[1] Der britische Premier wirbt für weniger EU mindestens in Bezug auf das Vereinigte Königreich – er braucht dafür aber die Zustimmung aller anderen Mitgliedsländer, da der EU-Vertrag geändert werden müsste. Er braucht viel EU-europäische Einheit, um anschließend weniger Einheit praktizieren zu können.
[2] Die ungarische Regierung schert wie aktuell in der Flüchtlingsfrage immer wieder aus den gemeinsam vereinbarten Regeln, Prinzipien und europäischem Recht aus, die Regierung versucht es immer wieder, weniger Einheit zu praktizieren.
[3] Die Regierungen anderer Länder lassen erkennen, dass sie weniger EU-Einheit wollen – Dänemark und Finnland – jeweils nach dem Rechtsruck bei den Wahlen.
[4] Die griechische Regierung hingegen versucht es mit der umgekehrten Idee: Es gehe nicht um ein spezifisch griechisches Problem, sondern ein europäisches, für das es eine europäische, also gemeinsame, durch Einheit getragene, Regelung brauche.
[5] Bei aktuellen Problemstellungen wie der Flüchtlingsfrage scheint Einigkeit zu bestehen, dass es zu einer gemeinsame Strategie und Verfahrensweise kommen müsse, aber wie diese auszusehen habe, ist Gegenstand von Streit. Anderes wie die Sanktionen gegen Russland sind hingegen bisher auf einem bestimmten niederen Level allen anderen Uneinigkeiten zum Trotz einig geregelt worden. Und nicht zu vergessen: Es gibt auch so etwas wie einen EU-Alltag, der rund läuft, weil das Prinzip der Einheit, das sich in Einigkeit ausdrückt, funktionstüchtig ist.
[6] Dennoch häufen sich die Warnzeichen, dass das Praktizieren von Einheit immer schwieriger wird. Sollte es zu einem Grexit (aus der Währungsunion) und einem Brexit (aus der EU) kommen, wäre das Leitprinzip der Einheit nachhaltig beschädigt. Ist daher das Prinzip der Einheit so essentiell, dass die Mitglieder der EU gut beraten wären, zum Erhalt auch hohe Preise zu zahlen? Zum Beispiel den einer Veruntiefung der europäischen Integration?
[7] Das würde der Nachkriegsdynamik der europäischen Integration zuwiderlaufen. Wenn es nach Winston Churchill gegangen wäre, so hätte man es nach dem Zweiten Weltkrieg beim Europarat belassen und wäre nicht den Weg einer vertieften institutionellen Integration gegangen. Wäre es nach anderen gegangen, hätte man eine europäische Freihandelszone errichtet – und basta! Der Weg der vertieften Integration wurde aber begangen und er hat sich in der Transformationsphase Europas durch das Revolutionsjahr 1989/1990 in Form der EU-Erweiterung 2004 und folgende bewährt.
[8] Das vorprogrammiert nicht, dass er sich auch 2015/2016 bewährt, aber der Weg kann nicht, gesetzt überhaupt, es gäbe eine sinnvolle andere Option, im Moment verlassen werden.
[9] Es wäre falsch, sich um die Erkenntnis herumzuschwindeln, dass auch in Bezug auf „europäische Einheit“ die Nachkriegszeit zu Ende ist. Philosophisch und ideell konnte die „Idee Europa“ nach 1945 keine andere als eine Idee europäischer Einheit sein. Heute steht wieder stärker Diversität im Fokus, und zwar nicht nur unterhalb der staatlichen Ebene, sondern auch in Bezug auf Staaten, die jedoch zu oft den Fehler begehen, sich als Nationalstaaten zu verstehen. Dies macht europäische Einheit und Diversität mittelfristig zu einer Aporie.
[10] Die weitere Entwicklung der Einheitsidee muss daher darauf zielen, Diversität zu integrieren und nicht darauf, diese zur Aporie zu machen. Dabei zeigt sich ein Versäumnis, das dem Nachkriegsnationalismus zu verdanken ist: Schon die OEEC (Vorgängerin der OECD), die für die Anfänge der europäischen Integration bedeutsam war, obwohl es bei ihr um mehr als nur Europa ging und geht, sollte dem Ziel einer deutlichen Annäherung der nationalen Wirtschaftspolitiken dienen. Das ist bis heute nicht gelungen, ebenso wenig wie eine Sozialunion, sodass die Lebensverhältnisse innerhalb der EU regional und national weit auseinanderklaffen. Der Transfer von Geldern aus diversen EU-Töpfen kann das nicht ausgleichen, es ist und bleibt eine genuin gesellschaftspolitische Problemstellung.
[11] Diese Art von Diversität ist kontraproduktiv, wie es sich in der Griechenlandkrise zeigt. Zugleich zeigt sich, wie sehr die Währungsunion mehr als alles andere in der EU das Prinzip der Einheit als essentiell setzen muss, um zu funktionieren.
[12] Das Prinzip der Einheit hat es an sich, dass es nicht aufteilbar ist. Es gilt oder es gilt nicht. Das heißt, wenn man das Prinzip hochhält, muss man es ganz tun – und in der Währungsunion tatsächlich für einander haften. Der IWF sagt es auf seine Weise: Griechenland braucht einen Schuldenschnitt.
[13] Die Regierungen der anderen Euro-Länder glauben nicht, dass sie das ihren BürgerInnen vermitteln können. Fatalerweise dürfte das stimmen. Eine Änderung wird sich nur einstellen, wenn die BürgerInnen mehr an der EU beteiligt werden. Das ist ein Dauerthema und es ist schwer einzuschätzen, ob nicht der beste Zeitpunkt bereits verpasst ist.
[14] Ich werde versuchen, die Problematik in weiteren Blogeinträgen weiterzudenken, denn sie besteht unabhängig davon, ob diese Woche oder in ein paar Tagen später eine „Einigung“ mit Griechenland erzielt wird oder nicht.
Dokumentation:
Das Titelfoto schickte mir Johanna Braun (Teilnehmerin des Master-Studiengangs Historisch-kulturwissenschaftliche Europaforschung an der Universität Wien). Es zeigt Berat in Albanien, wo die EU-Flagge schon einmal angeschlagen ist und das Ziel einer künftigen EU-Zugehörigkeit ausdrückt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale:. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-union-mehr-oder-weniger-einheit-ein-paar-gedanken-zu-griechenland, Eintrag 24.06.2015 [Absatz Nr.].