I Geschlechtergeschichte Europas?
[1] Mit dem Titel, den ich für diesen Vortrag gewählt habe, knüpfe ich an das Themenheft „Das Geschlecht der Europa“ der Zeitschrift „L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft“ aus dem Jahr 2000 an. Mein eigener Beitrag trug den Titel „Europa – die weibliche Form“. Ich hatte mich mit der weiblichen Form, die Europa in der Neuzeit narrativ, szenisch, bildlich und sprachlich gegeben wurde, befasst. Mit der weiblichen Form wurde sehr oft Europa ein weibliches Geschlecht zugewiesen. Handelte es sich dabei nur um das Geschlecht der Europa oder auch um Europas Geschlecht?
[2] Vielen kommt die Frage nach Europas Geschlecht randständig vor. Man braucht sich aber nur ein wenig zurückerinnern, an die Zeit des zweiten Irakkrieges, als vorwiegend von US-amerikanischer, aber gelegentlich auch europäischer Seite, die USA mit Mars und Europa mit Venus identifiziert wurden. Solche propagandistischen Identifizierungen lassen sich weiter zurückverfolgen, die Identifizierung des Feindes, der feindlichen Nation mit „Frau“ oder „Weib“ beispielsweise diente der Verächtlichmachung.
[3] Bei „Europas Geschlecht“ geht es aber nicht um den propagandistischen Missbrauch solcher Identifizierungen, sondern um einen gesellschaftlichen performativen Sprechakt, der nicht eine, sondern die Identität Europas – natürlich ist diese unterstellt – verbalisiert. Das zugewiesene, für gegeben angenommene Geschlecht Europas oder der Verzicht auf eine solche Zuweisung steht für das, als was Europa in einer bestimmten Zeit verstanden wird.
[4] Die Anwendung der Kategorie Geschlecht führt zu Schlüsselaspekten der neueren europäischen Geschichte, denn die Identifizierung Europas mit dem einen oder dem anderen oder keinem Geschlecht hängt mit der jeweils vorherrschenden Geschlechterordnung oder der Ablehnung einer solchen zusammen.
[5] Meine Hypothese lautet, dass Europa in der Aufklärung, im späteren 18. Jahrhundert, auf der Grundlage der zeitgenössisch entwickelten Geschlechter- und Zivilisationstheorien, die in dieser Beziehung zusammengeführt werden, als männlich definiert wird. Diesen Vorgang habe ich in meinem Buch „Gender and Eurocentrism“ als kollektiven historischen performativen Sprechakt eingeordnet. Ein weit gefasstes Verständnis von „République des Lettres“ bezeichnet ganz gut den Kreis der Sprecher und mancher Sprecherinnen, die diesen performativen Sprechakt tätigten.
[6] In dieser Art von Sprechakt wird die Identität einer Person oder „Sache“ verbalisiert. Aus der kritisch wissenschaftlichen Sicht betrachtet konstruiert erst der performative Sprechakt die verbalisierte Identität. Sie ist also nicht da und wird nur ausgesprochen, sondern das Aussprechen ist ein Konstruktionsvorgang – kein einmaliger, sondern immerzu wiederholter, sodass er als selbstverständlicher Teil der Sozialbeziehungen erscheint.
[7] Es geht dabei auch nicht nur um gesprochene Worte oder um Text, sondern auch um die Visualisierung und ggf. um die Einbettung in eine szenische Performativität sowie Kulturmuster.
[8] Historische europäische Kollektive, die in Bezug auf Europa einen performativen Sprechakt tätigten, der im Kern in der Identifizierung von Europas Geschlecht bestand, der die Identität Europas mittels der Kategorie Geschlecht ausdrückte, hat es seit der Frühen Neuzeit durchgängig gegeben. Diese Kollektive bestanden und bestehen aus Menschen, deren Lebenswelt maßgeblich europäisch geprägt war, wie im Fall der République des Lettres, oder ist und die Interessen im europäischen Maßstab besaßen oder besitzen. Für sie machte und macht es Sinn, Europa eine Identität zuzuweisen bzw. diese in einem Sprechakt zu verbalisieren.
[9] Ich will im Folgenden keine lineare Erzählung konstruieren, etwa nach folgendem Muster: von der „Frau Europa“ zum „Mann Europa“ und dann zum „Weder-Noch“ von EU-Europa, obwohl manches eine solche Erzählung stützt. Dazu müsste gerade in der Zeit- und Gegenwartsgeschichte erst einmal sehr weit in die Quellen ausgegriffen werden, was für die gängige Europaforschung, die sich bezüglich des 20. und 21. Jahrhunderts überwiegend als Integrationsforschung versteht, untypisch ist. Hier besteht ein Defizit, das ich immer wieder anspreche, aber nicht allein beseitigen kann.
II Männliche Erdteilallegorien
[10] Denkt man an Europa, fällt bis heute vielen Menschen die Europa auf dem Stier ein. Sie ziert Euroscheine als Wasserzeichen und z. B. die griechische Zwei-Euro-Münze. In Karikaturen und in den Bildenden Künsten stellt sie unverändert ein beliebtes Sujet dar. Europa, das ist eine Frau. Seit der Antike. So scheint es.
[11] Zuerst gilt es deshalb festzustellen, dass Europa auch eine männliche Form haben konnte. Oder weder noch, wie es eine Szene mit Tom Neuwirth alias Conchita Wurst treffend illustriert: „Die Gewinnerin des Eurovision-Song Contest 2014 in Kopenhagen gab auf Einladung der österreichischen „Grünen“ im Oktober 2014 vor dem Europaparlament in Brüssel ein Konzert. Fotos der Presseagenturen zeigen Conchita Wurst vor der Europa-Flagge. Diese Fotos haben etwas eingefangen, was bei der Beantwortung der Frage nach dem Geschlecht Europas im 21. Jahrhundert weiterhilft. Tom Neuwirth alias Conchita Wurst ist beides, Mann und Frau, ohne dabei auf den Stil des Androgynen zurückzugreifen und ohne sich als transsexuell zu verstehen. Besonderes Kennzeichen ist der Bart, aber auch der Kunstname, bestehend aus einem spanischen bzw. hispanischen Vornamen (Conchita) und dem deutschen umgangssprachlichen Ausdruck „wurst“ (ist doch wurs(ch)t, ist doch egal, spielt keine Rolle, ob so oder so, usw.). Die Kunstfigur Conchita Wurst ist eine Gesamtbotschaft, die sich gegen die starren und in der sozialen Praxis diskriminierend auswirkenden Elemente der ursprünglich in der bürgerlichen Gesellschaft realisierten Geschlechterordnung der Aufklärung wendet. Das Foto, das Conchita Wurst vor der Europaflagge eingefangen hat, lässt die Deutung zu, dass das Geschlecht Europas „wurst“, also unbestimmt ist.“ [Zitat s. LIT 1] Thematisch ging es bei der Einladung durch die „Grünen“ und in der Pressekonferenz mit Conchita um Geschlechterverhältnisse, gleichgeschlechtliche Ehe etc., also eindeutig um Konzepte, die die im 18. Jahrhundert entwickelte Geschlechtertheorie hinter sich lassen.
[12] Zurück zur männlichen Form Europas und ihrer Geschichte: Am deutlichsten wird die männliche Form im Zusammenhang der vier frühneuzeitlichen Erdteilallegorien, die in einem von mir zusammen mit Marion Romberg, Josef Köstlbauer und Martin Gasteiner durchgeführten Forschungsprojekt für den Kernraum des Barock erstmals heuristisch vollständig erfasst und in einer Datenbank dokumentiert wurden.
[13] Die Darstellung der Erdteile konnte eher emblematisch-kurz ausfallen oder, wenn genug Platz vorhanden war, den Umfang einer Geschichte der Zivilisation annehmen. In solchen Fällen haben wir es nicht nur mit Erdteilallegorien, sondern mit vier Zivilisationsallegorien zu tun. „Zivilisationsallegorie“ ist im Übrigen nicht dasselbe wie eine allfällige „Allegorie der Zivilisation“, auf die ich später noch zu sprechen komme.
[14] Ich kann nicht im Detail auf das Projekt eingehen, sondern halte nur ein paar Eckpunkte aus Gründen der Orientierung fest: Der Untersuchungsraum reichte von Vorderösterreich im Westen bis nach Wien und das Umland im Osten, im Norden bis zum Main, im Süden bis einschließlich Südtirol. Beiträge zu Polen, Böhmen und den Görzer Raum ergänzten die Forschungen, letztere sind mangels Geld noch nicht in die Datenbank eingearbeitet, aber im Projektsammelband veröffentlicht. Untersucht wurden fest mit Gebäuden verbundene Erdteilallegorien, was z. B. Altarbilder, also Ölgemälde miteinschließt, während Druckgrafik vor allem als Modell und Vorlage eine Rolle spielte. Insgesamt sind über 400 Ensembles mit den vier Erdteilallegorien dokumentiert.
[15] Ich gehe nicht auf die Entwicklungsgeschichte der Erdteilallegorien ein, auch die Quellenkritik dieser spezifischen Quelle muss hier außen vor bleiben. Ich rede auch nicht über die Renaissance der Erdteilallegorien im Zuge der Weltausstellungen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Überhaupt betrachte ich hier die Erdteilallegorien im Wesentlichen nur unter dem Aspekt, ob sie weiblich oder männlich sind, und klammere anderes aus.
[16] Im Untersuchungsgebiet treten die vier Erdteilallegorien erstmals 1583 in Schloss Velthurns in Südtirol auf, bis 1791 bleiben sie gebräuchlich. Spätere Einzelbeispiele aus dem 19. Jahrhundert (Südtirol Albeins 1858) gibt es. Die Vorstellung, dass es sich bei Erdteilallegorien um vier weibliche Personifikationen handele, die sich seit ca. 1600 im Zweifelsfall nach Cesare Ripas „Iconologia“ richten, wird schnell falsifiziert. Erdteile konnten auch männlich sein, es finden sich unterschiedliche Kombinationen aus weiblichen und männlichen Allegorien, manchmal wurden Paare gemalt.
[17] Ich habe in der Datenbank für die Zwecke der vorliegenden Überlegungen zwei zeitliche Stichproben gemacht: 1650-1690 sowie 1750 bis 1780. Da der erste Zeitraum nur 12 Vorkommen umfasst, wurde alles ausgewertet, für den zweiten Zeitraum wurden 1750, 1760, 1770 und 1780 als Stichjahre angeschaut, zusammen 31 Vorkommen.
[18] In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird in einem Drittel der Fälle mit 4 weiblichen Allegorien gearbeitet, in einem Viertel der Fälle mit 4 männlichen, in 2 Fällen ist Asien männlich, in einem Fall nur Europa, und zweimal sind Paare dargestellt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machen die 4 weiblichen Allegorien 45% aus, die 4 männlichen 13%, in einem Viertel der Vorkommen ist Asien männlich, meistens ein Türke mit Turban. Es kommt vor, dass nur Europa männlich oder nur Europa weiblich ist. Wenn Europa männlich ist, handelt es sich mehrheitlich um Anspielungen auf den Kaiser des Hl. Römischen Reiches, allerdings ist die Identifizierung Asiens mit dem Osmanischen Reich mittels der männlichen Personifikation ungleich häufiger.
[19] Ein bestimmtes Muster, wann die Erdteile weiblich oder männlich sind, hat sich bisher nicht eruieren lassen. Vorbehaltlich einer kompletten Auszählung aller über 400 Vorkommen, die in die Datenbank aufgenommen wurden, lässt sich ebenso wenig eine eindeutige Entwicklung zwischen dem späteren 17. und späteren 18. Jahrhundert diagnostizieren: Die männliche Form ist in beiden Zeitabschnitten möglich gewesen und wurde verwendet.
[20] Im Falle von Afrika und Amerika ist es teilweise schwierig zu entscheiden, ob die Figuren männlich oder weiblich sind. Zufall oder Absicht? Teilweise trägt Amerika eine dunklere Hautfarbe als Afrika, es scheint, als hätten sich die Maler im späteren 18. Jahrhundert am Bild der amerikanischen Sklavinnen oder Sklaven orientiert.
[21] Zunächst bedeuten diese Befunde, dass das Geschlecht der Erdteile nicht festgelegt ist. Sofern die Maler Platz hatten, konnten sie ihre Allegorien in mehr oder weniger umfassende Szenen einbetten, sodass aus den Erdteilallegorien Zivilisationsallegorien wurden, die in einigen Fällen sogar Zivilisationsgeschichte erzählen. Idealtypisch lässt sich dies in der Würzburger Residenz anhand der Fresken von Tiepolo von 1752/53 an der über 600m2 großen Decke des Stiegenhauses nachvollziehen. Diese Geschichte reicht von der Entdeckung des Feuers als Beginn von Zivilisation bis zu deren Vollendung oder jedenfalls höchsten Stufe in Europa. Die konkreten Errungenschaften der Zivilisation werden durch männliche Figuren oder Schöpfungen dargestellt, die, wie z. B. die Architektur, mit Männerberufen zu identifizieren sind. Teilweise werden sie durch weitere Allegorien – die Musik, die Kunst, etc. – ergänzt.
[22] Im Großen und Ganzen gilt das bekannte Schema, dass die weibliche Form das allgemeine In-der-Welt-Sein eines Phänomens bezeichnet, während die konkreten Taten durch die männliche Form ausgedrückt werden.
[23] Im Kernraum des Barock entfällt die Mehrzahl der Vorkommen auf öffentlich zugänglich gewesene Kirchen, unter denen Dorfkirchen die Mehrzahl ausmachen. Am ehesten dort also erhielten der ‚gemeine Mann‘ und die ‚gemeine Frau‘ ein Bild von der Welt vor die Nase gesetzt. Allzu kompliziert durften die Aussagen vermutlich nicht sein, und außerhalb der Gelehrtenrepublik der Aufklärung, in der eine Theorie der Geschlechtsidentitäten entwickelt wurde, die mit Kultur und Natur verwoben wurde, dürfte die Frage, ob Zivilisation ein bestimmtes Geschlecht habe, wenig Aufmerksamkeit beansprucht haben.
[24] Wenn die Darstellung Asiens mittels der Figur „des Türken“ recht beliebt war, erklärt sich das am ehesten dadurch, dass man auch auf dem Dorf mit dieser stereotypen Figur etwas verband, selbst wenn „der Türke“ oder das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts längst nicht mehr nur der Feind und Heide, sondern Handelspartner und Kulturträger war. Diese Darstellungsweise, bei der nur Asien männlich, die drei anderen Erdteile aber weiblich waren, besagte folglich nicht, dass dem Osmanischen Reich als pars pro toto Asiae das Kultur- oder Zivilisationssein abgesprochen wurde.
[25] Wenn nur die Asienallegorie männlich ist, könnte man auch schlussfolgern, dass „der Türke“ den schlechthin „Anderen“ repräsentiert, allerdings sind die Allegorien in den meisten Fällen religiös-christlich vereinnahmt und z. B. in der Verehrung Mariens, Jesu oder der hl. Eucharistie harmonisch vereint – auch der Türke oder die Türkin mit dem Halbmond als Attribut auf dem Turban. Hier deutet sich die Verengung des Zivilisationsbegriffs auf die christliche Zivilisation an, demzufolge im Prinzip nur die christliche Zivilisation eine Zivilisation ist.
[26] Hier ist nun ein kurzer quellenkritischer Einschub erforderlich: Die Befunde beziehen sich auf einen bestimmten, überwiegend katholischen Raum, der zudem Teil des Hl. Römischen Reiches, aber nicht beispielsweise Frankreichs ist. Die vielen Dorfkirchen mit Erdteilallegorien sind ein Spezifikum nur dieses Raums. Kann daher der Befund zur männlichen Form in irgendeiner Weise repräsentativ sein für einen größeren Raum oder ganz Europa oder nicht? Die Untersuchungen zu Polen [Projektsammelband>Inhaltsverzeichnis] haben ergeben, dass dort ebenfalls männliche Erdteilallegorien Verwendung fanden. Erdteilallegorien finden sich in den meisten west- und mitteleuropäischen Ländern inklusive England und Dänemark, jedoch wesentlich weniger häufig als im Untersuchungsgebiet unseres Forschungsprojekts. Da es außerhalb unseres Projekts keine systematische vollständige Erhebung des Vorkommens von Erdteilallegorien gibt, können im Moment keine repräsentativen Aussagen getroffen, sondern nur Fragen aufgeworfen und Denkanstöße gegeben werden.
III Europa allegorisch, Europa zivilisatorisch
[27] Legt man die Erdteilallegorien als eine durchaus auch populäre Bildsprache, jedenfalls im „globalen Süden“ des Hl. Römischen Reiches, zugrunde, wird deutlich, dass die zeitgleich in der Aufklärung fabrizierte geschlechtsidentitätsbestimmende Paarbildung von ‚Frau und Natur‘ sowie von ‚Mann und Kultur‘, vorerst kein populäres Phänomen darstellte, das ohnehin erst nach und nach und vor allem nach 1800 die soziale Praxis breiter bestimmen konnte.
[28] Diese Geschlechtertheorie der Aufklärung ist gut erforscht. Es sei nochmals betont, dass es in deren Anfangsphase noch nicht um die soziale Praxis geht, die kommt später, aber sie kommt. Die Theorie definierte zwei Geschlechtsidentitäten in einer rigiden Form, die der Frühen Neuzeit so nicht bekannt war, sicher auch, weil ausgesprochene Identitäten, die mit dem einzelnen Menschen und zudem mit seinem Geschlecht zusammenhingen, zunehmend erst im Lauf des 18. Jahrhunderts definiert wurden. Ich erinnere an die Identifizierung des Homosexuellen durch die Pariser Polizei, die Angela Taeger untersucht hat, oder an die Aufstellung von normierten Identifizierungsmerkmalen für das aufsteigende Passwesen – kurz, die Übernahme der Kontrolle über die informationelle Selbstbestimmung durch Behörden und den Staat [Schmale/Tinnefeld, Kapitel 2]. Insoweit ist der variable Umgang mit der männlichen und weiblichen Form bei den Erdteilallegorien noch gut frühneuzeitlich und eben noch nicht aufklärerisch. Und er besagt, dass Europas Geschlecht nicht eindeutig festgelegt wurde. Ebenso wenig das der anderen Kontinente. Es kam auf den jeweiligen Aussagezusammenhang und lokale Konstellationen an.
[29] Am deutlichsten zeigt sich das, wenn man von der im Umfeld des Hauses Österreich propagandistisch gepflegten Ineinssetzung von Christlicher Republik, deren Haupt der Kaiser ist, und Europa ausgeht. 1537 hatte Johannes Putsch die Konturen des Kontinents in die weibliche Form eingepasst und der so entstandenen Europa die Bügelkrone aufgesetzt. Diese Europa prima pars terrae, wie sie später genannt wurde, hat zweifellos die späteren Europaallegorien geprägt, die die Europa zumeist als vornehmste Herrscherin der Erde zeigen, der die anderen drei Erdteilherrscherinnen huldigen – sofern nicht alle vier Maria oder sonst wem huldigen. Die männlich-kaiserliche Europafigur nimmt, wenn sie vom Maler gewählt wird, diesen Platz ein, die propagandistische Grundbotschaft – Christliche Republik unter Kaiser aus dem Haus Österreich = Europa – bleibt unverändert. Weibliche und männliche Form scheinen durchaus austauschbar zu sein.
[30] In der Aufklärung verschieben sich jedoch die Prioritäten, diese sieht in Europa, von einigen abweichenden Stimmen abgesehen (Voltaire), vor allem die am weitesten entwickelte Zivilisation oder auch Kultur auf der Erde. Und diese Zivilisation, als die Europa identifiziert wird, hat ein Geschlecht. Die unterstellte hohe Entwicklungsstufe der europäischen Zivilisation hängt mit der Unterstellung klarer Geschlechtsidentitäten zusammen. Einerseits wurden dabei männlicher und weiblicher Körper sehr viel entschiedener als in der Frühen Neuzeit voneinander unterschieden, es wurden zwei Körperwelten konstruiert. Andererseits wurden aus der Verschiedenheit der Körperwelten ziemlich strikt voneinander getrennte sozio-kulturelle Geschlechtsidentitäten abgeleitet.
[31] Das heißt nicht, dass die soziale Praxis dem sofort folgte, dies war ein längerer und niemals vollständig erfolgreicher Prozess vorwiegend im 19. Jahrhundert.
[32] Es fällt auf, dass Erdteilallegorien ab dem Zeitalter der Französischen Revolution rapide seltener werden. Während in unserem Untersuchungsgebiet zwischen 1700 und 1775 rund 300 Vorkommen festzustellen sind, sind es zwischen 1775 und 1850 nur mehr knapp 50, wovon lediglich 3 auf die 50 Jahre von 1800 bis 1850 entfallen bzw. nur 12 auf den Zeitabschnitt 1790 bis 1850. Dementgegen schwillt die Zivilisations- oder Menschheitsgeschichte als Literaturgattung an, wo der beinahe exklusive Zusammenhang von Mann und Kultur ausgewalzt wird.
[33] Für Allegorien gilt, dass „sie immer auch Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit mittransport(ieren)“ [Zitat LIT 2]. Wegen der „verbreiteten Assoziierung von Weiblichkeit und Natur aber kann man davon ausgehen, daß die Repräsentation von Kunst-, Staats- oder Gemeinschaftsidealen durch vorwiegend weibliche Körperbilder der Naturalisierung der jeweiligen Konstruktionen dient, sie also als natur- oder gottgegeben legitimiert.“ [Zitat LIT 2]. Zu ergänzen ist das um „Orts-, Raum- und Zeitideale“ [Zitat LIT 2]. Das gilt auch, wenn man es umdreht: Wenn eine Allegorie wie die Erdteilallegorie seltener wird, kann dies damit zu tun haben, dass in der Anschauung der Zeit Zivilisation oder Kultur eben nicht mehr als natur- oder gottgegeben verstanden werden kann, sondern als Ergebnis kulturellen Handelns, und zwar männlichen kulturellen Handelns.
IV Die Identifizierung Europas im 18. Jahrhundert als Zivilisation
[34] Die Identifizierung Europas im 18. Jahrhundert als Zivilisation bzw. sogar als die Zivilisation, die nicht nur, aber nachdrücklich durch die Literaturgattung der Zivilisations- und Menschheitsgeschichte gestützt wird, erweist sich als ungleich wirkungsvoller und nachhaltiger als frühere Identifikationen. Erst in jüngster Zeit scheint sich die Identifizierung Europas als Europäische Union über die als Zivilisation zu schieben bzw. diese ältere zu absorbieren. Aber es handelt sich nicht um einen abgeschlossenen Prozess. Das zunehmende Engagement der EU im Bereich des kulturellen Erbes wie auch allerlei Abschottungstendenzen durch die Mitgliedsstaaten, die kulturell begründet werden, könnte einer Renaissance der Identifizierung Europas vor allem als Zivilisation oder Kultur Vorschub leisten. Ohnehin nennen die meisten Europäer*innen laut Eurobarometer „Kultur“ als erstes, was Europa zusammenhält [Eurobarometer, S. 6].
[35] Die Verschiebung der Perspektive im 18. Jahrhundert auf Europa als Zivilisation oder Kultur beinhaltete eine allmähliche Abkehr von der Identifizierung Europas als Körper, die der Bezeichnung und Visualisierung Europas als Christliche Republik zugrunde lag. Solange dies die Identifizierungsmethode war, konnte Europa als „Braut der Fürsten“ [LIT 3] mit europäischen Herrschaftsambitionen in Szene gesetzt werden, das heißt als eroberbare Europa, ganz so wie Amerika eine eroberbare Frau war. Ein solches Denkschema hat aber im neuen Kultur- oder Zivilisationskonzept der Aufklärung keinen Platz mehr, sondern da geht es um die Frage nach den kulturellen Akteuren: Wer schafft Kultur, wer trägt sie, was sind die zivilisatorischen Resultate?
[36] Wenn man sich fragt, ob es in der Bildsprache eine Allegorie der Zivilisation an und für sich gab, das heißt jenseits der konkreten vier Erdteilallegorien, gestaltet sich die Suche schwierig. Eine antike Vorlage gab es nicht. Das Wort „Zivilisation“ bzw. „civilisation“ (Französisch oder Englisch) wurde erst in der frühen Neuzeit entwickelt, lange Zeit bezeichnete es nichts, was zum allgemeinen Wissenskanon gehört hätte, schon gar nicht zum alltagssprachlichen. Im noch heute gültigen Sinn stehen diese Begriffe nach Jörg Fisch [LIT 4] erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Verfügung.
[37] Wenn es richtig ist, dass die unterstellte Geschlechtsidentität von „Mann“ mit der unterstellten hohen Entwicklungsstufe der europäischen Zivilisation verknüpft wurde, scheint es naheliegend zu fragen, ob abstrakt Zivilisation bildlich darstellbar war, und wenn ja, wie dies aussah?
[38] Am bekanntesten ist ein Gemälde von Jacques Réattu mit dem Titel „Triumph der Zivilisation“ von 1793/95 (Hamburger Kunsthalle). In Réattus Gemälde steht Herkules im Mittelpunkt, zu seiner Rechten sitzt die Personifikation der Einigkeit, die laut Eintrag der Hamburger Kunsthalle nach Réattus eigenen Angaben zugleich die „civilisation“ darstellen soll. Gegenüber stehen vier Allegorien, die die wichtigsten Städte Frankreichs bedeuten, sozusagen eine kollektive Allegorie Frankreichs, dessen Name Chronos auf eine Tafel schreibt, wo schon Athen und Rom stehen. In der Revolutionskunst fungierte Herkules zeitweise als Personifikation des Volks (und nicht mehr des Herrschers wie vor der Revolution). In Réattus Gemälde klingt eine Ineinssetzung von Zivilisation und Frankreich an.
[39] Im 18. Jahrhundert erfüllt am ehesten Apoll die Funktion einer Zivilisationsallegorie wie in der Würzburger fürstbischöflichen Residenz 1752/53 oder in Pommersfelden 1717/18 in Schloss Weißenfels. 1838/44 malte Eugène Delacroix ein Gemälde, das im Deutschen als „Orpheus bringt die Zivilisation nach Griechenland“ betitelt wird, dessen Originalunterschrift im Palais Bourbon in Paris aber lautet: „Orphée vient policer les Grecs encore sauvages et leur enseigner les Arts de la Paix“. „Policer“ lehnt sich an die anfängliche Bedeutung des im frühneuzeitlichen Französisch gebildeten Verbs „civiliser“ an, aber eine Allegorie der Zivilisation kommt nicht vor, vielmehr ist Orpheus die zentrale Figur – als geradezu wörtlicher Kulturträger.
[40] Wenn es um abstrakt „Zivilisation“ ging, dann wurden offensichtlich männliche mythologische Figuren herangezogen, um Zivilisation an und für sich auszuweisen.
V Sprechakte, die die Zivilisation Europa männlich machen
[41] Das Geschlecht der Zivilisation Europa wurde, im Ergebnis, als männlich bestimmt. Nicht, dass das so wörtlich in einer Schrift der Aufklärung gesagt worden wäre – um nunmehr die Quellengattung zu wechseln. Es bedarf hier eines Indizienbeweises.
[42] Ein Sprechakt entwickelte sich über den Begriff des Europäers bzw. des homo europaeus. 1735 etablierte Carl von Linné mit der Tabelle „Systema Naturae“ die Ordnung der Natur inklusive des Menschen nach männlichem und weiblichem Geschlecht. Aus der ursprünglichen Tabelle wurde in den Folgeauflagen eine immer umfangreichere Schrift, die dadurch entfachte Debatte im 18. Jahrhundert war heftig und kontrovers. Linné benutzte auch den Begriff des „homo europaeus“. Er ordnete die Menschheit nach Kontinentgruppen: homo europaeus, homo asiaticus, homo afer oder africanus, homo americanus. Homo bedeutet für Linné zweifellos „Mensch“ und nicht exklusiv „Mann“. „In der weiteren Verwendung der Bezeichnung homo europaeus in verschiedenen Sprachen erschließt sich jedoch aus den Kontexten, dass üblicherweise „der Europäer“ im Sinne von „Mann“ gemeint ist. Das schließt fallweise einen weiblichen Bezug überhaupt nicht aus. Dieser männliche Europäer ist im Prinzip christlich, weiß und heterosexuell. Die beiden letzten Eigenschaften bezeichnen die Schnittstellen zwischen der Rassenlehre der Anthropologie der Aufklärung und dem Rassismus des 19. Jahrhunderts, welcher das Christsein einbezieht, während die Aufklärung in Bezug auf die Religiosität des Europäers mehr Unbestimmtheit zuließ.
[43] Das heißt, die Geschlechterordnung der Aufklärung mit ihren Annahmen über spezifische Rollen für Männer und Frauen, die sich aus ihrem Geschlecht deduzieren ließen, fand sich auch in der Idee des kulturschaffenden europäischen Mannes wieder und beschränkte sich keinesfalls auf die Implementierung der bürgerlichen Gesellschaft, die meistens genannt wird, wenn es darum geht, die Geschlechterordnung der Aufklärung in der Praxis aufzusuchen.“ [Zitat LIT 1]
[44] Ein anderer Sprechakt entwickelte sich über den Begriff des „großen Mannes“, des „grand homme“ [LIT 5], der zum „Großen Mann der Geschichte“, dem Geschichte machenden Mann wird. Da jede Zivilisation, also auch die europäische, eine bzw. ihre Geschichte, ihre geschichtliche Entwicklung hat, positioniert sich der Große Mann, der Geschichte macht, an einer Schlüsselstelle.
[45] Der Geschichte machende Mann kommt so oder ähnlich wörtlich in den Menschheits- und Zivilisationsgeschichten der Aufklärung vor. Mehr Interpretationsaufwand, wer denn wirklich gemeint ist, erfordert der ebenso gerne verwendete allgemeine Begriff „Mensch“. Geht es wirklich um den Menschen oder doch nur um Mann, und sei es als „Form des Menschlichen“? Hatte Olympe de Gouges mit ihrer Kritik der « Déclaration des droits de l’homme et du citoyen » von 1789, dass diese eine reine Männerrechts-, aber keine Menschenrechtserklärung sei, nicht etwas weit über Frankreich hinaus Zutreffendes ausgesprochen, nämlich dass „Mensch“ oder „homme“ oder „man“ schlicht „Mann“ bedeutete?
[46] Isaac Iselin beginnt seine „Geschichte der Menschheit“ [1763, überarb. und benutzte Auflage 1770, Bd. 1] mit schönen Ausführungen zum Menschen: „Der einzige Gegenstand der Sittenlehre und der Gesetzgebung ist der Mensch. (…) Es erfordert eine sorgfältige Anbauung des Gemüthes, (…), einen Menschen fähig zu machen, auf der ihm von der Weisheit vorgezeichneten Bahn unverrückt vorzugehen.“ [S. 5, Schreiben an die Menschenfreundliche Gesellschaft der Schweiz]. Ist dies allgemein gemeint oder steckt nicht das Vorurteil darin, dass der Mensch, der „auf der ihm von der Weisheit vorgezeichneten Bahn unverrückt vorgeht“, eigentlich nur ein Mann sein kann? Es ist im weiteren Zusammenhang dann von Bürger, Philosoph, Geschichtsschreiber, großen Männern (gemeint sind Philosophen und Geschichtsschreiber), Mitbrüdern, Freunden die Rede, er richtet sich an „erleuchtete Männer“ [S. 12]. Der Begriff der Weisheit wird von Iselin definiert: „Wenn hingegen große Fähigkeiten, wenn eine ausgebreitete Erfahrung, eine reiche Einbildungskraft, ein erleuchteter Verstand, eine männliche Vernunft [Hervorhebung W.S.], ein grosser Geist zugleich mit den Vortheilen der Richtigkeit begleitet sind; wenn der gesunde Verstand durch ein ganzes weitläufiges Gebäude von Erkenntnissen sich verbreitet; so entstehet darin die Weisheit, das wahre Erhabene, die wahre Vollkommenheit des Geistes.“ [S. 33]
[47] An sich ist es müßig, dies hier auszubreiten, weil sich Iselin mit jedem weiteren Satz in der Einleitung selber überführt und weil der Befund, dass Mensch im Zusammenhang von Geschichte und Kultur oder Zivilisation Mann bedeutet, oft schon erstellt und genauso oft bestätigt wurde. Iselin dient mir hier nur zur Illustration eines verbreiteten sprachlichen Habitus‘.
[48] Man kann Christoph Meiners lesen, seinen „Grundriß der Geschichte der Menschheit“ von 1785, der Iselin in der Vorrede besonders lobend erwähnt und zugleich Henry Holmes (Lord Kames) „Sketches of the History of Man“ von 1778 verdammt. Montesquieu wiederum kommt gut weg.
[49] Meiners erwähnt mitunter ausdrücklich Frauen, „Weiber“ schreibt er, als Tauschware oder als Frauen der Männer eines Volksstammes oder als deren Besitz oder als zu kaufende Bräute. Gehäuft geschieht dies, wenn es um Körperputz geht. Immerhin gibt es bei Meiners ein eigenes, jedoch sehr kurzes Kapitel zu Frauen, Kapitel 7, „Über den Zustand des weiblichen Geschlechts, und über die Erziehung verschiedener Völker“. Das Kapitel besteht aus 2 kurzen Paragraphen, §1 geht über drei Seiten und widmet sich Frauen. Diese werden bei diesen oder jenen Völkern entweder wie Sklavinnen gehalten, oder sie „tyrannisieren“ unter Umständen, und derlei mehr, sie sind entweder Objekte oder willkürliche Akteurinnen. Männer erlauben den oder ihren „Weibern“ etwas, schließen sie ein oder auch nicht, usw. usw. Mit der Entwicklung von Kultur, wie bei den Männern, hat das nichts zu tun. Manche würden sogar Königinnen, aber nichts deutet bei Meiners auf eine positive Bewertung dieses Umstands hin. Regelmäßig setzt Meiners Hinweise auf „große Männer“, womit er in erster Linie Männer wie sich selbst, also Gelehrte meint, die diejenigen sind, die die Geschichte der Menschheit insgesamt oder in Teilen erforschen.
[50] Wie gesagt, es ist eigentlich müßig, das detailliert aufzuführen. Die Begriffe, die im Zusammenhang mit Frauen eingesetzt werden, gehören einer anderen Begriffs- und Vorstellungswelt an als jene, die das Allgemeine des Menschen und der Menschheit bzw. immer wieder konkret von Männern ausdrücken.
[51] Nicht zufällig wird ab dem späten 18. Jahrhundert parallel zum, aber auch in enger Anbindung an das zunächst in Frankreich entwickelte Konzept des Grand homme der öffentliche Raum mit immer mehr Denkmälern für alle möglichen als „grand“ angesehenen Männer bestückt. Das revolutionäre Panthéon in Paris ist gewiss das umfassendste Zeugnis hierfür, aber repräsentativ für die Umsetzung des Konzepts in der Öffentlichkeit in großen Teilen Europas. Diese Vermännlichung des öffentlichen Raums, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg so gut wie keinen Platz für Frauendenkmäler ließ, visualisierte, was in der einschlägigen Buchproduktion als Menschheits- und Zivilisationsgeschichte angeboten wurde. Die Errichtung von Denkmälern großer Männer lässt sich als Kulturmuster deuten, in das der performative Sprechakt eingelagert und durch eine szenische Performativität die Sinne ansprechend zum Ausdruck gebracht wird.
VI Ein paar kurze Schlussgedanken
[52] Performative Sprechakte werden durch Reiterativität, Zitativität und Ritualität charakterisiert. Die Verbalisierung der männlichen Identität der Zivilisation Europas funktioniert wie ein solcher Sprechakt. Im Prinzip ist in der Vorstellung der Aufklärung jede Zivilisation männlich, aber die wahre Zivilisation ist die europäische. Das bedeutet, dass das verbalisierte „Mannsein“ der Kultur oder Zivilisation Europa den Eurozentrismus begründet, in Europa wird der Blick auf Europa zentriert, der Rest der Welt ist nicht mehr als zivilisatorische Peripherie.
[53] Der Sprechakt wird bis in die 1950er-/1960er-Jahre ununterbrochen wiederholt. Die historischen Darstellungen und Geschichtsbücher quellen davon über, Kultur im weiteren und engeren Sinn ist in der sozio-kulturellen Praxis Männersache. Dementgegen mussten z. B. Künstlerinnen, Dichterinnen, Musikerinnen etc. mit ungleich größerem Energieaufwand um Anerkennung kämpfen, weil sie etwas vermeintlich Unweibliches taten. Diese sozio-kulturellen Praktiken, die bis weit ins 20. Jahrhundert anhielten oder noch anhalten, sind gut erforscht.
[54] „Als rituelle Wiederholungen des Sprechakts lassen sich die vielen intellektuellen Europakongresse, auf denen Europa als Kultur oder Zivilisation eine zentrale Rolle spielte, ansehen ebenso wie (feierliche) Reden oder die Memoirenliteratur. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wird vergleichsweise unmittelbar an die Bestandteile des performativen Sprechakts der Aufklärung angeknüpft. Auffällig ist die Bedeutung der Vorstellung von Modellen des „europäischen Menschen“, der in den Quellen des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre immer ein Mann ist: Odysseus, Herkules, Prometheus, Adam, Noah, David, Christus, Faust – usw.“ [Zitat LIT 1)
[55] Danach setzte eine Phase ein, in der diese Konstruktionen aufgebrochen wurden, das lässt sich ikonisch mit „1968“ ausdrücken. Über die Nachhaltigkeit des Vorgangs lässt sich noch keine Prognose anstellen, denn der europäische Rechtspopulismus bemüht sich nach Kräften und keineswegs erfolglos, die in der Aufklärung erdachte und im 19. Jahrhundert einigermaßen umfassend sozial implementierte Männlichkeit der Kultur Europa wieder zu erzwingen.
Dokumentation:
LIT 1: Wolfgang Schmale: Geschlechtergeschichte Europas – Ein ‚anderer‘ Blick auf die Geschichte Europas, in: Historische Mitteilungen der Ranke Gesellschaft 28 (2016), S. 145-161
LIT 2: Schade, Sigrid; Wagner, Monika; Weigel, Sigrid (Hg.) (1995): Allegorien und Geschlechterdifferenz. Köln ((Literatur, Kultur, Geschlecht; 3). Zitate in ihrer Reihenfolge: S. 2, S. 3.
LIT 3: Wolfgang Schmale: Europa, Braut der Fürsten: Die politische Relevanz des Europamythos im 17. Jahrhundert, in: Bußmann, Klaus/Werner, Elke Anna (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, 241-267, Stuttgart 2004
LIT 4: Jörg Fisch, Artikel „Zivilisation Kultur“ in Artikel „Zivilisation, Kultur“ in „Geschichtliche Grundbegriffe“
LIT 5: Bonnet, Jean-Claude (1998): Naissance du Panthéon. Essai sur le culte des grands hommes. Paris: Fayard.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa – die männliche Form. Ein geschlechtergeschichtlicher Blick auf die Identifizierung Europas im 18. Jahrhundert als Zivilisation. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-die-maennliche-form, Eintrag 09.05.2018 [Absatz Nr.].