Das aufgeregte Geschnattere in der EU, nachdem die Wahlen zum Europäischen Parlament abgeschlossen sind, ist keines detaillierten Kommentars würdig. Zu viele meinen offenbar, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei, die EU-Bürger*innen nach allen Regeln der Kunst für dumm zu verkaufen. Jedenfalls passen im Moment die Argumente nicht zusammen, auch wenn sich vieles taktisch erklären lässt. Besser wäre es, wenn sich eine Demokratisierungsstrategie darin abzeichnen würde, aber dann müsste die Debatte anders laufen.
Zuerst ist festzuhalten, dass die EVP und die SPE deutlich verloren haben. Ist es wirklich klug, auf diesem Hintergrund „Spitzenkandidaten“ (bei diesen beiden Parteien waren es Männer) so sehr nach vorne zu spielen? Sie werden schlicht instrumentalisiert. Diese beiden Parteien schieben die eigene Verantwortung für die verlorene Wahl von sich.
Die Liberalen (Renew Europe) haben nur scheinbar dazugewonnen, denn ohne Macrons Partei wären sie deutlich schwächer geblieben. Ist Macron ein Liberaler? Jedenfalls spielen Überlegungen zu einer demokratischeren EU – was ja mehr Rechte für Bürger*innen einschließen muss – in seinem Europadenken höchstens eine marginale Rolle. Vielleicht sollten die, die im Politikteil angesehener Tageszeitungen immer bedauern, dass man so wenig auf Macrons Vorschläge antworte, mehr Sorgfalt auf die genaue Lektüre und Analyse Macron’scher Reden und Handlungen verwenden? Vielleicht mal ein bisschen mehr mit Macrons politischem System in Frankreich befassen?
Gewonnen haben die europäischen Grünen, sodass die Debattenlogik der Parteien eigentlich zu dem Schluss führen müsste, dass die künftige Kommissionspräsident*in aus den Reihen der Grünen kommen müsste. So konsequent wollen die Parteien aber doch nicht sein – wo kämen wir hin, wenn Berufspolitiker*innen es mit der Demokratie und der Demokratisierung der EU nun aber wirklich ernst meinen würden??!!
Das Grundproblem ist, dass in den geltenden EU-Verträgen bei den Verhandlungen 2007 in Lissabon vor allem die Nationalstaaten gestärkt wurden (s. meine Analyse in meinem EU-Buch). Der Europäische Rat hat bei der Entscheidung, für den Kommissionsvorsitz niemanden von den Spitzenkandidat*innen vorzuschlagen, von seinen vertraglichen Rechten Gebrauch gemacht.
Zu recht wird gefordert, dass sich alle Mitgliedsstaaten an die Verträge halten müssen, das kann aber nicht nur in Bezug auf Art. 2 gelten, sondern gilt halt für die Verträge insgesamt, die sind, wie sie sind.
Ändern muss man also die Verträge – wobei unter den nicht wenigen, die derzeit eine Reform der Verträge verlangen, niemand dies im Sinne von mehr Demokratie tut. Da sind dicke Bretter zu bohren.
Die Praxis zeigt, dass die Lissaboner Verträge u.U. zu einem Patt führen können, wenn das EU-Parlament die vorgeschlagene Kommissionspräsidentin nicht bestätigt. Die Beseitigung dieser institutionellen Falle besteht aber nicht darin, einen Automatismus mit Spitzenkandidat*innen einzurichten – außer, man entschließt sich, künftig die Kommissionspräsident*inn direkt von den EU-Bürger*innen wählen zu lassen.
Der erste Wahlgang mit vermutlich vielen Kandidat*innen findet dann am selben Tag wie die Wahlen zum EU-Parlament statt, die Stichwahl zwischen den zwei stimmenstärksten Kandidat*innen dann z.B. zwei Wochen später.
Eine Demokratisierung der EU muss sehr viel mehr umfassen. Dazu habe ich ausführliche Vorschläge im genannten Buch zur Zukunft der EU gemacht.
Solche Reformen würden endlich die Voraussetzung für eine europäische Öffentlichkeit schaffen. Das EU-Parlament sucht derzeit die Öffentlichkeit, aber nicht, um eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen, da bedürfte es des Mutes, das „Spitzenkandidat*innenmodell“ tatsächlich ganz an die Wähler*innen zu geben. Das EU-Parlament hat in der Vergangenheit viele wichtige Beiträge geleistet. Derzeit ist es aber um keinen Deut besser als der kritisierte Europäische Rat.
Nachtrag: Inzwischen wurde Ursula von der Leyen vom EU-Parlament bestätigt, nachdem sie mit allen demokratischen Fraktionen gesprochen hatte und in ihrer Rede vom 16. Juli 2019 etliche Positionen dieser Fraktionen aufgegriffen hatte. Hätten die sog. Spitzenkandidaten das ebenso gemacht?