Teil II
[1] Bis heute spürt man, dass und warum sich Frankreich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als „älteste Tochter der Kirche“ (fille aînée de l’Église) bezeichnete. Ähnlich wie in Burgund gibt es kaum eine Ortschaft, die nicht eine Kirche romanischen Ursprungs besitzt. Natürlich half der Umstand, dass zwei Strecken des Jakobswegs von Nordsüdost nach Südsüdwest führten und zahlreiche Pilgerkirchen errichtet wurden, die ausstrahlten.
[2] Auch heute trifft man auf Pilger*innen, die allerdings an den Ballungspunkten zwischen den Touristen verschwinden.
[3] Trotz Entchristianisierung, Französischer Revolution und einer laizistischen Republik Frankreich wurde schon in der Restauration ab 1814/15 und während des gesamten 19. Jahrhunderts mit der Pflege des kirchlich-kulturellen Erbes begonnen. Wie in Deutschland wurden viele Hauptkirchen zu Ende gebaut und dabei symmetrisiert oder im Innern historisierend wie im Falle der romanischen Kirche von Issoire neu gedacht. Seitenkapellen wurden neu ausgestattet, keine Scheu vor Bigotterie.
[4] Manchmal gelang bzw. gelingt dies aber auch recht einfühlsam bis in die Gegenwart, vorwiegend im Feld der Schöpfung neuer Kirchenfenster, sei es abstrakt, sei es gegenständlich. Ein Sonderfall ist die Kirche Notre-Dame in Bordeaux, die in einem Stil zwischen 1686 und 1707 gebaut und ausgestattet wurde. Ein Teil der Seitenkapellen ist Heiligen wie Katharina von Siena oder Sainte-Thérèse de l’Enfant-Jesus (= Thérèse Martin, 1873-1897, mit 15 trat sie in den Karmelitinnenorden ein) gewidmet. Das Bild dieser Theresa wurde 1927/28 vom Maler Roganeau aus dem Bordelais gemalt. Das weitere Dekor der Kapelle nimmt auf Santa Rosa von Lima (Peru) Bezug, der die Kapelle früher geweiht gewesen war. Eine weitere überseeische Verbindung wird durch die Kapelle Notre-Dame de Guadeloupe hergestellt, deren Bild vom Maler Martineau stammt. Er starb 1868 in Bordeaux, das Bild wird etwas pauschal auf „Second Empire“ datiert.
[5] Man muss diese Beispiele von Kirchenkunst des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts im Licht der Interpretation der Kultur Europa als im Wesen christlich-abendländisch sehen. Denn diese Interpretation entsteht erst seit dem späten 18. Jahrhundert und erlebt ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Beliebtheit des byzantinisierenden Stils, der auch in Wien mehrfach besichtigt werden kann, gehört in diesen Zusammenhang. So wurden für die farbliche Neuinterpretation der romanischen Kirche von Issoire durch den Maler Anatole Dauvergne 1859 solche byzantinischen Elemente eingebaut; und für Notre-Dame de Fourvière (1872-1896, heute UNESCO-Weltkulturerbe) in Lyon wurde diesbezüglich ungehemmt in die Vollen gegriffen. Ob man das schön findet oder nicht, ist eine andere Frage. Während Sacré-Cœur auf Montmartre in Paris, die zeitgleich und ebenfalls im Zusammenhang des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 konzipieret, aber etwas später vollendet wurde, im Innern geradezu spirituell gestaltet wurde, ist Fourvière barock-knallig ohne Barock zu sein. Nun, jedenfalls ging es um die Visualisierung eines christlich-abendländischen Europas, über historische Kirchenspaltungen hinweg.
[6] Im Vergleich dazu ist ein anderes Kleinod der Kirchenbaukunst extrem schlicht und doch, je nach Geschmack, viel eindrucksvoller: die Ursprungskirche des Dominikanerordens in Toulouse, wo die Gebeine des Thomas von Aquin aufbewahrt werden.
[7] Bald nach dem Besuch von Toulouse ging es nach Bordeaux, das ich seit meinem Studiensemester 1979/80 nicht mehr gesehen hatte. Während damals in der historischen Altstadt noch viele Häuser sichtlich von Termiten befallen waren, ist heute das meiste geputzt und renoviert. Die Neugestaltung des Platzes an der Börse und des Uferbereichs zur Garonne ist seit Jahren Lieblingsthema von Kulturdokumentationen in den Fernsehkultursendern, zweifellos zurecht, weil das städtische Ensemble aus dem 18. Jahrhundert hervorragend zur Geltung gebracht wird. Im Café auf dem Platz wird übrigens Meinl-Kaffee ausgeschenkt in Original-Meinl-Expresso-Tässchen.
[8] In Bordeaux befand sich einer der obersten Gerichtshöfe, die in Frankreich „Parlements“ genannt wurden. Die historische juristische Bibliothek des Parlement wurde nach dessen Auflösung in die Stadtbibliothek eingegliedert, wo ich 1979/80 viel Zeit mit dem Studium dieser Quellen für meine Staatsexamensarbeit verbrachte. Bordeaux führt mich an meine Anfänge in der historischen Forschung zurück – Prozesse zwischen Bauern und Grundherren in der Frühen Neuzeit. Und so die gesamte Großregion zwischen Bordeaux und Lyon.
[9] Im Quercy zum Beispiel gab es Bauernaufstände – und die französische Forschung zu bäuerlichem Widerstand war damals in den 1970er- und 1980er-Jahren modellbildend. Meine eigenen Forschungen konzentrierten sich auf die eher gewaltfern vor Gerichten ausgetragenen Konflikte. Westlich von Lyon liegt die Region des Forez, die in meiner Dissertation ein regionales Vertiefungsbeispiel darstellte; für die Recherchen im Départementarchiv erklomm ich täglich die Stufen, die von der Altstadt hinauf auf die Anhöhe des antiken Lyon führen, wo sich auch Notre-Dame de Fourvière in direkter Nachbarschaft der beiden römischen (gallo-römischen) Theater befindet.
[10] Die Gerichtsprozesse trieben die Rechtsprechung an, in deren Zuge das Feudalrecht schon lange vor der Revolution wichtigen Einschränkungen unterworfen wurde. Zugleich waren Gerichte und die Rechtsprechungsentwicklung wichtige Felder der beginnenden Rechtsstaatlichkeit.
[11] Diese Geschichte wird kaum dargestellt, obwohl es genug historische Gerichtsgebäude gibt, die als Ort geeignet sein könnten. Wenn, erfährt man, wo in der Revolution die Guillotine aufgestellt wurde oder welches skandalöse Fehlurteil gesprochen worden war.
[12] Eine schöne Reise, bei der auch Essen und Wein nicht zu kurz kamen, zu beenden, fällt immer schwer. Ein letzter Kaffee nach dem Abstieg von Notre-Dame de Fourvière in Lyon am Platz der Kathedrale, wo gerade eine Totenfeier stattfand und die Totenglocke läutete. Nein, kein Omen, der Rückflug verlief glatt und ruhig.
Dank: Für gesellige Reisebegleitung danke ich Katrin, Barbara, Marga und Christoph!
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Frankreich, eine europäische Heimat, Teil II. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/frankreich-2018-2, Eintrag 02.09.2018 [Absatz Nr.].