[1] In Großbritannien bittet und hofft man, dass sich Persönlichkeiten aus anderen, nicht nur europäischen Ländern, möglichst wenig in der Brexit-Debatte zu Wort melden. Zum Glück gibt es genug Persönlichkeiten wie zuletzt Christine Lagarde vom IWF, die trotzdem sagen, was ihre Meinung ist. Aber das wird als Einmischung stigmatisiert. Sozusagen darf die ‚Wahrheit‘ nur von Einheimischen, nicht von Ausländern, weil die sich ja nur einmischen, ausgesprochen werden.
[2] Immer von neuem ist festzustellen, dass es keine europäische Öffentlichkeit gibt, denn diese bestünde gerade darin, dass Europadiskussionen in einem Land nicht national sondern eben europäisch geführt werden.
[3] Großbritannien ist freilich in der Hinsicht nicht schlechter als andere europäische Länder, sondern sogar ein wenig besser, wenn man die Situation mit der kommunikativen Abschottung vergleicht, die die PiS-Regierung in Polen betreibt. Trotzdem ist der Gesamtbefund ausgesprochen ernüchternd.
[4] Wurde seit 1945 im Grunde nichts dazu gelernt? Oder war es schon einmal besser und seit einigen Jahren gibt es eine Rückentwicklung? Weder das eine noch das andere trifft zu. Der 1992 geschlossene Vertrag von Maastricht (1993 in Kraft) markiert eine lange Phase der Konvergenz von Interessen, die sich in einer Beitrittsdynamik zwischen 1973 bis 1995 äußerte. Die große Erweiterung von 2004 besaß mehr historisch-emotionale Logik als dass sie auf einer fortdauernden Interessenskonvergenz beruht hätte.
[5] Sie fiel in eine Phase bereits wachsender Divergenzen, die natürlich damit zu tun hatte, dass die Transformation des sozialen, ökonomischen und politischen Systems der sozialistischen Staaten langwierig war, und dass die westlichen Staaten zu spät verstanden haben, dass sie sich auch verändern müssen. Dazu kam die Finanzkrise 2008, also relativ kurz nach der großen EU-Erweiterung, usf.
[6] Seitdem herrscht eine gewisse Orientierungslosigkeit und Sinnkrise der Union, die dazu geführt hat, dass Vereinbarungen wie solidarisches Handeln in der Asyl- und Flüchtlingsthematik aus dem Lissabon-Vertrag faktisch nicht respektiert werden. Die Sinnkrise geht soweit, dass der geltende EU-Vertrag offen verletzt wird.
[7] Eine der derzeitigen Hauptvokabeln im medialen und politischen Diskurs ist „europäische Solidarität“. Der Begriff „Solidarität“ ist im Lissabonner Vertrag sogar häufig genannt, „europäische Solidarität“ besitzt aber überwiegend emotionale Komponenten. Da man die im EU-Vertrag juristisch formulierten Solidaritäten nicht praktizieren mag, verlegt man sich aufs Emotionale.
[8] Dies liegt jedoch bereits in der Begriffsgeschichte von „Solidarität“ in verschiedenen europäischen Sprachen begründet. Zum Bedeutungsfeld von „Solidarität“ zählen viele Begriffe, die nicht lediglich als Synonyme von Kohäsion (als Ergebnis von Solidarität) zu verstehen sind, sondern affektive Bedeutungen mittransportieren. So ist „Brüderlichkeit“ (nicht nur im Französischen, sondern auch im Deutschen, Italienischen und Spanischen) ein geläufiger Begriff, der „Solidarität“ konkretisiert und nicht nur auf das Schlagwort der Französischen Revolution rekurriert, sondern auch Emotionen anspricht, die durch weitere Begriffe wie „Affekt“, „Sympathie“ etc. ausgedrückt werden können.
[9] Gleichwohl wird im ‚nationalen‘ Kontext „Solidarität“ in der Regel sehr konkret eingesetzt. Je nach Epoche geht es um die Solidarität der Arbeiter, des Proletariats, manchmal der ganzen Menschheit, manchmal Europas.
[10] In Bezug auf Europa scheint das Affektive im Wortgebrauch zu überwiegen, was wenig konstruktive Wirkungen in der politischen Praxis verspricht. Hier würde es gut tun, sich präziser an den Vertrag von Lissabon zu halten, der oft genug sagt, was Solidarität konkret für die EU bedeuten soll. Aber nicht einmal die Präambel, in der Solidarität in die Reihe europäischer Fundamentalwerte gestellt ist, wird offenbar ernst genommen.
[11] Es geht bei all dem nicht nur um die europäische und nationale politische Ebene. Heute früh (Pfingstsonntag, 15. Mai 2016) – also nach der Nacht des 61. Eurovision Song Contests – nach den Achtuhrnachrichten, machte die Moderatorin des Senders Ö3 (Österreichischer Rundfunk, Radio Ö3, richtet sich vor allem an Jugendliche und junge Menschen) hämische Bemerkungen über die deutsche Song Contest Mitbewerberin, die auf den letzten Platz gekommen war. Warum hämische Bemerkungen? Abgesehen davon, dass dies wenig vorbildlich ist angesichts der Bedeutung des Senders für junge Menschen, die nicht zu Häme erzogen werden sollten, und dass bei Wettbewerben jeder Art Fairness den SiegerInnen wie den VerliererInnen gegenüber gelten sollte, wusste sich die Moderatorin durch eine Vielzahl ähnlicher verbaler Reibereien (jahrein, jahraus) gestützt. Das ändert nichts daran, und macht die Sache nicht besser, dass es sich im Kern nicht um etwas Lustiges, sondern um nationalistische Häme handelt. Diese darf im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgelebt werden.
[12] Das ist eine Situation von Zigtausenden jede Woche quer durch Europa, trotzdem nicht minder symptomatisch. Wenn schon im Alltag und außerhalb jedes rechtspopulistischen politischen Zusammenhangs nationalistische Häme selbstverständlich ist, wozu sollte es dann so etwas wie „europäische Solidarität“ brauchen?
[13] Hier gäbe es viel zu tun, denn auch bezüglich nationalistisch-hämischer Mentalitäten gilt, dass Europa kaum an den BürgerInnen vorbei gebaut werden kann. „Brüderlichkeit“ gehört zu den historisch ältesten Bedeutungsbeständen von Solidarität. In der Französischen Revolution war „fraternité“ ein Wort, das sich an jeden Einzelnen richtete und ihn aufforderte, sich brüderlich zu verhalten. Dieser Ansatz von vor ungefähr 225 Jahren ist 2016 unverändert aktuell.
Dokumentation:
Vertrag von Lissabon, Amtsblatt der Europäischen Union, C 306, 17. Dezember 2007, open acces: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=OJ:C:2007:306:TOC.
Konferenz zu European Solidarity an der Universität Augsburg, 23.-25. Juni 2016, zum Vormerken: http://www.historyideaofeurope.org/the-bonds-that-unite-historical-perspectives-on-european-solidarity-2/
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Solidarität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-solidaritaet, Eintrag 15.05.2016 [Absatz Nr.].
Hier der korrigierte Link:
http://www.peter-pichler-stahl.at/populaerwissenschaftliche-artikel/die-derzeitige-situation-der-welt-und-europa-im-kontext-der-harten-musik-rust-in-peace/
Danke für den Hinweis!