Teil I
[1] Im Tal des Flüsschens La Cronce (Département Haute-Loire, 43) schlängelt sich die Départementstraße, die für zwei Autos zu eng ist, über Kilometer dahin. Gelegentlich ein Gebäude oder ein Weiler, praktisch kein Verkehr, eigentlich nur Landschaft. Zugleich (Mitte August 2018) meldeten die französischen Zeitungen einen neuen Touristenrekord für Frankreich: voraussichtlich 90 Millionen Besucher*innen… Davon ist in dem Tal nichts zu merken, es ist wie früher vor 30 und 40 Jahren, als ich öfters durchs Zentralmassiv, die Auvergne, den „wilden“ Cantal kam und im Südwesten Archive besuchte – viele recht einsame Regionen und Abschnitte.
[2] Das Navi hatte diese nette Landstraße für den Weg von Le Puy über die Festung Polignac, über Schloss Chavaniac-Lafayette, Lafayettes Geburtshaus, nach Saint-Flour ausgesucht, nachdem ihm übergeordnete Routen verboten worden waren.
[3] Warum nenne ich diesen Blogeintrag „Frankreich, eine europäische Heimat“? Natürlich ist das sehr subjektiv. Mein erstes halbes Jahr am Stück in Frankreich 1979/1980 hat mich stark geprägt und beeindruckt, es hat mich damals ebenso viel Zeit gekostet, nach der Rückkehr, mich wieder an Deutschland zu gewöhnen. Später habe ich viele Wochen und Monate in verschiedenen Regionen in Archiven geforscht, ein Jahr (1987/88) habe ich an der Universität in Tours an der Loire gearbeitet – Frankreich hat sich also nie auf Paris reduziert, sondern war immer auch die „France profonde“, die zwar nicht mehr dieselbe ist wie damals, aber trotzdem viel über die Jahrzehnte bewahrt und behutsam modernisiert hat.
[4] Ich habe viele Orte, dieses Mal, wieder besucht, die ich zwei, drei oder vier Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte. Ich habe mich wieder wie zu Hause gefühlt; das ist das rein Subjektive. Aber dieses „Zuhause sein“ hat einen dichteren Hintergrund. Es ist nicht nur das kulturelle Erbe Frankreichs, durch das man reist, sondern es ist die europäische Geschichte, es ist die europäische Zivilisation, die unbestreitbar einesteils stark von Frankreich geprägt und andernteils hier verdichtet wurde.
[5] Und schließlich gibt es einen dritten Grund für den Beitragstitel: „Heimat“ kann nicht nur ein Land oder eine einzige lokale Umgebung sein, wie es die aktuellen Identitätsideologen einen glauben machen wollen. Sprachgeschichtlich interessant ist, dass der Plural „Heimaten“ eher ungebräuchlich ist und stattdessen Kombinationen wie „zweite Heimat“, „neue Heimat“, andere Heimat“ verwendet werden. Diese zwingen zu einer Hierarchisierung von Heimaten. Aber es gibt kein Gesetz, das Menschen zu dieser Hierarchisierung zwingen kann. Sie ist entstanden, als es noch kein EU-Europa gab, das die Parallelität von Heimaten ohne Hierarchisierung praktisch ermöglicht. Mir ergeht es so, ich habe Heimaten, die will ich so leben wie ich sie empfinde und wie es Millionen anderer Europäer*innen auch tun.
[6] Der Weg führte zunächst von Wien nach Lyon, nach wie vor gibt es den Direktflug. Dann über Vienne, Le Puy, Saint-Flour, Rodez, Albi, Toulouse, Moissac, Agen, Bordeaux, Sarlat, Rocamadour, Aurillac, Issoire, Saint-Nectaire, Montbrison wieder nach Lyon. Dazwischen viele Stationen wie Cordes-sur-Ciel, dessen Bewohner in der frühen Neuzeit durch die Gewinnung des Pastell-Blaus aus Färberwaid reich geworden waren, die Weinanbaugebiete des Médoc und rund um Saint-Émilion, oder Erinnerungsorte wie Montesquieus Familiensitz La Brède nicht weit von Bordeaux. Die Stadt Auch (Gers) blieb dieses Mal südlich liegen, aber ich habe beste Erinnerungen an die Stadt. Ich hatte dort vor 30 Jahren Recherchen im Départementarchiv zu erledigen und es war dort das erste Mal, dass ich Gelegenheit hatte, bei einer gotischen Kathedrale, also einem ziemlich mächtigen Bauwerk, außen und ganz oben zwischen Dachansatz und Stützstreben herumzugehen.
[7] Unverändert ist die Aufbereitung des kulturellen Erbes an der „Geschichte großer Männer“ orientiert, die der Frauen muss man bewusst suchen. So weiß man über Montesquieus Frau sehr wenig, da die Familie die Erinnerung an sie offenbar bewusst unterdrückt hat. Was man weiß, ist, dass sie die Ökonomin war und den nicht ganz kleinen Besitz erfolgreich verwaltete, sodass sich Montesquieu seinen Studien und Schriften widmen konnte. Sie muss viele Fähigkeiten besessen haben, sie war übrigens Protestantin. Das festungsähnliche Schloss wurde im 19. Jahrhundert im Innern nach damals modernen Gesichtspunkten des Wohnens umgebaut, dies aber in historistischer Manier. Montesquieus Arbeitszimmer wurde mit einigen Originalstücken belassen, an seine Frau erinnert hingegen nichts. Dafür an seine Tochter Denise, die neben insgesamt 25 Sekretären (im Lauf der vielen Jahre) ihrem Vater als Sekretärin beistand. Montesquieu litt schon früh an einer starken Sehschwäche, musste sich vorlesen lassen und diktierte seine Texte.
[8] Seine reichhaltige Bibliothek befindet sich nicht mehr im Schloss, der Bibliothekssaal ist weitgehend leer, allerdings wurden an den Wänden Fresken entdeckt, nachdem die Bücherschränke entfernt worden waren.
[9] Über Lafayettes Mutter weiß man mehr, sie war es, die die Grundherrschaft führte, sodass sich ihr Mann und ihr Sohn ihren – wie sich beim Sohn herausstellen sollte – gar historischen Aufgaben konzentriert widmen konnten. Das Schloss Chavaniac-Lafayette liegt versteckt und fast unauffällig bei einem Dorf. Im Innern gibt es kaum noch Originalausstattung, sondern eine Dauerausstellung zu Lafayettes Leben (1757-1834). Im ausgedehnten schönen Park stehen noch Bäume aus seiner Lebenszeit. Eine Sonderausstellung erzählt im August 2018 seine Ausschiffung nach Amerika (1777), wo er zum Helden des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und zum Symbol der amerikanisch-französischen Freundschaft wurde.
[10] Lafayette, ein Freimaurer, beteiligte sich in der Französischen Revolution an der Ausarbeitung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, er bekämpfte die Sklaverei. Er blieb sein ganzes Leben eine wichtige liberale politische Figur in Frankreich. In den Revolutionskriegen war er zeitweise ein Gefangener Österreichs und wurde in Olmütz (Olomuc, Mähren) inhaftiert.
[11] Auch andere Orte führen auf französisch-österreichische historische Verbindungen: In Le Puy stößt man überraschenderweise in dem kleinen Museum bei der Kathedrale auf ein Bild, das den polnischen König Jan III. Sobieski als Sieger der Schlacht am Kahlenberg von 1683 zwischen Papst Innozenz XII. und dem Bischof von Le Puy aus der Familie der Béthune zeigt. Warum das, fragt man sich, was hat das anonyme und undatierte Bild, das aber in etwa zeitgenössisch sein dürfte, an diesem Ort zu suchen? Die Antwort lautet: Die polnische Königin und Ehefrau Jans III. Sobieski, Maria Kazimiera Sobieska, war geboren als Marie Casimir Louise de la Grange d’Arquien und aufgrund der Ehe ihrer Schwester mit dem Zwillingsbruder des Bischofs Schwägerin des Bischofs.
[12] Ein andermal stößt man, in Lectoure (Gascogne), im Stadtmuseum, das von der Urgeschichte bis ins 19. Jahrhundert reicht, auf Marschall Jean Lannes, der am 22. Mai 1809 in der Schlacht von Esslingen bei Wien tödlich verwundet wurde. In einer Vitrine wird ein Teller mit der Erde, auf der er starb, ausgestellt. Lannes stammte aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen, er war das fünfte von acht Kindern der Familie. Unter Napoleon zeichnete er sich als hochbegabter Soldat und Offizier aus, der ihn schließlich zum Herzog von Montebello erhob (Lannes hatte am 9. Juni 1800 die Stadt Montebello im Rahmen von Napoleons Italienfeldzug erobert). Stolz berichtet das Stadtmuseum, dass Lannes der einzige Marschall gewesen sei, der sich mit Napoleon dutzen durfte…
[13] Viel wichtiger sind allerdings andere Schätze des kleinen Museums, das im ehemaligen bischöflichen Palais von Lectoure zusammen mit der Mairie untergebracht ist – die große Sammlung an Altären des Mithraskultes, die in Lectoure und Umgebung gefunden wurden.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Frankreich, eine europäische Heimat, Teil I. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/frankreich-2018-1, Eintrag 02.09.2018 [Absatz Nr.].