VI Vereinigte Staaten von Europa? Republik Europa?
Empire Europa?
[35] Die Diskussion darüber, was staatlich aus der EU werden soll, ist lebendiger denn je. „Vereinigte Staaten von Europa“ besitzt eine Tradition, die in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, eng mit den Revolutionen des 19. Jahrhunderts und in deren Folge mit der Pazifismusbewegung verbunden war. Die Idee und europäische Zielbestimmung überdauerte den Ersten Weltkrieg, erlebte eine hohe Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, sie blieb für den vielfältigen Widerstand im Zweiten Weltkrieg attraktiv, und ab 1946 warb Winston Churchill intensiv für Vereinigte Staaten von Europa.[1]
[36] Was der Begriff genau bezeichnen sollte, blieb eher vage. Für Churchill war der 1949 gegründete Europarat ungefähr das, was er sich unter VSE vorstellte. Andere dachten an einen europäischen Bundesstaat, vor allem die europäischen Föderalisten, die dieser Idee bis heute treu geblieben sind. Politiker wie Martin Schulz haben die Idee erneut aufgegriffen.
[37] Im 19. Jahrhundert bestand der Kern der Idee darin, dass die europäischen Nationalstaaten zu einem brüderlichen Verhältnis und Miteinander finden würden, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde dies konkreter ausformuliert – bis hin zum Wunsch nach einem europäischen Superstaat. Die Hauptziele dabei waren Friede in Europa und die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums, nicht unähnlich unserem Binnenmarkt. Nun wurde dies auch ohne VSE erreicht – mit anderen Worten: Es muss präziser debattiert werden, was genau VSE sein sollen und welche Ziele damit besser erreicht werden könnten als mit der jetzigen Rechtsform der EU.
[38] Dynamischer ist aktuell die Debatte um eine „Republik Europa“. Diese Idee ist im deutschsprachigen Raum besonders mit Ulrike Guérot und Robert Menasse verbunden, aber sie ist – wie fast alles im Zusammenhang der Idee europäischer Einheit – um einiges älter. 1925 veröffentlichte der überzeugte Europäer und Menschenrechtsaktivist Otto Lehmann-Russbüldt im „Verlag der Neuen Gesellschaft“ (Berlin) die Schrift „Republik Europa“… Heute besitzt die Idee einer Republik Europa europäische Unterstützung, wie es das am 10. November 2018 realisierte European Balcony Project anschaulich belegt. Im Manifest heißt es: „An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt hiermit die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft. Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen. Der Tag ist gekommen, dass sich die kulturelle Vielfalt Europas endlich in politischer Einheit entfaltet.“
[39] Ein Manifest ist ein Manifest und kein genauer Traktat zur praktischen Umsetzung und zur künftigen Verfassungswirklichkeit. Trotzdem gilt, dass viele Menschen in Europa das so, wie es im Manifest formuliert ist, nicht wollen. Konflikte wären vorprogrammmiert, und diese dürfen nicht ausgeblendet werden. Dass die Verfassungsform der „Union“ (der Europäischen Union) durchaus sozialverträglich ist, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erwiesen. Generell gilt: Welche Verfassungsform für Europa auch immer gefunden werden wird, es gibt keine ohne Konflikte und niemand darf so tun, als wäre ein konfliktfreier Weg möglich.
[40] Der Vorschlag, die EU als Empire zu analysieren, kam schon in den 1990er Jahren auf, wurde aber erst im Zuge der großen Erweiterung der EU im Jahr 2004 breiter diskutiert. Beliebt sind Vergleiche zwischen der EU und dem antiken Römischen Reich, dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) und der Habsburgermonarchie des 18. und 19. Jahrhunderts.
[41] Der Charme des Ansatzes besteht in der Vielfalt, die Reiche (Empires) auszeichnet, wobei weniger an die Kolonialimperien des 19. und 20. Jahrhunderts gedacht ist als an ältere historische. Letztere besaßen zwar zumeist ebenfalls Kolonien, aber ihr Kern wurde nicht durch einen Nationalstaat ausgefüllt wie im Imperialismus.
[42] Die historischen Reiche folgten übergreifenden großen Ideen, sie besaßen zweifellos ein Machtzentrum wie Rom oder Wien etc., aber es gab auch starke Elemente dezentraler Machtausübung. Die Multiethnizität der Einwohnerschaft wurde produktiv genutzt. Bei allen Problemen und Diskriminierungen, die sich feststellen lassen, waren diese historische Reiche, die zum Vergleich herangezogen werden, keine „Völkerkerker“. Aber sie stellten niemals einen Raum des Friedens, des Rechts und der Sicherheit dar. Und man wende jetzt bitte nicht die Pax Romana ein!
[43] Kurz und gut: Sich mit den Vorzügen der Rechtsform der Union intensiver auseinanderzusetzen, scheint mir sinnvoller zu sein. Das heißt nicht Defizite, z B. in der demokratischen Ausgestaltung, unter den Teppich zu kehren.
VII Digitalität, Künstliche Intelligenz
[44] Die Digitalisierung der gesamten Lebenswelt kommt dynamisch voran, aber nicht dynamisch genug da, wo es um den Einsatz und die Weiterentwicklung von KI geht. Europa ist abgehängt und tut sich mit der Entwicklung von Synergien schwer. Obwohl klar ist, dass die Infrastruktur z. B. für autonomes Fahren gesamteuropäisch realisiert werden muss.
[45] Zumindest in der Öffentlichkeit ist die Diskussion darum, welche Chancen für, aber eben auch Transformationen von Gesellschaft mit dem Einsatz von KI im Verkehr, im Haushalt, in der Produktion etc. einhergehen, noch zu kümmerlich. Wie umfassend können KI-Systeme z. B. Menschen im Alter angesichts einer immer älteren Bevölkerung unterstützen? Wie verändert das Lebensstile/Lebensformen bzw. wie soll es Lebensstile/Lebensformen verändern?
[46] Was ist technisch bereits machbar, aber vielleicht nicht sinnvoll? Wieviel „Netz der Dinge“ wird tatsächlich gebraucht, wieviel ist sinnlose Spielerei, die nur deshalb vorangetrieben wird, weil wertvolle Daten produziert werden?
[47] Was bedeutet die fortschreitende Digitalisierung der Lebenswelt für unsere ethischen und sozialen Werte? Wie stark ist die Tendenz, den Wert des Menschen zunehmend nach der Menge der von ihm gratis produzierten Daten festzulegen? Dies sind Praktiken, die sich etablieren.
[48] Ebenso wird unsere bisher praktizierte soziale Konstruktion der Wirklichkeit durch eine digitale Konstruktion der Wirklichkeit ersetzt. Hier bestehen längst konkrete Anwendungsgebiete (Sicherheit, Prognostik etc.), aber die Tragweite der digitalen statt sozialen Konstruktion wird nicht erfasst.
VIII Wissenschaft für die Welt von morgen
IX Europäisches Kulturerbejahr 2018
X Ausblick
[49] Europa steht höchstwahrscheinlich mitten in einer Zeitenwende. Die Chancen auf Eindämmung des Klimawandels sinken täglich, die Kraft, andere Prioritäten als bisher zu setzen, fehlt. Es ist ungewiss, ob das in Katowice vereinbarte Regelwerk mehr praktische Durchschlagskraft erhält als alle vorangegangenen Vereinbarungen.
[50] Die Vorbereitung auf die mit Sicherheit zu erwartenden globalen Verwerfungen findet so gut wie nicht statt. Als Beispiel lässt sich der „Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ anführen. Nachdem sich nahezu alle UN-Mitglieder mit Ausnahme der USA unter Präsident Trump an der Ausformulierung des Paktes beteiligt hatten, wurde der Text am 10. Dezember 2018, dem Tag der Menschenrechte (in Erinnerung an den 10. Dezember 1948, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN), in Marrakesch von rund 150 Staaten angenommen. Mehrere EU-Mitgliedsländer beteiligten sich nicht an der Zustimmung, allen voran das Land, das im zweiten Halbjahr 2018 den Vorsitz im Rat der EU führte – Österreich. In vielen anderen Ländern wurde beschwichtigend betont, der Pakt sei nicht rechtsverbindlich und nicht vor Gericht einklagbar.
[51] Dabei sieht er äußerst sinnvolle Maßnahmen vor, deren Nutzen man spätestens dann wird erkennen können, wenn der Klimawandel, aber auch der zunehmende Zerfall von Staaten die Migration antreibt. In dem Moment ist es irrelevant, ob der Pakt rechtsverbindlich ist oder nicht, es zählt einzig sein Pragmatismus.
[52] Klimawandel gibt es überall. Staatszerfallserscheinungen gibt es nicht nur in Libyen, in Nigeria, in der Zentralafrikanischen Republik, sondern auch in einigen mittelamerikanischen Staaten, selbst in den USA und in europäischen Ländern. Wie instabil sind Brasilien und Argentinien?
[53] Die Bedrohung des Multilateralismus und regelbasierter internationaler Beziehungen inklusive der Anerkennung internationaler Institutionen ist real. An Stelle dieser Errungenschaften treten Imperialismus (Russländische Föderation; Türkei in Syrien?), ökonomische Erpressung (USA), von staatswegen angeordnete Verbrechen (u.a. Saudiarabien, und viele andere wie Philippinen unter Duterte) – die Liste würde sehr lang werden.
[54] Und die EU? Herr Salvini brüllt lieber gegen „Brüssel“, knapp die Hälfte der Katalanen will vor allem eins: den Katalexit, das Vereinigte Königreich will den Brexit oder vielleicht doch nicht oder wohl eher doch, die Bundesrepublik erweist sich als unfähig, den Dieselskandal zu beenden, Schweden bekommt keine Regierung zusammen, Frankreich scheitert – immer noch! – an der Aufgabe, auf den Weg zu sozialer Gerechtigkeit zurückzukehren, in Belgien bleiben die regionalen Unterschiede, Gegensätze und Blockaden wichtiger als alles andere.
[55] Nicht zu reden von den sich zuspitzenden Situationen in Syrien, Afghanistan, allgemein im Nahen Osten, in der Ostukraine, im Kosovo. Nirgendwo hat die EU Partner, mit denen sich Lösungen entwickeln und umsetzen ließen. 2019 wird diesbezüglich keine Fortschritte bringen, da die EU mit dem Problem Brexit, mit einer im günstigsten Fall unbedeutenden rumänischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr, in das die EU-Parlamentswahl fällt, mit den Wahlen zum Europäischen Parlament, und dabei mit der voraussichtlich größeren Rolle autoritär ausgerichteter Parteien, die sich an die Stelle des Volkes setzen, beschäftigt sein wird. Die Beziehungen zu China sind alles andere als konfliktfrei, die Spannungen zwischen den USA und der EU werden zunehmen; möglicherweise verursachen Italien und Frankreich die nächste Euro-Krise.
[56] Viele derzeit führende Politiker*innen werden sich zurückziehen wie Jean-Claude Juncker oder an Strahlkraft verlieren: Vielleicht Angela Merkel, vielleicht Emmanuel Macron…
[57] 2019 müsste das Jahr werden, in dem die von Werner Weidenfeld konstatierte „strategische Sprachlosigkeit“ überwunden wird. Müsste…
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa 2018 – eine Bilanz (Teil II). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2018-bilanz-2, Eintrag 29.12.2018 [Absatz Nr.].
Weiterführendes
Buch: Wolfgang Schmale: Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und
Zukunft. Reclam Sachbuch, 2018.
[1] Siehe demnächst: Wolfgang Schmale: Freemasons, Human Rights Leagues and Individual Citizens for Democratic ‘United States of Europe’ (1918-1950). Studies in the History of European Civil Society (Stuttgart 2019).