichte gegenüber oder entgegengestellt wird, handelt es sich nicht um getrennte Sphären. Nicht nur nicht in der DPH. In Bezug auf DPH wird die Frage nach der Abgrenzung von wissenschaftlicher und nicht wissenschaftlicher Öffentlichkeit gar nicht im Vordergrund stehen, sondern man müsste sich die Frage nach der möglichen Marginalisierung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit stellen. Bisher umfasst der Begriff PH beides, aber wird es in Zukunft auch noch so sein?
Dokumentation:
Zitat in Abs. [26]: Stefanie Samida, Public History als Historische Kulturwissenschaft: Ein Plädoyer, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 17.6.2014, URL: http://docupedia.de/zg/Public_History_als_Historische_Kulturwissenschaft?oldid=97436 (aufgerufen 28.11.2015).
Zitat in Abs. [28]: Wolfgang Schmale: Digitale Vernunft, in: Historische Mitteilungen 26 (2013/2014), S. 94.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Digital Public History. Eine Kritik. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/public-history, Eintrag 08.12.2015 [Absatz Nr.].