Europatagebuch Rom Juni 2015
[1] In der Dämmerung des 4. Juni 2015 verteilt sich der wohlklingende sonore Ton der Glocken von Santa Maria Maggiore auf dem Platz vor der Basilika unter der wartenden Menschenmenge. Die Dämmerung ist hereingebrochen, die Ankunft der Fronleichnamsprozession, die nach dem Gottesdienst vor der Laterankirche beginnt, steht unmittelbar bevor. Gleich würde der Wagen mit der Monstranz sichtbar werden, mit der der Bischof von Rom (Papst Franziskus) die Versammelten segnen würde. Die Spitze der Prozession erreicht den Platz und zieht vor die Stufen der Kirche. Schnell füllt sich der Raum, eiligen Schrittes kommen Geistliche, Ordensangehörige und Laien heran. Die Monstranz trifft auf dem Wagen mit Baldachin ein, wird zum Altar, der im Freien vor dem Eingang zu Santa Maria Maggiore errichtet wurde, getragen. Franziskus segnet die Menschen, danach setzt er die Mütze des Bischofs von Rom auf, spontaner Beifall wird gespendet.
[2] Der Fronleichnamstag ist in Rom kein allgemeiner Feiertag, sondern nur ein kirchlicher und daher ein normaler Werktag. Deshalb finden die Zeremonien und die Prozession am Abend statt. Niemand würde auf die Idee kommen, daran Anstoß zu nehmen, dass rund um Santa Maria Maggiore die Straßen gesperrt werden. In Rom, der im historischen Sinn europäischsten aller europäischen Städte, ist Europa immer noch ein christliches Europa, allerdings gilt dies wohl nur noch für Rom. Auch wenn die katholische Kirche keine europäische, sondern eine Weltkirche ist, die sich unschwer an Fronleichnam vor Santa Maria Maggiore wiederfinden lässt, überwiegt im römischen Stadtbild die europäische Geschichte des (katholischen) Christentums. Im wahrsten Wortsinn getragen wird dies von den mehr als einer halben Million christlicher Gräber in den diversen Katakomben.
[3] An vielen Stellen in Rom sind die Zeit- und Kulturschichten von der römischen Antike bis heute gleichzeitig sichtbar – oder man steigt in den Untergrund und arbeitet sich nach oben durch. San Nicola in Carcere steht über drei römischen Tempeln (Janus, Juno Sospita, Dea Speranza), die Kirche Santi Giovanni e Paolo wurde über zwei römischen Häusern (Case Romane del Celio) gebaut. In beiden Fällen, die als pars pro toto zu verstehen sind, wird im Untergrund sichtbar, wie die Kirche aus dem antiken Vorgängerbau herauswächst. Es ist wie ein Sinnbild auf die Transformation der römischen Zivilisation durch die christlich-antike, dann christlich-mittelalterliche Zivilisation.
[4] Edward Gibbon bewies in seiner umfassenden Abhandlung „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ (London 1776-1788) viel Sensibilität für diese Transformation, die aus Sicht der römischen Geschichte als „decline“, als Niedergang, aus Sicht der europäischen Geschichte als Transformation zu etwas Neuem gesehen wird. San Clemente erwächst aus einer Stätte des Mithraskultes und erinnert auf diese Weise daran, dass nicht nur die kirchlichen Bauten aus den römischen Kult- und Tempelstätten erwachsen, sondern auch das Christentum einiges aus diesen Kulten, speziell dem Mithraskult, übernommen hat. Hierin zeigt sich einer von vielen Entwicklungssträngen, an denen sich die männliche Hegemonialisierung der Gesellschaft ablesen lässt und auf die Christina von Braun in ihrem Buch „Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht“ (Zürich 2001) eingeht.
[5] Auf dem Weg vom Petersdom zur Piazza del Popolo, längs des Tiber, gelangt man zum Museo dell’Ara Pacis, der Ara Pacis des Augustus, das derzeit im Untergeschoss eine Ausstellung zum Stadtviertel E.U.R./Europa zeigt. Das Viertel meint ein ganz anderes Europa: Ein Viertel, das 1965 zusätzlich die Bezeichnung „Europa“ erhielt, erweckt Interesse, da es in den europäischen Städten eher selten ganze, auf den Namen „Europa“ getaufte, Stadtviertel gibt. Das „Quartier de l’Europe“ in Paris, das in den 1820ern begonnen wurde und noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen bis heute bestehen gebliebenen Namen erhielt, wäre ein solches weiteres Beispiel.
[6] Das römische Europaviertel wurde in den 1930ern unter Mussolini als „E42“ konzipiert. Die Abkürzung verwies auf die geplante Weltausstellung, mit der 1942 das zwanzigjährige „Jubiläum“ des „Marsches auf Rom“ begangen werden sollte: Esposizione Universale di Roma – E.U.R. Diese wurde kriegsbedingt abgesagt, die Bauarbeiten wurden 1943 eingestellt.
[7] Was zunächst blieb, war eine Reihe von Gebäuden, die nach einem Architekturwettbewerb 1937 beschlossen worden waren. Unter diesen Gebäuden sticht der „Palazzo della Civiltà Italiana“ hervor. Er liegt wie der ebenfalls neu gebaute Dom Santi Pietro e Paolo auf der Hügelkante und ist an vielen Stellen vom alten Rom aus zu sehen. Erwartungsgemäß macht diese Vorzeigearchitektur des italienischen Faschismus viele Anleihen bei der antiken römischen Architektur, verkürzt diese aber auf ihre Grundformen, auf gerade, oder schnörkellos, gebogene Linien.
[8] Dem ganzen Plan wurde ein imperialer Gestus unterlegt, der aber nie über den Planungsstatus hinauskam. Die Gebäude selber sind gut proportioniert und für sich wenig imperial, Zutaten wie ein riesiges Tor und ein gewaltiger Betonbogen zur Weltausstellung wurden nicht realisiert. Die Mehrzahl der Bauten heute stammt aus den 1950ern, 1960ern und 1970ern Jahren, bis heute wird das Viertel weiter bebaut. Die früheren Platz- und Straßennamen, die auf die Reichsidee Mussolinis Bezug nahmen, sind längst ersetzt.
[9] Mit „Europa“ hatte dieses völlig neue Viertel wenig zu tun: Es sollte die italienische Kultur verkörpern und bezog sich ansonsten auf „die Welt“ als Resonanzraum für Italien und seine Leistungen sowie auf den italienischen Kolonialismus. Nach dem Krieg nutzten Fellini und andere Regisseure die Kulisse für einige Filme. Der erwähnte Palazzo erinnert, wie oft hervorgehoben wird, an Bauten wie in de Chiricos Bildern.
[10] Wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde unter der Regierung des für die europäische Integration vehement eintretenden Alcide de Gasperi, der zu den „Vätern Europas“ gezählt wird, beschlossen, die unvollendeten Gebäude fertig zu stellen und das Viertel zu entwickeln. Aus der Abkürzung E.U.R. wurde leicht EUR, zweifellos eine Brücke zu „EURopa“. 1953 wurde hier die internationale Landwirtschaftsmesse veranstaltet, 1954 der Weltradiologenkongress, 1960 Olympische Spiele. Spätere Regierungen, darunter Berlusconi, nutzten die vielfältigen Raummöglichkeiten, mehrere Ministerien erhielten neue Hochhäuser. Die Democrazia Cristiana ließ sich ihren Sitz im Viertel erbauen. Daneben wurde EUR zu einem Wohn- und Residenzviertel entwickelt.
[11] 1965 wurde der Zuname „Europa“ beschlossen, doch spiegelt sich dieser Name fast ausschließlich in der Namensgebung für Plätze und Straßen wider. Die lange und flach angelegte Freitreppe hinauf zum Dom trägt den Namen „Viale Europa“ – und so fort. Ähnlich verhält es sich mit dem Quartier de l’Europe in Paris, wo im wesentlichen Straßennamen oder „Europe“ als Zusatz zum Namen des Geschäfts oder einer Institution auf Europa verweisen. Beide Europaviertel sind nicht wirklich auf Touristen eingestellt, E.U.R. noch weniger als das Quartier de l’Europe. Europa hat kein touristisches Interesse.
[12] Die Europatopografie in Städten zeigt, dass sich Europa am Rand historischer Zentren bzw. in Neubaugebieten findet. Soweit es um Projekte nach 1945 geht, ist dies im Grundsatz als Ausdruck der semantischen Verbindung von „Europa“ und „Zukunft“ sowie „Innovation“ zu verstehen, aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Teil zum Beispiel der „Europaplätze“, die in den 1950er-Jahren und später auf eine Initiative des Europarates hin in vielen Städten angelegt wurden, (Neuanlagen oder Umbenennungen) städtebaulich ausgesprochen lausig sind. Örtlich wie symbolisch bleibt da Europa eine Marginalie.
[13] In der aktuellen Ausstellung zur Geschichte des EUR im Museo dell’Ara Pacis, das zwischen Tiber und Mausoleum des Augustus liegt, wird der Namenszusatz von 1965 „Europa“ nicht thematisiert. Der Katalog und die Essays gehen ebenso wenig darauf ein. Es handelt sich, so muss man den Eindruck gewinnen, um einen marginalen Aspekt.
Von Ausnahmen abgesehen, ist „Europa“ städtebaulich eine Marginalie, jedenfalls gegenüber den Zeit- und Kulturschichten, die die Kulturgeschichte Europas wie in Rom visualisieren.
Dokumentation:
E.U.R./Europa in Rom: Vidotto, Vittorio (Hg.) (2015): Esposizione universale Roma. Una città nuova dal fascismo agli anni ’60 ; [Museo dell’Ara Pacis, 12 marzo – 14 giugno 2015]. Roma: De Luca Editori d’Arte.
Quartier de l’Europe in Paris: Schmale, Wolfgang (2013): Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien: Böhlau, 192 ff.
Info zu den Bildern: Mit der rechten Maustaste auf das Foto klicken, dann auf „Grafik-Info anzeigen“ klicken.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa ist nur eine Marginalie. Europatagebuch Rom Juni 2015. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-ist-nur-eine-marginalie, Eintrag 09.06.2015 [Absatz Nr.].
Warum keine „schönen“ Fotos? Die im Ausstellungskatalog zur Geschichte des E.U.R. gezeigten Fotos des Palazzo della Civiltà Italiana ebenso wie die Mehrzahl der Fotos im Internet (diverse Wikipedia-Artikel, offizielle Seite der EUR-Betreibergesellschaft, u.a.) lassen sich auf die mit dem Bau verbundenen ursprünglichen Absichten ein. Das habe ich mit Absicht konterkariert, ein lausiges Foto durch die Windschutzscheibe, um Distanz zur architektonischen Idee von 1937 – italienischer Faschismus – zu schaffen. Das zweite Foto des Palazzo stellt aus demselben Grund die parkenden Autos in den Vordergrund und verzichtet darauf, die Umgebung auszublenden und nur das Gebäude zu zeigen.
Ich will damit nicht sagen, dass man nicht über die ästhetischen Ideen der Architekten des Viertels aus den 1930er-Jahren diskutieren könnte, aber als Historiker muss ich zuerst einmal Distanz schaffen.
Derselbe Grundsatz der Konterkarierung erwartbarer ästhetischer fotografischer Perspektiven und der Grundsatz der Distanzierung – beide gelten ebenfalls für die anderen Fotos. Die Zeitschicht der Gegenwart – Teerstraßen, Autos, Motorräder, Ampeln usw. – gehört mit ins Bild, wenn man die Visibilität der kumulierten Zeit- und Kulturschichten wie am Beispiel San Nicola in Carcere ansprechen möchte.